93 WOJCIECH Pl^CIAK Nahe und fremd - Erinnerungen an die DDR Es war ein trüber Novembertag, und auf dem Dresdner Altmarkt wehte, wie fast immer hier im Herbst und Winter, ein scharfer und kalter Wind. Eine kleine Menschengruppe — hundert, viel leicht hundertfünfzig Personen die sich am Eingang zur Kreuzkirche versammelte, bestand vorwiegend aus sehr jungen und sehr alten Leuten. Die Zeremonie, zu der sie gekommen waren, dauerte nicht lange. Der Regen, nach dem es die ganze Zeit ausgesehen hatte, begann tatsäch lich als der letzte Redner endete. Und bevor der riesige Altmarkt wieder menschenleer wurde - ich hatte den Eindruck, daß der Altmarkt immer sehr leer war - ist noch eine Tafel eingeweiht worden, gewidmet »den jüdischen Bürgern« der Stadt, deren es bis 1933 fast 5000 gab und von denen 1945 lediglich 70 übriggeblieben sind. Wie den Versammelten mitgeteilt wurde, wurde diese Tafel ausschließlich aus Privatspenden errichtet, als ein Unternehmen »von unten«, ohne staatliche Hilfe. Man konnte sich des Eindrucks schwer erwehren, bei dieser Veranstaltung auf dem kalten Altmarkt handelt es sich um eine konspirative Versammlung. Es war der 9. November 1988 - der 50. Jahrestag der »Reichskristallnacht«. Später erfuhr ich, daß es das erste Mal in der DDR-Geschichte sei, daß dieser Jahrestag offiziell begangen wurde, wenn auch nur halbherzig und wohl vor allem in Sachsens Hauptstadt. Hier, in Dresden, wäre das eine unabhängige Initiative gewesen, und das sei, sagte mir ein Bekannter mit einem gewis sen Stolz, eine Errungenschaft. Die Nachricht hat mich verwundert. Wieso ist das eine Errungenschaft, dachte ich? Die DDR ist doch ein deutscher Staat - oder nicht? Und was ist Ungewöhnliches daran, daß die Deutschen und ein deutscher Staat der ermordeten Juden gedenken? Das ambivalente Verhält nis der DDR zu der eigenen (weil deutschen) Geschichte, zur Vergangenheitsbewältigung, zu Israel und zu den Juden - das alles waren noch keine Begriffe für mich. Am Abend desselben 9. Novembers ging ich noch zu der katholischen Kathedrale am Elbufer. Angesagt war ein ökumenischer Gottesdienst mit Teilnahme von drei Geistlichen: einem jüdi schen, einem evangelischen und einem katholischen. Meine Bekannten versicherten mir wieder, dieser Gottesdienst sei sehr wichtig, nicht nur im Sinne des innerreligiösen Dialogs. Und wie der ist mir aufgefallen, daß unter ein paar hundert Menschen, die im Dom zusammen beteten, die ganz jungen und die ganz alten dominierten. Ich sah mich nach Gesichtern von Studenten um, die ich inzwischen an der Pädagogischen Hochschule (PH) kennengelernt hatte. Aber niemand war zu sehen. Später sagte mir eine deutsche Studentin, daß sie gerne zu diesem Gottesdienst gegangen wäre, auch weil sie ohnehin evangelisch sei. Nur, sie wage es nicht, hier in die Kirche zu gehen, denn es passiert manchmal, daß die Kirche beobachtet wird. Und