Notenformen und Nachtragsstimmen 219 Wenn, wie der Befund von BWV 664 also weiter plausibel macht, die Schrift züge der Stimmen aus BWV 68 und 76 tatsächlich an die in Abbildung 3 dokumentierten Notenformen anknüpfen und BWV 664 selbst nicht in die Zeit nach 1742/43 gehören dürfte, dann liegen die Schlußfolgerungen für die bei den Kantaten auf der Hand. Eine Entstehung vor BWV 210 käme wegen der Halsung der abwärts kaudierten Halbenoten schwerlich in Frage; gleichzeitig sprechen jedoch die spitz auslaufenden Notenköpfe gegen eine Niederschrift nach BWV 212 oder - wenn man den Vergleich auf Handschriften mit Rein schriftcharakter beschränken will - den allenfalls wenig später angefertigten Stimmen der Palestrina-Messe. Zwischen den so festgelegten Eckdaten Herbst 1741 und Frühjahr 1743 gibt es eine Möglichkeit zur Aufführung nur im Jahr 1742. Aus anderer Hinsicht aber erweist sich dieser Schluß als problematisch. Im betreffenden Jahr fiel der 2. Pfingsttag auf den 14. Mai, der 2. Sonntag nach Trinitatis auf den 3. Juni; am letztgenannten Tag wie auch am 1. Sonntag nach Trinitatis gab es wegen der Landestrauer um die Kaiserin-Witwe Wilhelmine Amalie keine Musik in der Kirche. 57 Nachricht über das Verbot erhielt Bach offiziell am 25. Mai. zwei Tage vor dem 1. Sonntag nach Trinitatis; bereits am 19. Mai hatte aber der Oberstadtschreiber die Türmer und einige Geistliche über das Glockenläuten während der Landestrauer unterrichtet - und wie Ulrich Siegele vermutet, hätte Bach „gewiß [...] schon außerhalb des Dienst wegs [...] erfahren, daß ihm eine vierzehntätige Arbeitserleichterung bevorstand.“ 58 Eine Datierung der autographen Viola-da-gamba-Stimme zu BWV 76 auf 1742 würde also voraussetzen, daß er sie mindestens zehn Tage, wenn nicht schon bedeutend länger vor der geplanten Aufführung anfertigte - was zumindest bei seinem früheren Leipziger Arbeitstempo nicht ohne weite res glaubhaft wirkt. Vielleicht müssen wir also entgegen allen früheren Ver mutungen doch mit der Möglichkeit einer Aufführung - ob vollständig oder von Teil II allein, bleibe dahingestellt - zum Reformationsfest 1741 rechnen. Eine definitive Lösung wird jedoch ohne neue Funde ausbleiben. 59 57 Vgl. hierzu und zum folgenden Dok V. S. 165 (B 508a), sowie ausführlicher U. Sie gele, Zur Datierung der kursächsischen Landestrauer von 1742. Ein bisher unver öffentlichtes Bach-Dokument, in: Telemanniana et alia Musicologica. Festschrift für Günter Fleischhauer zum 65. Geburtstag, Oschersleben 1995 (Michaelsteiner Forschungsbeiträge. 17.). S. 80-82. 58 Ebenda, S. 81. 59 Ich möchte an dieser Stelle auf das rätselhafte Autograph der Orgelfantasie c-Moll BWV 562/1 (P 490) hinweisen. Wie die Abbildungen bei A. Dürr. Johann Sebastian Bach. Seine Handschrift - Abbild seines Schaffens. Wiesbaden 1984, Bl. 39, und NBA 1V/5 (D. Kilian 1972), S. IXf„ erkennen lassen, scheinen die Schriftformen eine Brücke sowohl zu den hier diskutierten Kantatenstimmen als auch zu BWV 664 zu schlagen: Bei den weißen Noten herrschen - nicht nur, wie etwa in BWV 210