4 LANDSCHAFT der Schlucht durch einen nicht sichtbaren Kanal in ein breites und langes, aus dem natürlichen Stein gehauenes Brunnenbecken ge leitet, zu dem einige Felsstufen emporführen (Abb. 4). Es ist noch die gleiche schlichte und doch monumentale Fassung wie im Altertum, nur gähnen die Nischen in der senkrecht abgeschnittenen Rückwand der Quellenanlage finster und leer. Was sie enthielten, Götterbilder oder andere Weihgaben, ist nicht bekannt. Wer auch nur kürzere Zeit in Griechenland gereist oder gewandert ist, weiß, was dort, in diesem durstigen Lande, Quellen bedeuten. Es brechen zwar auf der delphischen Terrasse, in dem Scheidegebiet zwischen Kalk und undurchlässigem Schiefer, noch andere kleinere Quellen hervor, so die Kassotis im heiligen Bezirk selbst, aber die Kastalia ist die wichtigste, eine besonders herrliche, das ganze Jahr reichlich fließende Quelle. Somit war die erste und bedeutsamste Bedingung für eine größere Siedlung in dieser Felsenöde gegeben: ohne Kastalia auch kein Delphi. Im Süden wird die delphische Terrasse von dem in tiefer Schlucht eingegrabenen, im Sommer ausgetrockneten Pleistosbach abgegrenzt und durch ihn von der vorgelagerten, 1563 m hohen, mit grünen Macchien bewachsenen Kirphis getrennt. Dieser breite Vorberg verdeckt von Delphi aus den Blick nach dem Süden, nach dem Korinthischen Busen. Da das Tempelgebiet auch nach Osten und Westen von den vorspringenden Bergstürzen des Parnaß gleichsam abgeriegelt ist, so ergibt sich als Gesamtcharakter der Landschaft eine groteske Weltabgeschiedenheit und Felseneinsamkeit, alles Größe und Erhabenheit, ja Furchtbarkeit und Wildheit (Abb. 5). Wenn die Sonne, der Sonnengott Apoll, nicht wäre, der auch die düstersten Felsen durchleuchtet, wenn nicht die Wasser der Kastalia sprudeln würden, so müßte der Mensch hier verzweifeln. Die Gabe der Gaia, die heilige Quelle, die Spende des Gottes, die lichte Sonne, sie lassen den armen Sterblichen hier seine Abhängigkeit von höheren Mächten besonders empfinden. Auf drei Wegen kann man heute wie im Altertum Delphi er reichen. Wenn man von Süden kommt, zur See durch den Korinthi schen Busen von Athen oder von der Peloponnes herüber, landet man im Innern der Krisäischen Bucht bei dem kleinen Hafenstädt chen Itea. Von dort wandert man eine Stunde lang durch herrliche alte Ölwaldung: es ist die im Altertum viel umkämpfte fruchtbare