24 Wolfgang Holler Woldemar von Seidlitz - Wissenschaftler, Staatsbeamter, Sammler und Förderer der Kunst Man stelle sich folgendes fiktive Szenario vor: Wir leben vor neunzig Jahren und gehören zum engeren Freundeskreis des Herrn Woldemar von Seidlitz. Hin und wieder sind wir in seine schöne Blasewitzer Villa in der Residenzstraße 31 (heute Loschwitzer Straße) eingeladen, denn Geheim rat von Seidlitz führt ein gastliches Haus. Auf diese Abende darf man sich freuen, denn sie bie ten Gelegenheit, herausragende Köpfe des Kunstlebens kennenzulernen. Auf einer dieser Gesell schaften treffen wir z. B. mit Max Klinger zusammen, mit Oskar Zwintscher und Emil Orlik; an einem anderen Abend mit Arthur Kampf, dem Historienmaler, mit Sascha Schneider, dem Illu strator vieler Karl-May-Bände, und mit dem Bildhauer Robert Diez, der unter anderem die bei den monumentalen Brunnen »Stürmische Wogen« und »Stilles Wasser« am Dresdner Albertplatz (1884 -1894) gestaltet hat. Es kann durchaus Vorkommen, daß die Maler Ferdinand Hodler aus der Schweiz, Otto Gußmann aus Schwaben, der Karlsruher Akademieprofessor Wilhelm Trüb- ner und der in Dresden tätige Robert Sterl gemeinsam eingeladen sind. Vielleicht stehen die Her ren während einer solchen Abendveranstaltung im Hause Seidlitz diskutierend vor einem klei nen Ölgemälde, das der Hausherr in Paris erworben hat: Degas’ »Dame mit Fernglas« aus dem Jahre 1877. Unser Besuch im Hause Seidlitz muß ein Spiel der Phantasie bleiben, der kleinformatige Degas dagegen existiert tatsächlich. Er gelangte 1922 aus dem Nachlaß von Seidlitz’ in die Gemäldegalerie Neue Meister und zählt heute zu den Kostbarkeiten der französischen Abteilung. Und auch die Künstlerbegegnungen in der Villa Seidlitz haben stattgefunden. Davon zeugt das Gästebuch Woldemar von Seidlitz’ aus den Jahren 1899 bis 1921. 11 Wenn wir in diesem wichti gen Dokument blättern, erhalten wir über die familiären Kontakte hinaus einen aufschlußrei chen Einblick in Seidlitz’ gesellschaftlichen Umgang und sein Kunstverständnis. So läßt sich ver muten, daß Seidlitz nicht nur die Persönlichkeit der eingeladenen Künstler, sondern in den meisten Fällen wohl auch deren künstlerisches Schaffen akzeptierte und schätzte. Wollte man von daher auf den künstlerischen Geschmack Woldemar von Seidlitz’ schließen, ließe sich kon statieren, daß er sich vor allem impressionistischen und naturalistischen Strömungen, aber auch denjenigen der Stilkunst um 1900 nahe fühlte. So finden sich neben den bereits zitierten Namenszügen auch diejenigen Max Liebermanns und Fritz von Uhdes. Auffallend ist, daß viele der Künstler anerkannte Akademielehrer waren; andere, wie Liebermann, gehörten zu den berühmtesten Malern ihrer Zeit. Auffällig ist aber auch, daß sich kein wirklich »avantgardisti-