10 II. »Beruf« ist eine Tätigkeit, welche irgend einen Zweig des Wissens oder Könnens erschöpfend umfasst, so dass durch ihre Ausübung ein bestimmtes Ganzes in möglichster Vollendung ge schaffen oder nachgeschaffen wird. Wer etwas Ganzes schaffen oder auch nur nachschaffen will, muss sich zur Ausübung dieser Tätigkeit »berufen« fühlen. Er muss einen starken Drang, eine unbezwingliche Lust und Liebe zur Ausübung dieser Tätigkeit in sich fühlen, er muss geistig und körperlich dazu disponiert sein, er muss Willensstärke, Aus dauer, Zähigkeit, Geduld und Energie mitbringen, das Arbeiten muss ihm Ereude bereiten, das Ueberwinden aller Schwierigkeiten muss ihm Bedürfnis sein: dann kann er von »seinem Berufe« sprechen, denn er fühlt sich zu seinem »Berufe« »be rufen «. Von der Intensität dieser Neigung und ferner von dem Grade der natürlichen geistigen und körperlichen Disposition hängt das Gedeihen der Arbeit ab. Sind diese Voraussetzungen in höchstem Grade vorhanden, dann ist die Arbeit Bedürfnis, Selbstzweck, — die Pflicht der Arbeit aber Vergnügen! Wenige Berufsarten sind so sehr auf starke Neigung ange wiesen, wie die Kunst. Wer das soeben geschilderte Arbeits bedürfnis nicht fühlt, sondern wem die Arbeit lediglich eine nüchterne Pflichtsache ist, der soll die Kunst nicht zum Berufe wählen. Denn gerade die Kunst fordert liebevolle Vertiefung und Hingebung im höchsten Grade, sie fordert den ganzen Menschen. Ein echter Künstler wird und kann sich niemals »genug« tun, denn jede Genugtuung, jede vollendete Arbeit wird vom Streben, vom Verlangen nach noch höherer Vollendung überholt. Auf jeder Stufe seines Könnens und Wissens wird seine Beobachtung schärfer, seine Unterscheidungsgabe grösser, sein Feingefühl empfind licher, sein Urteil bestimmter, sein Ideal deutlicher und höher. Ein »Ideal« ist ein Gedankenbild, in unserer Vorstellung lebend, selbstgeschaffen, durch äussere Eindrücke und innere Er lebnisse bedingt und über dieselben hinaus vervollkommnet und verschönt.