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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.08.1888
- Erscheinungsdatum
- 1888-08-10
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-188808104
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18880810
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18880810
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1888
- Monat1888-08
- Tag1888-08-10
- Monat1888-08
- Jahr1888
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.08.1888
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Erste üeilage M Leipziger Tageblatt und Anzeiger. 223. Freitag den 10. August 1888. 82. Jahrgang. Veutsch-amrrikanische Lebenslaufe. Bon Max Lortziag. RaihdniS »ersoieu. In der neueren Geschichte der Vereinigten Staaten ist ruropamllden Deutschen zweimal Gelegenheit geboten gewesen, sowohl durch ihre Zahl, al- durch ihre Kraft sich wirksam und hervoragend an der Entwickelung der ienseit» deS Atlantischen OceanS zu betheiligen Mal durch friedliche Bethätigung seiten« der vielen politi scheu Flüchtlinge nach den Ausständen deS JahreS l844, daS rweit« Mal, als sie bei Ausbruch des Bürgerkrieges zwischen Nord und Süd die alte W-!t verließen, ihren Degen der Union zu weihen. Zu Denen, die beide Arten deS Eintreten» und Schassen» sür ihr neues Vaterland vereinigten, gehört der jetzt unter uns weilende Befreier Kinkel'-, Karl Schurz, der erste aller Deutsch-Amerikaner, der lebenden wie der lodten. Meine flüchtige Skizze gilt indessen nicht denjenigen unserer Landsleute, welche sich „drüben" einen Namen erworben haben. Sie soll die meist seltsamen Schicksale Solcher schildern, die, aus ihren eigentlichen Bahnen sei eS durch ihre Schuld, sei es durch die Macht unabwendbarer Ereig nisse, hinauSgeschleudert, auf fremdem Boden, unter fremden Menschen und mit fremden Gewalten den schweren Kampf umS Dasein aufnchmcn mußten. Der auSgewanderte Handwerker, Bauer, »kleine Mann erlebt auch in Amerika nichts Besonderes; ist er betriebsam und fleißig, so gründet er sich bald ein behagliche» Heim und hat erreicht, waS ihm die alte Hcimatb verweigerte. Aber wer in dieser eine Stellung in der Gesellschaft einnahm, in bürgerlichen oder in militairischen Kreisen, und dann ge zwungen war, wohl aus Nimmerwicderkehr den Occandainpser zu besteigen, der gelangt meist in Verhältnisse, die er sich vor her nicht hätte träumen lasten. Der Zufall hat mich während meines langjährigen Auf enthaltes in der neuen Welt mit vielen Edelleuten zusammen- gesührt, die zu der stattlichen Schaar der „Entgleisten" zählten, bin ich selbst doch auch der letzteren einer. In ihrer Mitte habe ich die angenehmsten Stunden verbracht, und ach Wie gern erinnere ich mich ihrer noch heute! Ich war ein fröhlicher, lebenslustiger, verträglicher Gesell, der sich mit Leichtigkeit auch in den absonderlichsten Lagen zurecht fand, und darum beim transatlantischen deutschen Äeel willkommen, Wenn auch in meinen Adern kein blaueS Blut fließt. Meine aristokratischen Freunde in Amerika verkehrten nicht in der Creme der Gesellschaft, sie waren zum größten Theil ehrenwerthe brave Männer, die sich und ihre Familie von harter, schwieliger Arbeit nährten, im grellsten Gegensatz zu ihren einstigen Stellungen. Wer diese Zeilen liest, den bitte ich. die Gestalten, welche ich ihm vorsnhre, von dem bohcn Standpunkte der mächtigen Republik aus zu bcurthcile», daß jede redliche Arbeit den Mann ehrt, da- Wort den Redner, die Feder den Schriftsteller, der Besen den Straßenkehrer. Nennen werde ich meine Helden nicht, denn cS konnte sich oster» ereignen, daß sie. wenn auch in anderem Sinne, als der Dichter cS meint, von sich sagen dürsen: „Und nennt man die beste» Namen, wird auch der meine genannt. Ein launenhaftes Geschick verschlug mich ans einige Zeit nach College Point, einem hübsche» Torf ans Long Island. Man konnte eS fast eine deutsche Ansiedlung heißen, so viele Landsleute athmctcn dort den salzigen Odem de» breiten SundcS oder den atlantischen Hauch der sanslwclligen Flnshing Bay. Hier hatte sich eine AdelS-Cvlonie gebildet, die für und unter sich lebte, die Ausschließlichkeit der überseeischen Heimath auch in der Ferne bewahrend und bürgerlichen Ele menten nur ausnahmsweise die Pforten öffnend. Senior der selben war Herr v. A. (ich fange mit den Buchstaben de» Alphabetes an), weiland Flngeladjutant eines mitteldeutschen Fürsten, ein liebenswürdiger alter Herr und zugleich eine Art Banquicr der Cvlvnie, denn er halte immer Geld, da er außer seinem Arbeitslohn als Vormann in der dortigen Fabrik von Gutlapercha-Waaren noch einen regelmäßigen Zuschuß von Hanse bezog. Früher lebte er in New>))ork in guten Verhältnissen; er hatte ein einträgliches Geschäft in importirten Filzartikeln und ging einmal nach Deutschland, um Einkäufe zu machen; unglücklicher Weise aber wurde während seiner Abwesenheit der Zoll aus Filz erhöht, waS seine Berechnungen über den Hansen warf und seinen ganzen Handel vernichtete. Nach seiner Rückkehr war er so arm wie je zuvor und noch ärmer: seine Gattin, eine Russin, war mit seinem Buchhalter und dem noch vorhandenen Baar- Vermögen mittlerweile durchgegangcn. Rasch entschlossen trat v. A. zunächst als Nachtwächter in jene Fabrik ein und brachte eS dann bis zum Vormann. In derselben ai beiteten auch viele andere Mitglieder der Colonie, so die beiden Brüder v. B., ci-äovant schneidige Lieutenants bei den n-ten Husaren und x-ten Ulanen, Freiherr v. C-, dessen Frau einen kleinen Kramladen hielt, Baron D., ein stark blasirtcr Aristokrat vom reinsten Master. Anderen Erwerbszweigeu hatten sich zugewandt v. E., ehemaliger Rittergutsbesitzer, ein Mann von mächtiger Gestalt; er be sorgte die Fahrpost aus einer Bahnstrecke der Insel; v. F., der Sohn eine» früheren Ministers, verkaufte und vcrmielhcte alte PianoS. Graf G-, ein verunglückter Secondlicuteuant, unterrichtete in dem Knabeupensionat de- Herrn v. H., gab die Stelle aber später auf, um sich dem Handel mit Toiletten seifen und ParsümS zuzuwenden. Freiherr v. I, Sergeant in der Ver.-Staaten-Armee, stand in dem einige Meilen weit entfernten Fort Willet'S Point, wo er die photographische Abthcilung der dortigen Genie-Garnison leitete. Baron K. einem alten schlesischen Adelsgcschlcchl angebörcnd, betrieb das edle WaidmannSwerk und brachte selbst seine Jagdbeute in New-Hork auf den Markt, im Sommer hielt er einen Schießstand in einem VergnügungSlocal von College Point. Aber er war an dem kleinen Hose nicht coursähig, da er eine Mesalliance mit einer irischen Köchin geschlossen batte. So ungefähr setzte sich die seltsame Colonie zusammen. Die Männer gingen als Gentlemen gekleidet an die Arbeit, erst dort legten sic die Werkeltracht an, in der ich niemals einen von ihnen erblickt habe. Mit dem Feierabend begann auch daS Leben in den alten Formen der höheren Gesellschaft und daS »gnä — Frau" wurde so correct geschnurrt, die Ver beugung so vorschriftsmäßig gemacht, al» stäke Herr von So «nd So »och in der schmucken Husarenuniform. Einmal in der Woche war Scatabend, und bei besonders feierlichen Ge legenheiten wurde ei» für die Verhältnisse superbe» Souper n»t Bowle veranstaltet. Die Junggesellen betheiligten sich dann wohl mit einer fetten Gans — auch die Gänseleber >astete fehlte nicht —, der dicke Fahrpostmeister brachte von einer Tour die köstlichsten Austern, einen ganzen Kübel voll, orgsältig in Eis verpackt, frisch aus der Saluluth von Blue "oint mit, und die gnädige Frau Wirthin, Meisterin in der ochkunst, wußte Alles so zuzubcreiten und zu arrangiren, daß infolge de- DusteS und deö Anblickes den Gästen da? Wasser im Munde zusammenlief. Und der Appetit! DaS blaue Wunder konnte man schauen. E» war ein harmlose», sideleS, leichtlebige» Völkchen, so echt kameradschaftlich, und hatte Einer Geld, so hatten cS Alle. Ich entsinne mich noch de- AbschicdSdiner», welche- ich bei «einem Weggänge von der Insel gab. Der ganze hohe Adel don College Point erwie» mir die Ehre, und nachdem die kasel abgeräumt war, ging e< an da» Ergötzen. ÜLockium iuapit üäelitLS. Der alte Herr von U., der einstige «lügeladjutant. stellte die Wolssschlucht dar, indem er die verschiedenartigen Laute und Geräusche der Scene durch Pseisen, Brumme», Pusten. Klappern nachahmte — eS war sein Virtuosenstückchen. vr. L-, ein spanischer Crcole, Sohn eines vertriebenen Präsidenten von irgend einer der mittel- amerikanischen Republiken. der sich hier al» Arzt niedergelassen halte und, obwohl er Bürgerlicher war, gleich mir, Zutritt a;r »cy wirriam , ^ Adclscolonie erhalten hatte, carikirte, in ein weißes Lake» groge» Republik . gxhMs, de» Hamlet in seinem »Sein oder Nichtsein, das ist 1 hier die Frage"; Herr v. B. declamirte mit Feuer und Aus druck die Bürgschaft und tanzte daraus mit meiner Frau einen feurigen Csardas, und seine Gemahlin, eine niedliche Brünette, sang mit sehr wohlklingender Stimme ein Schuberl'sches Lied oder trug einige Couplets vor. und die lustige Gesellschaft sang Refrain. Mit dem unvermeidlichen »Ich weiß nicht, waS soll es bedeuten- — es sollte unsere Stimmung kennzeichnen — schiede» wir von einander. Ich bitte jetzt den geneigten L-ser. mich in ein seines New- Borker Spieletablissement zu begleiten. DaS Ziel unsres Wege- ist ei» VraunsteinhauS mit geschmackvoller Ornamentik, anscheinend das Heim eines wohlhabende» Privatiers. Die äußere Thür steht offen, wir ziehen an der Schelle, in der inncrn Thür wird die Klappe von einem Schiebfensterchcn weggcschoben, und in der Oeffnnng erscheint ein krausköpfige», dicklippiges Negergesicht. Sobald der Schwarze unS erkennt, läßt er u»S mit einer tiefen Verbeugung ei». Wir schreiten durch die Vorhalle, legen Ueberzieher und Hut ab, die der Neger dienstsertig in Empfang nimmt, und treten in daS erste Appartement, den reich, aber mit einfacher Eleganz ausgestattcte» Spciscsaal. Die Mitte desselben nimmt eine lange, mit Porzellan- und Cilbergerälh gedeckte Tafel ein, und an de» Wänden hängen die Bilder von englischen und amerikanischen Wettrennen, von berühmten Zucht-, Race- und Sportpferdcn. PortrailS von bekannten PreiSboxern, von Damen vom Ballet, vom Theater und von der Oper. Der kuppelartige Anbau enthält Spieltische und Apparate sür Roulette, Pharao und Baccarat. Der Besitzer des Hauses und Hanptthcilhaber des Geschäfts ist stets in schwarzer Gesellschajtstoilctte und sieht a»S wie der typische französische General im Civil. Ec hat knrz- geschoreneS schncewelseS Haar, frische Gesichtsfarbe und eine» martialischen schwarzen Schnurrbart. Er ist die personi- ficirte Schweigsamkeit, spricht niemals, außer wenn er darum gefragt wird, und überall hat er seine dunklen Auge», die scharf darüber wache», daß nichts Ungehöriges oder An stößiges vorsällt, wa» sein Etablissement in Mißcredit bringen könnte. Bei unser,» Eintritt in den Spiclsalon sind bereit» einige Gäste anwesend, und cs wird flott poinlirt. Nach und nach füllt sich daS Local mehr und mehr mit seine» Stammgästen an: Börsenmaklern, welche ibre Spekulationen hierain grünen Tisch sortsetzen, Kauslcuten, Politiker», SportSmen und einigen Herren auS dem Westen, die von ihre» Freunde» eingesührt worden sind Eine Gruppe sür sich bilden mehrere europäische Adelige, fast sämmllich frühere Ossiciere, die ans irgend welchem Grunde ihre» Dienst im allen Vaterland- quiltirt und bei AuSbruch des Sccessionskriegcs oder wäbrcnv desselben ihren Degen der Republik angebotcn haben. Nach Niederwerfung der Rebellen war es auch mit ihrer Militair-Carriöre zu Ende, und da sic mit den oft nickt unbeträchtliche» Summen, welche sie auS dem Feldzuge nach Ncw-Aork zurückbrackten nichts Besseres anznsangen wußten, so versuchte» sie ihr Glück mit der allen LicblingSpassion, dem Spiel, daS den meisten von ihnen schon einmal, und zwar jenseits deS Occans, den HalS gebrochen halte. Aber eS erging ihnen in der neuen Welt nicht besser, viel mehr schien es. als wolle die wetterwendische Göttin ihnen nimmer wieder lächeln. Mitunter gewannen sie wohl und schöpften dann sriscb Hoffnung; koch nach mehrsachem Auf und Nicdersteigen ans Fortuna» Leiter ging cs unaushaltsam abwärts, bis sic auch von der unterste» Sprosse verdrängt und so arm waren wie eine Kirchenmaus. Der Zuscill hatte sie hier zusammengesührt, und sie blieben dem Hause treue Kunden, auch längst nachdem sie den letzten Dollar geopfert. Eine so rübmenswcrthe Anhänglichkeit hatte ihren guten Grund. Der Besitzer des Etablissements führt nämlich eine» ausgezeichneten Tisch, der Alles bietet, was die Saison an Delikatessen auswcist. Sein Weinkeller ist ebenso reich assorlirt wie vorzüglich in der Oualität, und dasselbe gilt von seinem Whisky, seinem Cognac und seinen Cigarre» Dabei hat Niemand einen Cent dafür zu entrichten, Derjenige nicht, der daS Local zum erste» Mal betritt; Jever darf zulangen, so oft und wann er will. Jene „ckoack bests", wie i» Amerika die socialen Banke rotteure heißen, sind hier stets willkommen, obwohl sie nichts mehr zu verlieren haben, hat doch der unersättliche Schlund dieses Spiclhause» fast ihr ganzes Vermöge» verschlungen. Nur müssen sic darauf sehen, daß ihre Toilette eine an ständige, präsentable bleibt, und daher ist ihr ganzes Studium, ihr an derartigen Erfindungen und Knifft» überaus reiches Genie darauf gerichtet, ihren Anzug dein langsam, aber sicher vordringenden Verderben Schritt um Schritt, Zoll um Zoll streitig zu machen. Sie gehen mit ihrem einzigen, mehr oder weniger vom Zahn der Zeit mitgenommenen Habit so behut sam um wie die Balldame mit ihrer kostbarsten, dusligsten Robe. Die Kleiderbürste gebrauchen sie nur mit größter Vorsicht, um die Wolle nicht allzu schnell abzurcibcn und de» fatalen Glanz so lange wie möglich zu bannen; sie färben die verrälherischen Nähte mit Tusche, hängen an die Beinkleider, nachdem sie sich derselben mit großer Sorgsam keit entledigt, schwere Steine, damit die Knie nicht so bald hervortreten. Kurzum, sie wenden alle jene VerschönerungS und ConservirungSmittel an, welche der eiserne Zwang eines langen Krieges sie gelehrt hat und deren stete Vcrvollkomm nung eine hartes Schicksal von ihnen verlangt, wenn sie nicht einer noblen Verpflegung und einer ihnen sympathischen Ge sellschast verlustig gehen wollen. In diesem internationalen AdelScasino finden wir auch einige Deutsche. Zunächst ist der Croupier, der feine» schwierigen Amtes mit Ehrlichkeit, Umsicht und Geschicklichkeit waltet, ein ehemaliger österreichischer Cavallerieosficier. Während des SecessionSkriegc» hatte er ein unionistischeS Regiment ccmmandirt und, nachdem er da- Schwert in die Scheibe gestoßen, sein Geld in den New-Norker Spielhäusern verloren. Dort war es. wo der Besitzer deS Etablissement» ihn kennen lernte und ihn in der Folge an das seinige sür ' " "" ' " ' ' deS Geschäfte» von echt aristo nachher Oberst im Stabe eine» der berühmtesten amerikanischen UnionS- rnerale. Man erzählte sich von ihm, bei seiner Abreise nach mcrika habe er m Berlin al» einzige» Vermögen hundert Paar alte Lackstiesel und zweihundert leere Pömadentvpfe zurückgelassen. Ein Dritter ist Freiherr von M„ ebenfalls ehemaliger preußischer Cavallerieosficier und Veteran der llnion-ärmec, der in New-Aork ab und zu al- Roßarzt und Pferdehändler thätig ist. Wie ander» sieht c» in einer Herberge aus der entgegen, gesetzten Seite der Stadt au», einem ärmlichen, aber reinlichen Wirthrhau», dem Absteigequartier einer anderen Elasse von „ckorui best«", in der auch da» bürgerliche, namentlich da» juristische Element stark vertreten ist; denn gerade der Gebildete erleidet am ehesten Schiffbruch und ist nachher nicht im Stande, wieder emporzukommen. Ein alter Studienfreund batte mich dorthin geführt, ein ehemaliger Referendar, seiner Zeit ein flotter Corpsstubent, ein echter Epikuräcr und, Wa rna» einen „Patenten Kerl" nennt. Und jetzt — Die freundliche Wirlhin, eine wohlbehäbige. auS den besseren Stände» einer deutschen Universitätsstadt stammende Frau, erzählte unter Anderem, daß sie neulich die Ehre gehabt hätte, erneu Nesse» des Exminister» N. unter ihrem be scheidenen Dache zu beherbergen. Ter ante Onkel hatte seine», amerikanischen Anverwandten aus dessen Bittbrief merkwürdiger Weise nur einen seinen Anzug geschickt, den er selbst erst wenig getragen und de» der so Beglückte natürlich schleunigst versilberte. Jetzt schmückt — o Ironie deS Schicksals! — da- Gewand, in welchem der berühmte Staatsmann einst seine brillanten Reden »» preußischen Land- und im deutschen Reichstage hielt, an Sonn- und Festtagen einen Schuster deS germanischen OuartierS der Weltstadt zwischen Hudson und Least River! Ter große Cäsar, Staub und Lehm geworden, Verstopft ein Loch wobl vor dem rauhen Norden. O, daß die Erde, der die Wett gebebt, Vor Wind und Wetter eine Wand verklebt! Die hier verkehrenden Leutchen, alles Entgleiste, sind nur Wintcrgäste. Während der Sommer- und Herbstmouate arbeiten sie an Eisenbahnen und Fischereien, graben und pflügen, helfen aus Erdbcer- und Brombcersarmen beim Ein sammeln, beim Pfirsich- und Aepselpflücken, heimsen die Ernte ein und ziehen dann nach der Stadt, um dort die sauer ver dienten Dollars in den lange und schmerzlich entbehrten Ge nüssen anzulegen. Gar Mancher führt die Heugabel. der früher selbstherrlich über eine ganze Schaar von Arbeitern gebot; gar Mancher schöpft der Magd Wasser auS der Cisterne, der vor nicht allzulanger Zeit grüßend den Degen senkte, wenn ihm beim Heimmarsche seines Regiments die Dame seines Herzen» begegnete. Tempi pa8sati! Einer meiner besten Freunde war Freiherr von P. Als Regierungsreserendar nach New-Nork verschlage» und nach kurzer Zeit ans seiner Hände Aibeit angewiesen, erwarb er sich zunächst seinen Lebensunterhalt daviirch, daß er Bilder hogcn auStuschle. Als er in der Zeitung laS, daß man aus dem deutschen Generalconsulai einen Schreiber suche, meldete er sich zur Stelle. Von seinen Kostbarkeiten war ihm nur noch eine Busennadel übrig geblieben in Form eines Korb- schlägerö und mit den Farbe» geziert, die er einst als Student getragen. Nun hatte zufälliger Weise der Herr, welcher über die Vakanz verfügte, demselbc» CorpS angehört und fragte den Bewerber, wie er zu der Nadel käme. Dieser erzählte cS ihm, legte eine Probe seiner Handschrift ab und wurde sofort angcnoniinen. Nach einiger Zeit ward er zum letzten, nach inehrcren Jahren zum ersten Secretair befördert, kam alödann als Kanzler an das deutsche Generalconsnlat in London und ward schließlich selbstständiger Consul im scrncn Orient. Ein an Jahren bedeutend älterer Freund von mir. Baron Q.. war, als die Herrlichkeit Napoleon'- in ihrem ersten Glanz leuchtete und dieser sich kur; vorher mit Eugenie ver mählt batte, Gesanblschastsattackv in Paris gewesen. Mit einer bereits ältlichen Marquise verlobt, deren Geld ihn ans seinen Schulden herausreißei, sollte, hatte der Baron, ein Majoratsherr, dessen Name im Gothaer Almanack prangte, da» Pech, von seiner Braut beim Charmircn mit deren hübschem Kammerkätzchen ertappt z» werden, wobei die Lauscherin zu ihrem Entsetzen aus dem Munde des Geliebten einige Worte vernahm, die, obwohl nicht sür sie bestimmt, ihrer Jugend und Schönheit gerade nicht das schmcichelhasteste Lob zollten. Der Unglückliche wurde sofort verabschiedet lind eS blieb iknn nichts Anderes übrig, al» nach Amerika zu gehen. In New-Uork erlheilte man ihm den Rath, Karten mit seinem vollen Namen und seinem Wappen drucken zu lassen und sich in den ersten Kreise» der Gesellschaft als Mustkiehrcr von altem Adel anzubieten, das würde ziehe». Und es zog. Aber er spielte auch wunderbar, nicht etwa wie ein hoch begabter Dilettant mit guter Schule, sondern wie ein gott begnadeter Meister des Pianos. Bald stand er auf gleicher Höhe mit den ersten Tonkünstlern des damaligen New-Vork, und sür seine» Unterricht erhielt er Honorare, die in Deutsch land als sabelhaste gelten würde». Hin und wieder ver anstaltete er Concerti den Reinertrag derselben widmete er wohlthätige» Zwecken. Seine überreichen Einnahmen ge statteten ihm ein behagliches Gcnnßlcben und eine jährliche Svmmersahrt nach Europa. Für das Alter sparte er nicht, einerseits war er dazu nicht beanlagt, andererseits hoffte er, sein Majorat würde sich bis dahin auS den Schulden heraus wirthschaste». Leider hatte da» Schicksal cs anders beschlossen. Es kam der Krach von 1873, selbst die reichsten Leute schränkte» sich ein. und die theuern Musikstunden wurden meist aufgegebe». Unser Baron hatte nun viel mehr freie Zeit, als ihm WünschenSmerth war, seine Einkünfte sanken erschreckend, und bald befand er sich gänzlich auf dem Trocknen. Die Unter stützungen seiner Freunde vermochten ihm auch nicht über die schlechte Zeit hinwegzuhelfc», und eines Tages verschwand er spurlos aus der Riesenstadt. Einige Jahre verstrichen, und man hörte nichts von ihm. Da durchlief eine seltsame Kunde die Zeitungen. In der Nähe von Bridgcport, im Staat Connecticut, hauste in ver fallener Hütte ein Einsiedler, dem Aussehen nach nahe den Sechzig. Mit sinkender zum Schutze deS Eigenthum» und Au ' ' ' daß die Kräfte der Polizei Leben» der Bürger, zur Ausrechterhaltung der staatlichen Ordnung nicht mehr auSreiche», daß wiederholt die Hilft de» Militair» in Anspruch genommen werden mußte. Und in Pari» wie in der Provinz ist eS ohne Blutvergießen nicht Mit sinkender Sonne pflegte er nach einem der dortigen Gasthöse zu gehen, machte sich nach Kräften nützlich I die vergeudete Zeit mag dabei hingenommc» , und empfing für seine Dienstleistungen, waS er für seinen mancher ähnlichen DiSeussion; aber cs erhebt sich Lebensunterhalt brauchte. Eines TageS durchwanderte er die Straßen und blieb vor einem große» Pianogeschäst stehen, durch Lessen Schaufenster ein schöner Flügel neuester Stcinway'scher Cvnstruclion sichthar war. Nach einigem Zögern trat er ein und bat um die Erlaubniß, einmal auf dem Instrument spielen zu dürft». Staunend musterte der Besitzer den Bittsteller, dessen AcußereS keinen Vertrauen erweckenden Eindruck hervorries. Aber neu gierig nickte er ihm seine Einwilligung zu. Der Baron setzte sich an de» Flügel. Aller Schmerz de» Vergangenen, alle Wonne de» lang entbehrten Genusses strömte auS den Tiefen seiner Seele ihm in die Finger, von den Fingern in die Tasten, von den Tasten in die Herzen der Menschen, die sich um ihn, die sich im Haufe, die sich draußen aus der Straße sammelten und wie angewurzelt lauschten Eine Thräne rann ihm über die verwitterten Wangen, als er endete. Erschüttert reichte ihm der Besitzer deS Ge schäftes die Hand und nahm ihn mit aus sein Zimmer. Er ließ sich die Geschichte de» Baron» erzählen. „Wollen Sie bei mir bleiben?" fragte er ihn. „Ich brauche einen Stim mer und Jemand, der meinen Kunden auf den Piano», die sie kaufen wollen, vorspielt. Auch Privatunterricht werde ich Ihnen genug verschaffen, zunächst aber lasten Sie mich für Ihre Toilette sorgen. Wollen Sie?" Baron O. lebte noch eine Reihe von Jahren in Bridge port. Er hatte vollauf zu thun «nd leitete auch als Eapell- meistcr da» städtische Orchester. Im Frühling 1884 ist er gestorben. Zur Lage. ** Berlin, 8. August. Aller Augen sind im Augenblick j nach Pari» gewendet, wo au» einer Arbeitseinstellung der Erdarbeiter «n wenigen Tagen eine revolutionaire Bewegung ch entwickelt hat. Und diese Bewegung hat auch bereit? die rovinz ergriffen, der Aufruhr ist bereit» derartig gewachsen, abgegange». Während beim ersten AuSbruch deS Streiks die Pariser lediglich die Besorgniß erfüllte, die rechtzeitige Fertigstellung der Vorbereitungen für die nächstjährige Ausstellung sei in Frage gestellt, wird jetzt von allen Ordnungsparteien erkannt, daß die Autorität des Staates, die öffentliche Ordnung über haupt in größter Gefahr ist. Und diese Erkenntniß haben nicht nur die Franzosen gewonnen, sondern in gleicher Weise ist man sich in allen europäischen Staaten klar über den Kern und die möglichen Folgen dieser Arbeitseinstellung und die fortschrittlichen Blätter in Berlin wie in Wien vermögen eS nicht zu leugne»: wenn die französische Regierung von vornherein mit der Entschlossenheit vorgegangen wäre, welche sie jetzt entwickeln zu wollen scheint, dann würde die „Be wegung" nicht die gefahrdrohende Entwickelung angenommen haben, welche jetzt beklagt wird. Gerade von unseren dcmo- kratisch-forlschrittliche» Blättern wird die Polizei wegen ihrer llnthätigkeit" beim AuSbruch des Streiks mit den heftigsten Vorwürfen bedacht. Gegenüber solchen Ausschreitungen, wie sie unS seit mehreren Tagen auS Frankreich gemeldet werden, drängt sich unwillkürlich ein Vergleich mit den deutschen Zuständen auf. WaS haben wir nicht Alles in den letzten zehn Jahren von „Arbeiterbewegungen" erlebt in Frankreich, in Belgien, in England und in Amerika, wie viel Capital und Menschenleben ist bei diesen Aufständen zu Grunde gegangen! In Deutsch land dagegen ist seit dem Octobcr 1878, seit dem Erlaß deS Socialistengesetzcs, von derartigen Ausschreitungen auch nicht eine Spur wahrgenoiiimcn worden. Wir haben in Deutschland völlige Freiheit für alle berechtigten Bewegungen, eS ist auch keinem Arbeiter verwehrt, die Arbeit einzustellen, es ist de» Arbeitern auch die „CoalitionSfreihcit" belassen. Gesetzlich verboten ist aber die Bedrohung und die Vergewaltigung, verhindert ist durch daS Socialistengesctz die Ausbildung, die förmliche Schulung der Revolutionaire, das Ausrcize» znm Clnsscnhaß, daS gewerbsmäßige Halten von Brandreden. Der ehrenwerthe Arbeiter, der aus dem Boden des Gesetzes stehende empfindet dankbar den Schutz, welchen ihm daS Svcialistengcsctz gewährt, ein Hindcrniß ist dieses Gesetz nur sür die professionSmäßigcn Aufwiegler, Volk-Verführer und VolkSvcrderber, welche im Trühen fischen wolle», welche auf Kosten deS Volkes durch eine verbrecherische „Bcredsamkeit" sich eine bequeme Stellung verschaffen wollen, ohne selbst zu arbeiten. ES ist schwer zu entscheiden, wie weit die Socialkemo- kratie geht ober gehen will und wo der Anarchismus beginnt, ob die eigentlichen Leiter der französischen „Bewegung" in diesem oder jenem Lager zu suchen sind. Den» die Grenze wischen Cocialdeniokrate» und Anarchisten ist längst so ver schwommen. daß sie von den Revolutionairen selbst nicht mehr gesunde» wird. Aber da» ist zweifellos, wenn wir unS nicht der kräftigen monarchischen Regierung erfreuten, welche zur reckten Zeit daS Socialistengesetz in Vorschlag brachte, dann hätten wir sicher schon ähnlich traurige Ersahrungen gemacht, wie die Franzosen. UnS ist Dank der weisen Vor sicht der Regierung und de» Reichstags bis jetzt jede- Blut vergießen und jede Schädigung deS EigenthmuS durch revo- lulionaire „Arbeiterbewegungen" erspart geblieben, und jeder derartige Vorgang, wie er uns soeben aus dem westlichen Nackbarlande berichtet wird, enthält eine neue ernstliche Mahnung, aus dem betretene» Wege der Abwehr und — der Förderung positiver Maßnahme», wie er durch die groß artige kaiserliche Botschaft betreten ist, Weiler zu schreiten. Die Pariser Revolutionaire verlangen jetzt freie Bahn für ihre Ausschreitungen, „widrigenfalls die Regierung die Verantwortung sür alle Folge» zu trage» habe". Sonderbar klingt unS diese Drohung. Bel u»S ist die Regierung sich eben in jedem Moment ihrer vollen Verantworilichkeit be wußt, und in diesem Bewußtsein drang sie aus den Erlaß des Gesetzes vom 2t. Oktober 1878, von diesem Bewußtsein durchdrungen, vermag sie cs nicht, dieses Gesetz sür entbehr lich zu erklären. Zur Frage der Wahlprüfungeu. Zur Frage der Uebertraaung der Wahlprü- sungen auf einen Gerichtshof geht der „National- liberal en Corres pondenz" aus Parlamentarischen Kreisen eine Zuschrift zu, die zu anderen Ergebnissen kommt, alS sie bisher in den meisten Preßcrörtcrungcn zu Tage getreten sind, zur allscitigcn Beleuchtung dieser wichtigen Frage aber einen werthvollen Beitrag liefern dürste. Der Gedanke der Uebcrtragung der Wahlprüsungen auf einen Gerichtshof ist danach in Deutschland keineswegs so neu, wie eS Manchem scheinen könnte. I» Reichötagskreisen hat man ihn seit langen Jahren besprochen, und eS läßt sich nicht leugnen, daß er dort immer mehr Anhänger gesunden hat. Der Grund dieser Erscheinung ist ein sehr offenkundiger: in das gan^e Geschäft der Wahlprüsung werden immer mehr die GcychtSpunctc des Partei-InteresscS Hineinactragen, und die entsprechenden öffentlichen Verhandlungen sind fast ganz ausschließlich eine Handhabe der Wahlagitation geworden. Der Aergcr über werden wie bei die principielle Frage, ob die Einrichtung , über die Rechtmäßigkeit der Mehrheitsbeschluß der Parlamente selbst ent- Wahlen durch scheiden zu lassen, auf diesem Wege nicht zu ganz unhalt baren Zuständen führen muß. Die Wahlprüsung ist eine rechtsprechende Thätigkcit; als solche kann und darf sie aber lediglich nach streng ;uristischcn Grundsätzen, nicht nach poli tischen Anschauungen, die in der Praxis immer durch den Parteistandpunct beeinflußt sind, geübt werden. Daß für eine solche juristische Objektivität durch einen Gerichtshof, sagen wir z. B- einen Senat des Reichsgerichts, mehr Garantie geboten wird, als durch eine von den Partei- strömungen bewegte parlamentarische Körperschaft, kann kaum bezweifelt werden. Die Befürchtung, daß ein Gerichts hof sich bei der Wahlprüsung lediglich mit formalen Kriterien begnügen und z. B- eine unzulässige Beeinflussung seitens der Regierung gar nickt oder wenigstens nicht genügend berück sichtigen würde, erscheint wenig gerechtfertigt. Man wird im Gegentheil sagen können, daß überall da, wo die Mehrheit deS Parlaments von vornherein auf Seiten der Regierung steht, die Gewähr sür eine richtige Würdigung solcher Beein flussung weit mehr in einem Gerichtshöfe, alS in der parlamen tarischen Majorität gegeben sein würde. Zum Mindesten aber wird sich nicht behaupten lassen, daß der Schutz der Minoritäten zu verkennen, daß auch praktische Gründe diese Forderung unterstützen. Es ist ja wahr, daß sich wohl Ein richtungen treffen ließen, die eine gewisse Beschleunigung de» PrÜfungSgeschäftS in den Parlamenten ermöglichen würden; aber weit einfacher, sicherer und gründlicher würde der vielbeklagten Verschleppung doch durch denbesonderen Gerichtshof vorgcbeugt werden. — Der entscheidende Punct in der ganzen Angelegenheit wird schließlich Wohl immer die Frage sein, ob die Entziehung der eigenen Entscheidung Uber die Legitimation seiner Mitglieder eine Schwächung d«tz
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