Und warum sollte eine besondere Begabung das Studium der obligatorischen Fächer überflüssig machen? Gerade diese Fächer bieten reichen Stoff für Merkmale und Unterscheidungen der Begabung und sind somit auch imstande, Begabungskeime zu ent wickeln und einseitige Veranlagung auszugleichen. Würde es aber jemandem einfallen, einem besonders begabten Studenten der medi zinischen Wissenschaft im Hinblicke auf seine Begabung das Studium eines einzigen obligatorischen Faches, z. B. der Anatomie, zu erlassen? Eine hervorragende Begabung wird in allen Berufsarten den nämlichen Effekt haben. Sie wird dem Unterrichtsstoffe natür liches Verständnis und Interesse entgegenbringen und ihn leichter und schneller verarbeiten. Aber die Kenntnisse kann sie nicht vorrätig mit in das Studium bringen, diese müssen durch die Einzeldisziplinen erworben werden. Dem Künstler ist dies um somehr nötig, als er sich erst durch die geistige Behandlung seines Stoffes, die den Kreis seiner Intelligenz erweitert, aus dem Banne der mechanischen Technik befreit und somit das Ver ständnis für seine Kunst erlangt. Eine spezifische natürliche Begabung ohne höhere Intelligenz ist für höhere Zwecke unbrauchbar und andererseits erzielt mechanische Uebung ohne Intellekt immer nur ein mechanisches Produkt. Ferner muss der Ansicht unbedingt widersprochen werden, dass der Hauptfachlehrer den gesamten musikalischen Lehrstoff in seinen Unterricht einschliessen könne. In allen praktischen Hauptfächern muss der Schüler einzeln unterrichtet werden, weshalb die Unterrichtszeit im Hauptfache aus materiellen Gründen nur von relativ kurzer Dauer sein kann. Deshalb ist es dem Hauptfachlehrer schlechterdings unmöglich, sich mit den ausserordemlich zeitraubenden theoretischen Hdfsdisziplinen eingehender zu befassen. Er muss sich hierbei auf das Allernot wendigste beschränken und hat sein Hauptaugenmerk auf die Technik des Hauptfaches zu richten. Auch wenn die Unterrichtszeit ver doppelt oder verdreifacht würde, könnte der Hauptfachlehrer die rationelle Durchführung der einzelnen theoretischen Materien nicht mit dem Hauptfache verbinden, sondern er müsste darin beson deren Unterricht erteilen. Ganz unmöglich aber ist dies, wenn praktische Nebenstoffe in Frage kommen, z. B. Orchester oder Kammermusik, beziehentlich auch Klavierspiel. Niemand wird aber bestreiten wollen, dass diese Fächer nicht absolut nötig seien. Das Klavierspiel ist für alle Berufsmusiker ohne jede Aus nahme notwendig. Denn für alle Musiker, die in ihrem Haupt fache meist oder gänzlich auf Einstimmigkeit angewiesen sind (Orchester-Instrumentalisten und Sänger), ist das Klavierspiel der Vermittler des Verständnisses der Theorie. Für die übrigen (z. B. Organisten, Harfenisten, Theorielehrer) wirkt es entweder vorbereitend oder ergänzend oder als bedeutsamstes Mittel zum beruflichen Hauptzwecke.