Hugo Distier und die Entstehung einer Legende 17 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass führende Kirchenmusiker in den folgenden Jahren immer wieder betonten, wie eng die Verbindung auch zwischen den musi kalischen Vorstellungen der Kirche und denen des NS-Staates sei. Heute fragen wir uns, ob das echte Überzeugung oder bloße Anbiederung war. Söhngen und seine Freunde wollten ein Signal setzen und die wiedererstandene Kirchen musik in aller Form der deutschen Öffentlichkeit vorführen. Vor allem aber wollten sie der Nazi-Partei und der Reichsregierung demonstrieren, was sich seit Hiders Regierungsantritt in der Kirchenmusik alles getan hatte. Deshalb organisierten sie im Oktober 1937 in Berlin das berühmte Fest der deutschen Kirchenmusik. Söhngen legte Wert auf die Feststellung, fast alle dort zur Aufführung gelangenden Werke seien nach dem 30. Januar 1933 7 entstanden. Das war zwar übertrieben, aber immerhin: Der Staat förderte das Fest mit stattlichen Zuschüssen aus dem Reichskirchenministerium und dem Reichserziehungsministerium. In seiner Eröffnungs ansprache am 7. Oktober 1937 in der Berliner Alten Garnisonkirche erklärte der Oberkonsi- storialrat 8 : Die Kirchenmusik ist der frohen Überzeugung, dass sie dem neuen Deutschland Adolf Hiders einen wichtigen Dienst zu leisten schuldig und berufen ist. Diese Formulierung war kein Zufall, denn sie entsprach Söhngens Hoffnung, die politi sche Wiedergeburt Deutschlands würde unter Hider einer Wiedergeburt des christlichen Glau bens den Weg bereiten. Ähnlich hatte die Erklärung der Lutherischen Bischofskonferenz in V ürzburg vom 14. Mai 1933 geklungen, wo es hieß: „Wir ringen und beten darum, dass der Aufbruch der Nation zu einem Durchbruch zu Gott werde.So ist es nicht verwunderlich, dass das neue Deutschland Adolf Hitlers und die Früchte der wiedergeborenen Kirchenmusik für Söhngen zusammen gehörten und füreinander bestimmt waren. Das Fest der deutschen Kirchenmusik empfand Söhngen als sein wichtigstes Lebenswerk. Ge meinsam mit Wolfgang Reimann, Adolf Strube und dem Dichter und Pfarrer Kurt Ihlenfeld hatte er es geplant. Und in der Tat: Auf dem Programm standen Werke, die noch Jahrzehnte lang, z. T. bis heute ihren Platz in den kirchenmusikalischen Programmen haben: Hugo Dist iers Weihnachtsgeschichte und dessen Motette Ich wollt', dass ich daheime wär, sein Cembalokon^ert op. 14 und die beiden Orgelpartiten J\un komm der Heiden Heiland und Wachet auf ruft uns die Stimme-, Ernst Peppings 90. Psalm und seine Orgelpartita Wer nur den liehen Gott läßt walten-, Jo hann Nepomuk Davids Choralmotette Nun bitten wir den heiligen Geist und seine Orgelfantasie über L’homme arme-, Kurt Thomas’ Orgelvariationen Es ist ein Schnitter, heißt der Tod und Wolf gang Formers Toccata und Fuge d-moll. Die Kompositionen Distlers, Davids, Formers und Peppings standen zweifellos im Zen trum des Programms. Unter den Textdichtern kamen vor allem Rudolf Alexander Schröder und Kurt Ihlenfeld zu Wort. Natürlich hatten jüdische Komponisten oder Textdichter keinen Platz in den Programmheften: weder Arnold Mendelssohn noch Günther Raphael oder Jo chen Klepper, der eine jüdische Frau hatte. Oskar Söhngen wollte alles Jüdische aus der deut schen Kirchenmusik heraushalten. In seiner einflussreichen Stellung als hoher Kirchenbeam- 7 Tag der Ernennung Hiders zum Reichskanzler. 8 Zitiert nach MuK 9 (1937), S. 243. 9 Karl Kupisch (Hrsg.), Quellen %ur Geschichte des deutschen Protestantismus 1871-1945, München u. Hamburg 1965, S. 293.