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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.07.1901
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1901-07-05
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19010705024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1901070502
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1901070502
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1901
- Monat1901-07
- Tag1901-07-05
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Mission hinsichtlich der Einfügung der progressiven Einkommen steuer in den nächsten Staatshaushalt muhten al» Wahl manöver angesehen werden. Nur hatten Waldeck-Rousseau und Millerand gehofft, dah die Alters- und JnvaliditätSversicherung wenigstens in der Deputirtenkammer zur Annahme ge langen würde. Scheiterte die Vorlage dann in letzter Stunde im Senate, so war doch wenigsten-'den Wählern Sand in die Augen gestreut worden. Nunmehr ist jedoch der Schiffbruch bereits in der Deputirtenkammer erfolgt. Hierüber lassen die Verhandlungen keinen Zweifel bestehen. Firmin Faure stellte im Hinblick auf die unmittelbar bevorstehenden parlamenta rischen Ferien den Antrag: „Die Kammer, entschlossen, die Discussion des Gesetzentwurfs über die Arbeiterpensionen fort zusetzen, und zwar mit Ausschließung jedes anderen Gesetzent wurfs, geht zur Tagesordnung über.» Da unter „jedem anderen Gesetzentwürfe" die vier direkten Steuern verstanden werden müssen, deren Annahme unumgänglich nothwendig ist, hätte die Annahme des Antrages Firmin Faure bedeutet, daß die Kammer den festen Willen hätte, den zur Berathung stehenden Entwurf zu erledigen. Dieser Antrag wurde jedoch mit 263 gegen 255 Stimmen abgelehnt. Damit nicht genug, gelangte noch ein Antrag des konservativen Dcputirten de Gailhard- Bamel zur Annahme, des Inhalts, die Kammer fordere die Regierung auf, während der Kammerferien das Altersver sorgungsgesetz, wie es gegenwärtig im Entwürfe vorliegt, dem Gutachten der Arbeiter- und Arbeitgeber-Syndikate in den Städten und auf dem Lande zu unterbreiten. Es nützte nichts, daß der Handelsminister Millerand sich dagegen verwahrte und versicherte, alle zuständigen Vereinigungen und berufenen Persönlichkeiten seien bereits zu Rathe gezogen worden. Die Annahme des Antrages de Gailhard-Bamel mit 300 gegen 237 Stimmen wird, so schreibt die „Nat.-Ztg.", als das Todes- urtheil der Vorlage angesehen. Daß viele der bezeichneten Syndikate der Vorlage feindselig sind, ist bekannt. Die Ar beiter verlangen noch weit mehr Zugeständnisse und wollen weit weniger Opfer bringen, während die Arbeitgeber, insbesondere die zahlreichen kleinen Meister, über unerträgliche Lasten klagen. So wird es nicht an den ungünstigsten Gutachten fehlen, und nach den Ferien ist die Zeit selbst für das Budget allzu kurz bemessen. Im nächsten Jahre, das die allgemeinen Wahlen bringt, ist dann das Mandat der gegenwärtigen Deputirten kammer erloschen. Die Annahme des konservativen Antrages bedeutete daher thatsächlich das Todesurtheil der Vorlage, an deren Lebensfähigkeit ohnehin kein Kenner d— ernsthaft geglaubt hat. Deutsches Reich * <>ccU>l, 4. Juli. Betreffs der Zulassung von Aus ländern zu den deutschen Technischen Hochschulen wird den „Berl. N. Nachr." noch geschrieben: „Die Bewegung an der Münchener Technischen Hochschule gegen die Zulassung nicht genügend vorgebildeter Ausländer hat einen sehr ernsten Hintergrund. In Deutschland ist das Abiturientenzeugniß zum Besuche einer solchen Anstalt ersoder- lich. Wollte man, was doch nur billig wäre, die gleichen An- sorLerungen z. B. an Engländer stellen, so müßte man von ihnen verlangen, daß sie im Besitze deS Zeugnisses eines Llnxister ^rtium (nicht derjenigen eines LIngirter ^rtium cum Honoridus) einer britischen Universität wären, das ungefähr unserem Abiturienten- examen entspricht. Nur schließt es obendrein noch ein Semester Philosophie (meist Ethik oder Logik und Metaphysik) ein. Kein anderes britisches Examen bietet die Gewähr dafür, daß Derjenige, der eS bestanden hat, eine der Bildung unserer Abiturienten gleich artige Ausbildung erfahren hat. Auch daS Llasielor ^rtium-Examen kann in modernen Sprachen oder in alten Sprachen mit entsprechenden Nebenfächern (meist sind es im Ganzen sieben Fächer) abgelegt werden, so daß eS auch in dieser Hinsicht unserem Gymnasial- und Realgymnasial-Abschlusse entspricht. Könnte der betreffende eng lische Bewerber bei Zulassung zu einer Technischen Hochschule des Deutschen Reiches mündlich dem Rector oder Abthci- lungshaupte den Nachweis führen, daß er im Stande ist, ge sprochenes Deutich intelligent aufzufasjen, so wären wohl so ungefähr die wissenschaftlichen Bedingungen erfüllt, unter Lenen man Ausländer zulassen könnte. Ta die ausländischen Anstalten sehr hohe Jmniatriculationsgebührcn und Collegiengelder erheben, so wäre es jedoch vielleicht auch nützlich, für Ausländer die be- treffenden Zahlungen bei uns wesentlich heraufzusctzen. In Eng land muß sich der Student für jedes Semester neu imma- triculiren lassen und die betreffenden Kosten erlegen. In Oxford sind die Collegiengelder etwa fünf bis zehn Mal so hoch wie die deutschen, in Schottland etwa drei Mal so hoch. Auch auS diesen Gründen wäre rs somit wünjchcnswerth, daß das Zuströmen von Elementen nach Deutschland ver hindert würde, denen in ihrer Heimath nur die Studienkosten zu hoch sind. Nach den persönlichen Erfahrungen des Verfassers dieser Zeilen würde gewiß kaum ein Fünftel der Engländer, welche heute an deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen stndir»«, dies« Studie« fortsetz«» könne«, wen« mau dl» Er füllung jener Prüsungsaosorderungen von ihuen verlangte. Daß da- Ansehen der deutschen Hochschulen im Ausland« durch die bestehende» UebrlstSud« namentlich i« England und Amerika sehr gelittr» hat, ist durch vielfache Zeugnisse deutscher Universi tätslehrer im Ausland« sestgestellt. Heute stehen di« deutschen Hochschulen an der Spitze der Weltwissenschaft uud Welttechnik. Wenn fremde Studenten sie benutzen wollen, so müßten dieselben doch wenigstens, wenn sie kein deutsches Abiturientenzeuguiß bei bringen könoen, den normalen Bildungsgang in ihrer Heimath durchgemacht haben. Unsere Hochschulen sind StaatSaastalten, die zum allergrößten Theile auS den Taschen der Steuerzahler erhalten werden. Wie kommen diese dazu, für fremde Staats angehörige den größten Theil der Studienkosten zu tragen, obrn- «ia, um das Ausland uns gegenüber concurrenzfähiger zu machen? Eine stärkere finanzielle Heranziehung der Ausländer würde also nicht der inneren Berechtigung entbehren." * Berlin, 4. Juli. (Städtische Verwaltungen und Socialvemokratie.) Immer zahlreicher werden die Fälle, in denen städtische Verwaltungen beschlossen, städtische Säle allen politischen Parteien für ihre Versammlungen zur Verfügung zu stellen. Einen solchen Beschluß hatte auch die Stadtverordnetenversammlung in Frankfurt a, M. gefaßt. Der Magistrat ist jedoch diesem Beschlüsse nicht beigelrcten und begründet das in beachlenSwerther Weise u. A. wie folgt: „Der Magistrat betrachtet es fortgesetzt als den obersten und unbediugt sestzuhaltenden Grundsatz für unsere Gemeindever waltung, daß dieselbe thuolichst und jedenfalls, soweit es von ihr selbst abhängt, von dem politischen Patteigetriebe frei gehalten wird. Unser Parteiwesen hat Gegensätze von solcher Schärfe hervorgerufen, daß die Bekämpfung politischer Gegner vielfach äußerst unliebsame Formen angenommen hat. Dazu kommt, daß einzelne Parteien sowohl nach ihrem Programm als durch ihr thatsächliches Vorgehen daS friedliche Zusammenwirken und die Gleichberechtigung aller Gesellschaftsklassen und Lonsessionen ebenso wie wesentliche Grundlagen der staatlichen Ord nung mit schroffer Rücksichtslosigkeit gegen Andersdenkende an greisem Für die Versammlungen dieser Parteien Säle bereit zu stellen, ist sicherlich nicht die Ausgabe der Gemeindeverwaltung. Es kann nicht ausbleiben, daß — wenn der Magistrat diesen Parteien einen Saal für ihre Versammlungen einräumte — weite Kreise der Bürgerschaft hierin eine Unterstützung jener Bestrebungen erblicken und an die Behörden mit dem Verlangen herantreten würden, in der Stadthalle keine Versammlungen zu dulden, welche eine feindliche und gehäjfige Bekämpfung einzelner Clafsen oder Confesfioncn zum Zwecke haben. Die Hergabe der Stadthalle würde sonach nicht zum Frieden führen, sondern die ständige Gefahr seiner Störung und der im Interesse der kommunalen Arbeit höchst unerwünschten Hereinziehung politischer Debatten in die Verhandlungen der Gemeindebehörden Hervorrufen." Natürlich ist die Socialdemokratie über diese Abweisung höchst entrüstet. Der „Vorwärts" höhnt über den Magistrat einer „demokratischen" Stadt, wo neben Oberbürgermeister Or. Abickes noch andere Herren säßen» die sich als liberale Socialpolitiker aujspielten. Und doch könne kein preußischer Poiize:minister an dieser polizeifrommen slaatSretterischen Erklärung etwas aussetzen. DaS stimmt, uud um so be gründeter ist die Erwartung, daß andere Stadtverwaltungen sich die Entscheidung des Frankfurter Magistrats zum Muster nehmen, wenigstens so lauge, biS die Socialdemokratie jene Mauserung wirklich vollzogen Hal, zu der der „Vorwärts" aus Sorge um seine Existenz eö nicht kommen lassen mag. — Der Kaiser wird seine diesjährige Nordlands reis e, die am 8. d. M. ihren Anfang nehmen soll, von Swine- münde aus antreten. Dem Kommandanten der Hofyacht „Hohenzollern", Grafen v. Baudissin, sind für die Dauer der Reise diesmal sechs Schiffe und Fahrzeuge unterstellt. Der kleine geschützte Kreuzer „Niobe", Kommandant Korvetten kapitän Graf v. Oriola, dient der Kaiseryacht als Begleitschiff, um ihr für unvorhergesehene Fälle in See behilflich sein zu können; der „Sleipner", Kommandant Kapitän-Leutnant Mischke, soll in den Scheeren der nordischen Fjords zu Sonderfahrten benutzt werden, und die drei Torpedoboote „8 70", „8 72" und „8 73" haben die Aufgabe, die Kuriere mit den Postsachen u. s. w. der „Hohenzollern" von den nächsten Häfen heranzubefördern und ständig einen Verkehr des Schiffes mit den nächsten Tele graphenstationen aufrecht zu erhalten. Die „Hohenzollern" ist jetzt mit Einrichtungen versehen, die dem Schiff beim Ankern in einem Hafen direkt einen telegraphischen Anschluß er möglichen. — Prinz Eitel Friedrich, dessen Einstellung in das I. Garde-Regiment zu Fuß am 8. erfolgt, wird in seiner Eigenschaft als Fähnrich an dem Unterricht im Potsdamer Kadettenkorps theilnehmen. — Der Reichskanzler behält während seines Urlaub aufenthaltes in Norderney die Leitung der Geschäfte bei. Ein 4SSY sein« Bestrafung bekannt aeaeben werden sollten, so würde die» wohl schon heute in Anknüpfung an die oben mitgetheilte Mel dung geschehen sein. Man muß also annehmen, daß der Be treffende geschont werden soll. Um so mehr aber ist zu wünschen, daß die Meldung eint Ergänzung durch die Mit- theilung der Maßregeln erfährt, die ergriffen worden sind, um dem Willen des Kaisers Nachachtung auch bei solchen Ohren zeugen vertraulicher kaiserlicher Aeußerungen zu sichern, die nicht dem deutschen Offikiercorps angehören. „Die Nets« des Grafe« Bülow nach Petersburg", — so schreibt heute die „Tägl. Rndsch." —- „um selbst über die Grundlagen des russisch-deutschen Handelsver trags mit den maßgebenden russischen Personen zu berathen, ist, wie wir erfahren, in der 2 hat geplant. Sie be stätigt nur, waS schon früher angcdeutct wurde, daß eine ge wisse vorläufige Verständigung mit Rußland, wonach der Ab schluß eines Handelsvertrages auch auf der Grundlage höherer Agrarzölle nicht ernstlich gefährdet erscheint, angebahnt worden -ist. AuS unterrichteten Kreisen wird uns heute versichert, daß die Reise des Grafen Bülow nach Petersburg selbstverständlich nicht erfolgen würde, wenn es Schwierigkeiten zu beseitigen gäbe, die noch als unüberwindlich angesehen werden müßten. Vielmehr darf man sich der vertrauensvollen Erwartung hin geben, daß Graf Bülow beim Eintreffen in Petersburg auch auf russischer Seite den besten Willen vorfindet, alle noch vor handenen Meinungs- und Interessengegensätze Zug um Zug im Wege verständigen Entgegenkommens auszugleichen.- — Uns da gegen wird von einer Seite geschrieben, die Gelegenheit hatte, Erkundigungen an maßgebender Stelle einzuziehen: „Die Ab reise des Grafen Bülow nach Norderney wird die Ge rüchte zum Schweigen bringen, die von einer im Monat Juli bevorstehenden Reise des Reichskanzlers nach Petersburg zu melden wußten. Die Verbindung, in welche ein russisches Blatt die angeblich bevorstehende Reise des ^Grafen Bülow mit deutsch-russischen Handelsvertragsverhand- ^lungen brachte, ist, von allem Anderen abgesehen, voll kommen unwahrscheinlich. Denn die deutsche Zoll- karifsvorlage hat den Bundesrath noch nicht passirt; und selbst wenn dies der Falle wäre, sind Handelsvertragsverhandlungen nicht danach angethan, vom Reichskanzler persönlich im Nuslande vertreten zu werden. Wer aber der Nachricht über die angebliche Reise des Grafen Bülow nach Petersburg in der Meinung Glauben geschenkt hat, daß die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland einen derartigen Schritt er heischten, befindet sich im Jrrthum. Die beiderseitigen Be ziehungen sind so beschaffen, daß eine Reise des Kanzlers nach Rußland nicht nothwendig ist." Wenn neuerdings in der französischen Presse unter der Spitz marke loucd sllemnnä" versucht wird, die finanziellen Verhältnisse Deutschlands als gänzlich corrumpirt, die Sicherheit Ker deutschen Geldinstitute als äußerst fragwürdig hinzustellen, so ist es unschwer, die wahren Ursachen einer solchen Taktik zu erkennen. Das unerfreuliche Ergebniß der letzten Volkszählung hat eine begreiflich« Beunruhigung in der Bevölkerung Frank reichs hervorgerufen und beschäftigt die Rcgierungskreise aufs Angelegentlichste, mehr gilt dies noch von einem zweiten Be- »nruhigungssymptom, das infolge der geplanten Steuerreformen in die Erscheinung getreten ist und in der Thatsache einer Kapitolsflucht im großm Umfang« sich äußert. In dem Be streben, den Vermögensbesitz vor der gefürchteten schärferen 'Heranziehung infolge der beabsichtigten Arnderung des Steuer systems zu schützen, sind Großcapitalrsten wie klein« Besitzer einig, und unter den Staaten, denen man wegen zweifelloser Sicherheit und einer erträglichen Vermögenssteuer den Vorzug vor dem eigenen giebi, nimmt Deutschland ein« hervorragende Stelle «in, was aus der Thatsache erhellt, dah nach Meldung fran zösischer Blätter die deutsche 300 Millionen Mark-Anleih« zur Deckung der Kosten des China-Feldzuges allein von französischen Kapitalisten vier Mal überzeichnet wurde. Wenn also neuer dings in der französischen Presse Stimmen laut werden, die an läßlich des Zusammenbruches der Leipziger Bank von einer schweren finanziellen Krisis fabeln, die Deutschland durchzu machen habe, so geschieht dies in der Absicht, den französischen Kapitalisten von der Anlage seines Vermögens /in ausländi schen Wertsten abzuhalten und die heimischen Verhältnisse auf Kosten der Wahrheit gegenüber den im Auslande herrschenden Zuständen als besonders, glänzend hinzustellen. All« diese Be mühungen können aber die Thatsache nicht aus der Welt schaffen, daß sehr bedeutende französische Wertste neuerdings außerhalb Frankreichs untergebracht wurden, eine Erscheinung, deren Be deutung und Tragweite durch die Erklärung der officiellen Presse, daß die gegenwärtige ungünstige Geschäftslage als eine allgemein beobachtete Folge des Ausstellungsjahres anzusesten sei, keineswegs herabgesetzt wird. Es muß zugegeben werden, daß in der Zeit nach 1878 und 1889 ein gewisser Rückschritt im Geschäftsgänge sich bemerkbar machte, derselbe ist aber mit der augenblicklichen, fast allgemeinen Stockung in gar keinen Vergleich zu. stellen. s Die französische Vorlage über die Alters- und In- validitätSverficherung muß nunmehr als beseitigt gelten. Sowohl diese Vorlage als auch die Beschlüsse der Budgetcom- und kranken Augen gesehen. Unter dem Einfluß dieses Blickes hatte sie sich willig erhoben und war mit etwas unsicheren, schwan kenden Schritten zum Schreibtisch gegangen, wo sie sich nun niedersetzte, den Federhalter ergriff, eintauchte und mit erwar tungsvollem Ausdruck zu ihm emporsah. Jetzt fing der Rechtsanwalt an zu dictiren, und das Herz klopfte ihm bei dem Gedanken, daß in wenig Augenblicken der Brief, den er zur Errettung der Geliebten brauchte, von ihrer eigenen Hand geschrieben, vor ihm auf dem Tische liegen würde. „Jetzt wache auf!" sprach er der Schreiberin vor, und seine Augen folgten aufmerksam den Bewegungen ihrer Feder. Aber schon bei den ersten Buchstaben malte sich ein« grausam« Ent täuschung in seinen Mienen. Die ungelenken Schriftzüge, die da eine des Schreibens wenig gewohnt« Dienstmädchenhand auf das Papier kritzelte, hatten nicht die mindeste Aehnlichkeit mit der Frau Doctor Römer groß zügiger, ausgeglichen fester Handschrift. Zu seinem Entsetzen sah der Rechtsanwalt ein, daß di« selbstsuggerirte Vorstellung der Frau Doctor, ein einfaches, ungelehrtes Dienstmädchen zu sein, so stark in ihr war, daß sie sogar ihre Handschrift beeinflußte und sie ungefüge und unausgeschrieben wie die eines Schulkindes machte. Freilich war diese Erscheinung ein« sehr bekannt« Wir kung der hypnotischen Beeinflussung. Sie gehörte ja zu den ge bräuchlichsten Pqradestücken, die von berufsmäßigen Hypnoti seuren dem Publicum gezeigt zu werden pflegen. Aber die Häufigkeit der Erscheinung milderte in nichts die schmerzliche Enttäuschung des Rechtsanwalts, als er di« unheil volle Verwandlung der Handschrift auch bei der Frau Doctor entdecken mußte. Ohne Hoffnung, nur um di« einmal begonnene Sache auch zu Ende zu führen, dictirte er di« paar Worte des Briefes weiter. Aber, was er sogleich gefürchtet hatte, traf «in. Der von ihr selbst geschrieben« Brief hatte ebenso wenig Wirkung auf sie, wie vorhin die Abschrift deS Fräulein Kurzmülltr. Rathlos bückte er die Frau Staatsanwalt an. Aber wie rifrig er auch mitihr sichbefprachund noch einmal alle Möglichkeiten erwog, sie kamen immer nur zu dem einen Ergebniß, daß es un bedingt nöthig war, di« Urschrift des Briefes zu erlangen. Ein Mittel jedoch, Fräulein Kurzmüller zur Herausgabe zu zwingen, wollte ihnen nicht «infallen. „Eine einzige Möglichkeit gäbe es noch", rief schließlich der Rechtsanwalt, in dem von Neuem «in schwacher Hoffnungs schimmer erwacht«, „eine einzige Möglichkeit, auch ohn« Fräulein Kur-müller den echten Brief oder doch einen ebenso echten Brief zu erlangen!" „Und worin bestände diese Möglichkeit?" fragte die Frau EtaatRrnwalt müde und gleichgiltig, denn ihr Vertrauen auf Kettung und Hilf« war aänzlich geschwunden. Frau Doctor scheint doch ihren hypnotischen Sport schon ziemlich lange zu betreiben. Es ist nicht wahrscheinlich, daß sie da als Erweckungsbrief immer noch denselben, zu allererst ge schriebenen Zettel benutzt, sondern daß sie sich schon ein oder auch ein paar Mal einen neuen geschrieben hat. Möglich ist es also, daß sich irgendwo in ihrem Schreibtisch nach solch' ein alter Zettel vorfindet, den sie außer Gebrauch gesetzt hat. Ich gebe zu, dies« Möglichkeit ist nicht sehr groß, und mir selbst ist es viel wahr scheinlicher, daß sie die alten, abgenutzten Zettel bei Niederschrift eines neuen Briefes allemal vernichtet hat. Aber einer gründlichen Durchsuchung des Schreibtisches ist die kleine Hoffnung doch immerhin Werth." Mit mattem Lächeln stimmte die Frau Staatsanwalt seinen Worten zu unv Beide durchsuchten nun sorgfältig jedes Fach und jeden Kasten und glaubten in jedem beschriebenen Zettel den er sehnten Brief zu finden. Aber Alles vergeblich. Schließlich schüttelte Herr Lohmann noch ein paar Bogen weißes Löschpapier aus, die als Unterlage auf der Platte des Schreibtisches lagen, und aus denen thatsächlich ein paar Zettel chen zur Erde flatterten. Sie zeigten sich jedoch nur mit werth losen Notizen bedeckt. Da siel es ihm auf, wie scharf sich an manchen Stellen des weißen Löschpapiers einzelne Worte und Zeilen der abgelöschten Schrift abzeichneten. Sein einmal rege gewordener Spürsinn veranlaßte ihn, genauer hinzusehen, und so entdeckt« er plötzlich ganz deutlich in Spiegelschrift dir Worte: „Jetzt wache auf! Vergiß!" Auch die Fortsetzung des Brieses ließ sich aus den nächsten Worten erwachen. Nur wurde der Abdruck etwas schwächer. Offenbar hatte die Schreiberin die Fever nur einmal eingetcmcht, so daß auf die tintenreichen Buchstaben des Anfangs immer blässere Schriftzüge gefolgt waren, die nur wenig Feuchtigkeit mehr an das Löschpapier abgegeben hatten. Immerhin war dieser Abdruck sehr werthvoll. Er zeigt« ihn, wenngleich sich seine Hoffnung nach den mehrfach erlittenen schweren Enttäuschungen nicht mehr zu großer Freudigkeit auf schwingen konnte, der Frau Staatsanwalt, vermochte es aber dabei nur zu einer etwas ungewissen Miene des Triumphes zu bringen. Den ersten Gedanken, die Kranke diesen Abzug deS oder doch eines echten Briefes einfach im Spiegel ablesen zu lassen, verwarfen sie alsbald wieder. Denn sie erkannten sofort di« AuS- s-cbtssi'siibit eines solchen Versuches. Wenn auch diesmal die Handschrift echt war, so würde sie doch bei dem ihrem Zustande eigenen Starrsinn da» richtig« Briefpapier vermissen und sich mit dem verschwommenen Löschpapierbrief keineswegs zufrieden stellen lassen. Der Rechtsanwalt schlug deshalb vor, den Abdruck photogra- phiren und dann durch irgend einer der jetzt üblichen photogra phischen Reproductionsverfahren etwa zintographisch auf dem Briefpapier der Frau Doctor wiedergeben zu lassen. Dann befand sich auf dem echten Papur die echt« oder doch täuschend facsimilirte Handschrift, und der Erfolg konnte nicht ausbleiben. Er verlor keine Zeit, diesen einmal gefaßten Ent schluß auch schleunigst auszuführen, steckte das Löschblatt zu sich und begab sich zum Photographen. Kurz nach seinem Weggang kam der Staatsanwalt, um nach dem Befinden der Kranken zu fragen. Seine Frau erzählte ihm von den vergeblichen Versuchen, die sie zu ihrer Erwachung angr- stellt hatten, und es schien ihr, als ob auch er bei ihrer Schilde rung immer geneigter wurde, an die hypnotische Verwandlung seiner Schwägerin zu glauben. Sie freute sich dieser Sinnesänderung ihres Mannes und fragte ihn schließlich: „Und wir willst Du es denn nun wegen der Diebstahlsange- legenheit halten?" Da zog der strenge Gatte sein gewöhnliches, finsteres Dienst gesicht und antwortet«: „Ja, in dieser Beziehung habe ich natürlich mein« Pflicht thun müssen, und so habe ich gegen di« diebische Person die Anklage erhoben." „Aber das ist ja Grausamkeit und Unsinn, wenn Diebin und Bestohlen« ein und dieselbe Person sind." „Das geht mich nichts an und macht mir keine Sorg«. Ich habe pflichtgemäß dies Aufwartemädchen meiner Schwägerin, einstweilen noch unbekannten Namens und unbekannter Herkunft, des «ingestandenen Diebstahls angeklagt. Wenn es sich nun herauSstellt, daß dieses Aufwartemädchen gar nicht vorhanden ist, so ist die Sache erledigt, und meiner Schwägerin zumal kann die Anklage nicht die geringste Unannehmlichkeit bereiten/ „Gewiß. Aber vorläufig ist das Autwartemädchen leider noch vorhanden, und dieser armen Kranken hier kann Dein« An klage recht gefährlich werden." „O nein! Ob sie daS Aufwartemädchen oder die Frau Doctor ist, darüber streiten sich ja die Aerzt« noch, und ich muß gestehen, ich bin jetzt selbst zweifelhaft geworden. Ich habe zwar die Anklage erhoben, aber sei überzeugt, ich übergebe unsere Krank« meinen eigenen Beamten nicht eher, als bis mir diese mit dem Beweis kommen, daß die Krank« auch wirklich di« Angeklagte ist. Mein« Pflicht als Staatsanwalt habe ich gethan. Nun ist eS mein« Pflicht als Schwagrr, auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß der Herr Rechtsanwalt Lohmann mit seinen hypnotischen Tbeorirn doch Recht hat, trotz des HofrathS ab sprechender Meinung. Wir wollen unS also berathen, was in der Sache zu thun ist." In diesem Augenblicke kehrt« der Rechtsanwalt vom Photo graphen zurück. Seine niedergeschlagene Miene verkündete nicht- GuteS. Aufenthalt in Flottbeck ist, Sem „HamV. Torresp." zufolge nicht in Aussicht genommen, — Die „Natlib. Corresp." schreibt: Die voraussichtliche Er nennung des Kölner Regierungspräsidenten Frhrn. von Richt bosen zum Oberpräsidenten von Ostpreußen entzieht jetzt allen Gerüchten von Ministerkrism insofern den Boden, als nicht mehr davon di« Rede sein kann, daß diesem oder jenem Staatssekretär bei seinem bevorstehenden Rücktritt der Posten des Oberpräsi- denten von Ostpreußen offen gehalten werden sollte. In Köln bedauert man den Abgang des Regierungspräsidenten Frhrn. von Richthofen aufs Schmerzlichst«, da er sich durch seine Tüchtigkeit und Objektivität die Sympathien aller Parteien er worben hat. — Herr von Zedlitz liegt zur Zeit wieder einmal in einer Zeitungsfehde, in der er sich mit dem Sturz des Finanzministers von Miquel beschäftigt. Statt des Näheren auf den recht unfruchtbaren Streit einzugehen, geben wir eine Notiz der „Nat.-Lib. Corr." wieder, in der daS Wesent liche der Zedlitz'schen Behauptungen herausgegriffen und in aller Kürze und Bündigkeit abgethan wird. Es heißt da: Freiherr von Zedlitz tischt in einer langen Zuschrift an die „Post", in welcher er gegen die „Staatsbürger-Zeitung" polemisirt, wiederum daS Märchen auf, die Nation al liberalen hätten im Jahre Z899 die Canalvorlage zu Fall gebracht und wären diesmal von vornherein von dem Wunsche beseelt gewesen, Herrn Finanz minister von Miquel zu stürzen. Beide Behauptungen sind an dieser Stelle schon so oft und gründlich widerlegt worden, daß heute der Hinweis auf diese erfolgte Abfertigung deS Freiherrn von Zedlitz genügt. — Ueber die Massenfabrikation von Gesetzen ist schon öfters bitter geklagt worden. Jetzt schreibt der Social- poliliker Or. Jastrow in dem „Freien Wort": Man braucht diesen Stoff nur einmal an sich vorüberziehen zu lassen, um sich zu sagen: dieser Massenfabrikation kann Nie mand mehr mi) Interesse folgen. Die heute im Mannesalter stehende Generation, die in den früheren Zeiten ruhigen und inten siven Arbeitens Interesse gewonnen hat, wird eS in gewissem Um fange noch behalten. Die junge Generation aber wächst von vorn herein in der Anschauung auf, daß das Dinge seien, denen sie nicht folgen kann. Alle, die mit der heutigen Gesetzgebung unzufrieden sind, sind aus dem Irrwege, rvenn sie bessere Gesetze verlangen. Was uns zunächst noth thut, wäre eine Zeit mit weniger Gesetzen. Auch in der Gesetzgebung gilt das Sprichwort: Allzuviel ist ungesund! — Zur Verlängerung der Geltungsdauer der Rückfahrkarten liegen heute noch folgende ergänzende Meldungen vor: * Kiel, 4. Juli. Die Kiel-Flensburger Eisenbahn hat ebenfalls die GiltigkeitLdauer der Rückfahrkarten im localen und im Verbandsverkehr mit anderen Strecken auf 45 Tage erhöht. * Oldenburg, 4. Juli. Wie von der Verwaltung der olden- burgischen Staatsbahnen mitgetheilt wird, wird vom 4. Juli dieses Jahres ab die Geltungsdauer aller auf den Stationen Lee oldenburgischen Staatsbahnen im direkten Verkehr mit Stationen der preußisch-hessischen Staatseisenbahnen zur Ausgabe kommenden Rück fahrkarten unter Beibehaltung der bisherigen Preise auf 45 Tage aus gedehnt. Dir Giltigkeit erlischt um Mitternacht des 45. Tages. Die gleiche Geltungsdauer wird den Rückfahrkarten LeS sich im Durchgänge über oldenburgische Strecken bewegenden Verkehrs der preußisch-hessischen Staatseijenbahnen beigelcgt. Im Verkehr mit anderen (nicht preußisch-hessischen) Bahnen, sowie im Verkehr der Stationen der oldenburgischen Bahnen untereinander, tritt eine Arnderung nicht ein. G Karlsruhe, 4. Juli. Die 45tägige Giltigkeitsdauer der Rückfahrkarten wird vom 6. Juli ab auch auf den inneren badischen Verkehr und Len Verkehr mit dem Reichsland, der Pfalz, mit Württemberg und Bayern ausgedehnt. — Nach den „Berliner Politischen Nachrichten" wird di« dem preußischen Landtage in der nächsten Tagung zugehende Eisen bahnvorlage auch die Forderung für eine neue, vorzugs weise für den Güterverkehr bestimmte Bahn zwischen dem oberschlesischen Bergrevier und Breslau ent halten. — In Folge des in Berlin durch die Krankenkassen gegenüber der Mehrzahl der Apotheken durchgeführten Boykotts sind die nicht boykottirten Apotheken vielfach derart mit Arbeit überlastet; daß dadurch eine Gefährdung des regel rechten Betriebes herbeigeführt wird, jedenfalls aber die pünkt liche Erledigung der einlaufcnden Recepte sehr in Frage gestellt wird. Dadurch, daß sich nun auch der große Gewerks-Kranken- Verein mit ca. 120 000 Mitgliedern dem Boykott angeschlossen, dürften sich die Schwierigkeiten für die 71 zugelassenen Apotheken derart häufen, daß die Inhaber außer Stande sein werden, die ihnen durch die Centralcommission aufgezwungene Arbeits leistung mit ihren Einrichtungen bewältigen zu können. Es wurde daher von den betheiligten Apothekern beschlossen, ge meinsam an die Aufsichtsbehörde zur Klarlegung der Ver« „Nun, was sagte der Photograph?" fragte die Frau Staats anwalt erwartungsvoll. „Ist das Verfahren nicht möglich?" „Das Verfahren wäre schon möglich", entgegnete der Ge fragte tonlos, „aber der Abzug, über den wir verfügen, ist unzu reichend. Er ist unvollständig! — Hier, sehen Sie! Der Ab druck befindet sich ganz am Rand und es haben nur zwei Zeilen darauf Platz gefunden. Die dritte, wichtigst« Zeile: „dir feine, vornehme Frau Doctor Maria Römer", diese Zeile fehlt. Es ist auch kein« Aussicht mehr, sie noch zu finden. Ich habe vorhin schon all' die Löschblätter genau nach etwa noch brauchbaren Schriftzügen durchgrsucht." Gleichwohl begann er sein Durchsuch:« noch einmal, aber natürlich ohne Erfolg. „Ich hätte uns diese Enttäuschung ersparen können", setzte er bitter hinzu, „wenn ich gleich vorhin das Löschblatt genauer betrachtet hätte. Mir hätte dann die fehlende Zeile auffallen müssen. Aber di« immer schwächer werdenden Schriftzüge er schwerten das Lesen, und an eine solche Bosheit des Schicksals hatte ich überhaupt nicht gedacht." Der Staatsanwalt war dieser betrübenden Entdeckung gegen über am ruhigsten. „Die Sache hat das eine Gute", sagt« er, „daß wir nun wenigstens zur vollen Klarheit über unsere Lag« gekommen sind. Der einzige Weg zur Rettung meiner Schwägerin liegt also jetzt zweifellos in der Beschaffung des echten Briefes aus den Händen dieses gefährlichen Fräulein Kurzmüller." Der Rechtsanwalt nickte stumm. Sein Auge ruhte weh- miithig auf der Kranken, die jetzt schon merkwürdig lange ohne Wiederkehr eines Anfalles in ruhigem Schlummer dalag. Wahrscheinlich war sie bereits zu ermattet, um schon wieder Kraft zu neuer Aufregung zu haben. In des Rechtsanwalts Herzen freilich, so sehr er ihr die Ruhe gönnte, erstand bereits die bange Sorge, sie möchte das heftig« Verlangen nach dem Briefe und damit die unbewußt« Sehnsucht nach Erweckung und Befreiung etwa ganz verlieren und sich durch die unheilvolle Macht der Gewöhnung vielleicht ganz in ihren Dienstmädchenzu stand einleben. Also galt es, so rasch als möglich zu handeln. Ungesehen vom Staatsanwalt, der mit seiner Frau sprach, drückte er einen innigen Kuß auf die schlaff herabhängende Hand der Schlummernden, riß sich dann mit kräftigem Entschluß von ihrem rührenden Anblick und auS seiner Angst und SkWe um ihren Zustand los, um mit klarem Geist« über die MikM und Wege zu ihrer Rettung nachzudenken. Er folgte dem Staatsanwalt in sein Arbeitszimmer und be rietst dort mit ihm, welche Maßregeln der List oder der Gewalt jetzt gegen Fräulein Kurzmüller angebracht waren. (Fortsetzung folgt.)
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