Das gewerbliche Unterrichtswefen. 5 Seither ahmten auch andere continentaie Länder diefe Schöpfungen mehr oder minder glücklich nach. In ganz Europa gerieth die Bewegung im Gebiete kunft- gewerblicher Läuterung und Schulung in Flufs. Seit der letzten Parifer Ausftellung hat fie bedeutende Fortfehritte auf zuweifen, und heute befchränkt fich die XVirkfamkeit derfelben keineswegs mehr auf einzelne Centren, auf grofse kunftgewerbliche Lehranftalten; vielmehr rufen die hervorragendflen Culturftaaten nach und nach an allen wichtigen Punkten Zeichen- und Modellirfchulen in Verbindung mit der Induftrie ins Leben und fuchen durch fachkundige, theils aprioriftifch, theils kunftgefchichtlich vorgehende Unterweifung ein richtiges, zweckbewufstes Formgefühl zu wecken, fowie durch die Aufflellung gutbewährter Abbilder- und Mufterfammlungen den Gefchmack auch des gemeinen Arbeiters zu lenken und zu verfeinern. So zeigte denn die Wiener Ausftellung auf mehr Gebieten und in ftärkerem Mafse als ihre Vor gängerinen eine Umkehr von der früheren naturaliftifchen und finnlofen Corn- pofitions- und Ornainentationsweife zu gröfserer Vernunftmäfsigkeit, Strenge und Stilgerechtigkeit. Wenn auch unfere neuefte Culturpolitik. indem fie im wiflTenfchaftlichen Geilte ihrer Zeit mittelft der fyftematifch und hiftorifch unterweifenden Schule die Gefchmacksreform zu bewirken trachtet, einen in der Gefchichte der Kunft- gewerbe bisher nicht dagewefenen Weg befchreitet und wenn auch in Folge deflen ftatt der bezaubernden Naivetät alter Meifterleiftungen des Kunft-Handwerkes eine gewiffe Reflecftirtheit im kunftinduftriellen Schaffen der Gegenwart hervor- tritt, fo bezeichnet doch der jetzige Zuftand einen riefigen Fortfehritt gegen eine jüngft vergangene Periode und geftattet die zuverfichtliche Erwartung, dafs der einmal vom Wufte der Verwilderung gefäuberte und forgfam beftellte Boden in einer folgenden Epoche volle und reine Blüthen hervorbringen werde. So hat denn gegenwärtig der gewerbliche Unterricht nach zwei Richtungen die Aufgabe, Ergebniffe moderner Wiffenfchaft für die beruflichen Zwecke des Gewerbeftandes zu popularifiren: was die exadten Wiffenfchaften feit hundert Jahren an im Leben anwendbaren Errungenfchaften zu Tage gefördert haben, foll den Gewerbetreibenden in Schulen erfchloffen werden, welche die Refultate diefer mathematifch-naturwiffenfchaftlichen Forfchungen in praktifcher, knapper Lehre darbieten; ebenfo wie auch die reichen Fundgruben culturhiftorifchen und ethno- graphifchen Wiffens , welche in unferer Zeit eine mannigfaltige Ausbeute künft- lerifcher Geftaltungen geliefert und die Einficht in Entwicklung, Zweck, Zufammen- hang und Sinn diefer Formen geklärt haben, für die Hebung der Induftrie nutzbar gemacht, und zur äfthetifchen Erziehung des Volkes verwerthet werden muffen. Auf folchem Wege allein kann in den occidentalen Ländern einerfeits die grofs- artig erweiterte Kenntnifs der Materie und ihrer Gefetze der gefammten Bevöl kerung zum Segen werden und anderfeits die hochentwickelte Gefchichtswiffen- fchaft als unerfchöpflicher Jungbrunnen die Phantafie des gewerbetreibenden Volkes veredeln und bereichern mit einer vielgeftaltigen Fülle wiedererweckter, dem fchonen Schaffen anderer Zeiten oder Nationen entnommener Formen. Das gewerbliche Unterrichtswefen einzelner Staaten. Nachdem der Gegenftand diefes Berichtes in feiner Bedeutung für das Culturleben der Gegenwart charakterifirt und dadurch in die richtige Sehlinie gerückt ift, wird im Folgenden wohl mit erhöhter Sicherheit ein Urtheil über die Stellung gefällt werden können, welche das gewerbliche Unterrichtswefen auf der Wiener Weltausftellung eingenommen hat. Wenn auch England, Frankreich, Belgien, Holland auf diefem Felde überhaupt nur fpärlich ünd durchaus nichts ausgeftellt hatten, was nicht fchon von früheren Expofitionen her bekannt gewefen wäre, fo bot dafür die Ausftellung