Komponieren in dunklen Gefahren Heinrich Schütz und Hugo Distier Stefan Hanheide W enn kn Rahmen eines Internationalen Heinrich-Schütz-Festivals gleichzeitig der 100. Geburtstag des Komponisten Hugo Disder gefeiert wird, so bedarf diese Verknüp fung einer Begründung. Über die gemeinsame Verankerung in der evangelischen vokalen Kir chenmusik hinaus stellt sich die Frage, inwieweit es Berührungen zwischen beiden Kompo nisten gab. Was interessierte den Komponisten des 20. Jahrhunderts am Meister des 17. Jahr hunderts? Welchen Einfluss hatte der Altere auf den Jüngeren? Inwieweit hat Distier bei Schütz etwas gefunden wie Inspiration, Faszination, Orientierung, Anregung? Welche Ge meinsamkeiten sind im Leben und Schaffen beider Komponisten zu erkennen? Welche Ver stehensperspektiven ergeben sich aus einer Gegenüberstellung? Die wohl bekannteste Übereinstimmung besteht in dem Titel Gastliche Chormusik, den beide Komponisten für eines ihrer bedeutendsten Werke wählten. Heinrich Schütz hatte 1648 eine Sammlung von 29 Motetten zu fünf bis sieben Stimmen mit Generalbass ad libitum ver öffentlicht. Distier begann im Januar 1934 unter dem gleichen Titel eine Serie von Motetten. Wie er zuvor mit seinem Zyklus Der Jahrkreis schon einmal eine Reihe kleiner zwei- bis drei stimmiger Sätze für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres vorgelegt hatte, wollte er jetzt eine ähnliche Folge groß angelegter Motetten komponieren. Bis 1935 wurden aber nur sechs Beiträge fertig und 1936 gab er den Plan eines vollen Motettenjahrgangs auf 1 . Später fügte er noch drei Motetten hinzu, die aber aus anderem Anlass entstanden waren. So ist Disders Geistliche Chormusik op. 12 mit nur neun Motetten ein Torso geblieben. Das gilt jedoch letzt lich auch für Schützens Geistliche Chormusik op. 11, die als „Erster Teil“ veröffentlicht wurde, der aber nie mehr ein zweiter Teil folgte. Textlich schöpfen beide Komponisten aus der Bibel und der geistlichen Dichtung. Die Anbindung an den Jahresverlauf des Gottesdienstes spricht nur Distier deutlich aus; bei Schütz bleibt diese liturgische Ausrichtung ungenannt. Während Schütz dezidiert auch an eine instrumentale Besetzung der Stimmen denkt, kommt für Distier nur eine chorische in Frage 2 . Noch weitere Werke Distiers können auf Schütz zurückgeführt werden: Da sind zunächst die drei Geistlichen Konzerte für Singstimme und Orgel (Cembalo) op. 17, die von der Beset zung her an die Kleinen Geistlichen Konzerte Schützens erinnern, besonders an die ganz wenigen für nur eine Singstimme. Während Schütz eine Generalbassbegleitung vorsieht, ist die Orgel bei Distier „nicht als bloß begleitender Continuo, sondern als selbständig konzertierendes In strument behandelt“, wie es in der Vorrede lautet. Schließlich stehen die oratorischen Werke beider Komponisten in Beziehung, die Weihnachtsgeschichte von Distier mit der Weihnachtshistorie von Schütz und die Choralpassion Disders mit den drei Passionen von Schütz. Auch zwischen 1 Zu den Einzelheiten der Geistlichen Chormusik op. 12 sowie zu Distier allgemein vgl. das Standardwerk von Winfried Lüdemann, Hugo Distier — Eine musikalische Biographie, Augsburg 2002. 2 Allerdings hat man Schütz’sche Motetten zu Distiers Zeiten vorrangig mit a-cappella-Chören aufgefiihrt (s. u.).