02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 20.06.1905
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1905-06-20
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19050620024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1905062002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1905062002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1905
- Monat1905-06
- Tag1905-06-20
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RXargen-Ausgab« nachmittag« 4 Uhr. Anzeigen find stet« « dir Lrpedttton zu richten. Ertru-Vetlage« (nur mtt der Morgen- Ausgabe- nach besonderer Vereinbarung. Die Grsestttan IS Wochentag« ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Druck rmd Verlag »ou G. Pol» in Leipzig (Inh. vr. «„ R. L W. »linkhardti. Herausgeber: vr. Victor Ultnkhardt. Nr. 309. Dienstag 20. Juni 1905. 99. Jahrgang. Vs; Wichtigste vom läge. * Im Prozeß Rietschel —Ebeling hat der Ober staatsanwalt gegen den Angeklagten Ebeling wegen Be leidigung deS hiesigen Kirchenrats Rietschel Gefängnisstrafe, wegen Beleidigung der Herren Geh. Rat Wach und Pfarrer Rausch empfindliche Geldstrafen beantragt. (S. Gerichtssaal). * DaS deutsche Kronvrinzenpaar hält beute nach mittag seinen Einzug in Potsdam. (S. Dtsch. Rch.) * Die Meldung von der bedenklichen Erkrankung s-e« Königs von Dänemark wird offiziös dementiert. * Der Prozeß gegen Maxim Gorki ist endgiltig ulrdergeschlageu worden. * Nach Meldung aus Petersburg wird in den nächsten Tagen einUkaS des Zaren erscheinen, der eine BolkS- vertretung einberusen und die Wahlen für Sep tember ansetzen wird» (S. Rußland.) verchluttunMigkeit. Der Absentismus machte sich im Reichstage in der verflossenen Session in einer die parlamentarischen Arbeiten in hohem Grade schädigenden Weise geltend. Auch das Hauptorgan der Zentrumspartei am Rhein, die „Köln. Volksztg.", erkennt dies an. Sie verwahrt sich aber dagegen, alle Kalamitäten, an denen das Reichsparlament leidet, dem Zentrum, als der „herrschenden" Partei, auf das Konto zu schieben. Zum Beweis, wie ungerechtfertigt das sei, führt sie eine Prüfung der Abstimmungslisten vor, welche das Resul tat der einzelnen namentlichen Abstimmungen am 20., 22., 23., 24. und 25. Mai festlegen. Die bezüglichen Abstimmungen geben überhaupt keinen Maßstab für die Stärke des Absentismus in der verflossenen Session an die Hand. Sie drängten sich auf wenige Tage zusammen und waren wie die über den Antrag Hompesch, welcher forderte, die Anträge über die Bergarbeiterverhältnisse auf die nächste Tages- ordnung zu setzen, durch Begleiterscheinunaen alteriert. Gleichwohl liegt kein Grund vor, ebenso wie die „Köln. Volksztg." die Zahl der fehlenden Angehöriaen der Zentrumspartci fesistellt, dies auch nach anderer Seite hin zu tun. Dom Zentrum haben an keiner der acht namentlichen Abstimmungen der letzten Taae teilge nommen 13 Abgeordnete. Die Sozialdemokraten stellen unter ihren 78 Mitgliedern (gegen 101 Zentrumsmit glieder) allein 23, welche an keinem der in Betracht kommenden Tage anwesend waren: trotzdem figuriert eine Anzahl von diesen als Antragsteller über den An trag auf namentliche Abstimmung vom 20. Mai. Eine weitere verhältnismäßig große Zahl dieser „Arbeiter vertreter" war nur an einem einzigen Tage der abstim mungsreichen Schlußpcriode der Session anwesend. Von den 72 Konservativen (inklusive Reichspartei) versäum ten 21 sämtliche acht Abstimmungen, 10 waren bei einer einzigen Abstimmung, viele andere nur bei zwei oder drei anwesend. Bei den Nationalliberalen war die Sache nach dem Zeugnis der „Köln. Volksztg." weniger schlimm. Am 20. Mai erfolgte die von den Sozial demokraten mit 51 Unterschriften geforderte nament- liche Abstimmung, welche die Anwesenheit von nur 174 Abgeordneten ergab. Es handelte sich um Artikel I Nr. 1 der Kommissionsanträge zum Gesetzentwurf wegen Aenderungen der Zivilprozeßordnung. Von am 26. Mai dem Reichstage angehörenden 393 Mit- gliedern fehlten 219. Diese fehlenden Stimmen ver teilen sich wie folgt: Von den 78 Sozialdemokraten fehlten 46, obschon sie cs waren, welche die Vornahme einer namentlichen Abstimmung — ohne Not — ver anlaßten. Von den 103 Mitgliedern der Zentrums- fraktion fehlten 36, von den 72 Konservativen (einschl. Reichspartei) fehlten 41, von den 51 Nationallibe ralen 19: die übrigen 83 fehlenden Stimmen verteilen sich auf die vielen kleinen Parteien. Am 22. Mai kam es erneut zu namentlicher Abstimmung über den Artikel I. Diesmal waren nur 148 Abgeordnete an wesend: es fehlten 61 Sozialdemokraten. 41 vom Zen trum, 54 Konservative, 20 Nationalliberale: der 23. Mai lieferte endlich die beschlußfähige Zahl in der selben, verhältnismäßig nicht allzu wichtigen Ange legenheit. Tie Abstimmung ergab die Anwesenheit von 203 Abgeordneten: es fehlten diesmal 50 Sozialdemo kraten, 26 vom Zentrum, 41 Konservative und 19 Nationalliberale. Bei einer zweiten namentlichen Ab stimmung an demselben Tage über einen nationallibe ralen Antrag stimmten 202 Abgeordnete: es fehlten 56 Sozialdemokraten, 25 vom Zentrum, 42 Konservative und 21 Nationalliberale. Der folgende Tag, der 24. Mai, brachte wiederum zwei namentliche Abstim- mungen: über die Gültigkeit der Wahl des freisinnigen Abg. Barbeck und über den Antrag Hompesch. Der letztere forderte, die Anträge über die Bergarbeiterver hältnisse auf die nächste Tagesordnung zu setzen. Es kann daran erinnert werden, wie zum selben Tage das Zustandekommen einer Verständigung der Mehrheits parteien des Abgeordnetenhauses über die Berggesetz novelle zu erwarten war. Wenn die Anträge über die Bergarbeiterverhältnisie an dem betreffenden Tage im Reichstage zur Verhandlung gekommen wären, hätte letztere wahrscheinlich eine Verschärfung der Gegensätze hsrbeigeiührt. Während bei der Abstimmung über die Wahl deS Äbg. Barbeck eine beschlußfähige Zahl der Anwesenden festgestellt wurde, waren bei der bald darauf vorgenommenen Abstimmung über den Antrag Hompesch nur 181 Abgeordnete im Saale: eS fehlten vom Zentrum 30 Abgeordnete, von den Sozialdemo, kratcn 33, von den Konservativen 55 und von den Nationalliberalen 27. Recht bedauerlich war das fehlen von 44 Konservativen und 25 Nationallibe ralen bei der Abstimmung über die Kamerunbahnvor lage. Dom Zentrum fehlten 40, von den Sozialdemo- kraten 32 Abgeordnete. Wir sind ganz der Meinung der „Köln. VolkSztg.", wenn sie schreibt, es sei Vflicht der Wähler selbst, d. h. der Wahlkomitees, die Abstimmungslisten, welche den stenographischen Berichten beigefügt sind, regelmäßig durchzusehen und frank und frei den Finger auf die Wunde zu legen, wenn der Mann, dem das Wablbureau Ehren- und VertrauenSamt eines parlamentarischen Vertreters übertragen hat, seine Pflicht nicht erfüllt. Noch einmal aber heben wir auch hervor, wie gerade die im Vorstehenden angezogenen namentlichen Abstim- mungen nicht entfernt einen sicheren Maßstab für den Besuch der Sitzungen des Reichstages seitens der Ver treter der verschiedenen Parteien an die Hand geben. Der unlängst von der „Köln. Volksztg." gemachte Der- such, die früher nicht selten empfohlene Herabsetzung der Beschlußfähigkeitsziffer als ein Mittel in Vorschlag zu bringen, um die leidige Beschlußunfähigkert zur Un möglichkeit zu machen, ist in der Presse nicht allzu bei- fällig ausgenommen worden. Die nationalliberale »Kre felder Zeitung" bringt einen anderen Vorschlag zur An regung: „Die Beratung im Plenum mit drei Lesungen bleibt wie seither bestehen mit allen Bestimmungen über die Beschlußfähigkeit. Wird in der dritten Lesung die Beschlußfähigkeit bezweifelt und stellt es sich heraus, daß tatsächlich weniger als 199 Stimmen anwesend sind, dann wird nicht weiter abgestimmt, sondern die endgültige Entscheidung auf eine be sondere Lesung vertagt, die nicht vor dem nächsten zweiten Sitzungstage und nicht später als sieben Tage nach der erfolglosen dritten Lesung stattzu finden hat. Diese Ertralesung, die also nur in den» einen Falle in Betracht kommt, wenn die dritte Lesung beschlußunfähig war, entscheidet unter allen Umständen, und auch die Zahl der anwesenden Ab geordneten kommt nicht mehr in Betracht. Durch diesen Modus würde es unmöglich gemacht werden, daß eine Vorlage, die sich mühsam durch drei Lesungen und soundsoviele Kommissionssitzungen ge schleppt hat, schließlich unter den Tisch fällt. Außer dem hätten alle Parteien, die bei der dritten Lesung schlecht vertreten waren, genügend Zeit, ihre Mit- glieder zu berufen. Wer dann nicht erscheint, auf den braucht man keine Rücksicht mehr zu nehmen. Ein Reichstagsschluß kann nicht erfolgen, bevor diese eventuelle Notlesung stattgcfunden hat." Aeußerungen hierzu sind nicht unerwünscht. Vie mslslrlranirebe frage. Die Aussichten der Marokko-Konfe renz werden von der „K. Ztq." irl einem ersichtlich offiziösen Artikel wie folgt zusammengefaßt: Dre letzten diplomatischen Verhandlungen haben in sofern einen wesentlichen Fortschritt gebracht, als an der grundsätzlickren Bereitwilligkeit Rouviers zur Be schickung der Konferenz nicht mehr gezweifelt werden kann. Trotzdem sind noch manche Schwierigkeiten zu überwinden, die im wesentlichen darauf zurückzuführen sind, daß durch daS halsstarrige, Deutschland beiseite lassende Verhalten des Ministers Delcassä die ganze Angelegenheit in einer solchen Weise verfahren war, daß ein Ausweg, der dis berechtigten Interessen und Forderungen Deutschlands befriedigt und zugleich für Frankreich keine Demütigung bedeutet, nicht leicht zu finden war. Wenn es schon nicht immer leicht ist, ernste sachliche Meinungsverschiedenheiten zwischen zwei Staaten bcizulegen, so wird das noch viel schwieriger, wenn die nationalen Empfindlichkeiten der einen Groß- macht verletzt worden sind und die sachliche Differenz sich zu einer Frage der nationalen Würde zuspitzt. Dahin war es aber nachgerade gekommen, als Herr Delcassö -en Ouai d'Orsay verließ, und wenn die Lage sich seit dem wesentlich gebessert hat. so ist das ein unbestreit bares Verdienst des Herrn Nouvier, dem offenbar schon während der letzten Zeit der Amtstätigkeit Delcassäs unheimlich zu Mute wurde, und der dann durch sein Eingreifen verhinderte, daß der Wagen noch weiter auf dem gefährlichen Geleise verfahren wurde. Wir wün schen und hoffen mit zunehmender Zuversicht, daß es Herrn Nouvier gelingen wird, das begonnene Werk zu einem glücklichen Ende zu führen, und wenn er sich auch auf dem Gebiete der auswärtigen Politik als ein wirk licher, ziclbewußtcr Staatsmann bewähren sollte, der in ruhiger und sachlicher, lediglich die praktischen fran zösischen Interessen wahrender Weise vorgeht, so wird er sich damit um Frankreich ein Verdienst erwerben, das auch in Deutschland mit Genugtuung begrüßt werden wird. Heute stimmen auch die meisten Londoner Blätter darin überein, daß die Lage zwischen Frank reich und England einerseits und Frank reich und Deutschland andererseits sich ge- bessert hat. Tie englischen Blätter legen übrigens einen weniger scharfen Ton an den Tag und versichern, daß England im Prinzip einer Konferenz nicht abge neigt sei. ver ruzsizch-japanirche Krieg. Vie russischen Hülfekrerrzer. Die Tatsache, daß von neuem neutrale Handelsschiffe verschwinden, läßt eine Betrachtung über die russischen Hülss- kreu^er zeitgemäß erscheinen. Der letzte dieser Kreuzer, von dem man körte, ist die „Kuban", die in Saigon eintraf. Dieses Schiff ist die frühere „Auguste Viktoria" der Ham burg-Amerika-Linie. Sie ist mit 16 Geschützen kleinen Kalibers armiert und mit einem drahtlosen Telegraphen ausgerüstet, sonst aber in keiner Weise geschützt. Nach einer Nachricht der Reuterschen Agentur war die „Kuban" nicht an der Schlacht im japanischen Meere be teiligt. Sie verließ daS russische Geschwader, um die Ostlüste von Japan bis nach Tokio bin abzupatrouillieren. Auf ihrer Rückfahrt von der Ostküste horte sie von dem Ver hängnis, das die Flotte getroffen hatte, und nahm ihren Kurs nach der Kamranh-Bucht und von dort nach Kap St. IacqueS. Sie forderte dort genügend Kohlen, um den nächsten russischen Hasen zu erreichen. Der Hilfskreuzer „Rion" ist in Batavia eingetroffsn. In England erregen die Nachrichten über die fortgesetzte Zerstörung neutraler Schiffe in Handelskreisen großen Unwillen, und eS wird immer mehr die Forderung laut, daß diese HülfSkreuzer entweder interniert, oder unter Bewachung von Kriegsschiffen nach Rußland gebracht werden sollen. Als Schiffe, die augenblicklich den Handel gefährden, werden angegeben: „Rion" (früher „Smolensk"), „Dnjepr" (früher „Petersburg"), „Don" (früher „Fürst Bismarck"), „Kuban" (früher „Auguste Viktoria"), „Terek" (früher „Columbia"). Bon zwei Schiffen kennt man den augenblicklichen Namen nicht; eS sind dies die früheren „Franche Comts" und „Belgia". Die „Rion" und „Dnsipr" sind Schiffe der Freiwilligenflotte deS Schwarzen Meeres. Die „Franche Comls" wurde einer französtfchen Firma abgekauft; die anderen Schiffe wurden von deutschen Firmen erstanden. Die Schiffe haben eine Geschwindigkeit von 18 bis 20 Knoten. Sie sind ungepanzert, tragen jedoch je 8 bis 10 tzzöllige Geschütze und eine Anzahl Zwdlspfunder. Mit einem gepanzerten Schiffe könnten sie sich natürlich in keinen Kamps emlassen und waren aus diesem Grunde nicht in der Schlacht bei Tsuschima. In London wächst die Be sorgnis um den englisch-indischen Dampfer „Ithona", der am 24. Mai Singapore mit dem Bestimmungsort Iokohama ver ließ, wo er bereits vor einer Woche eingetroffen sein müßte. Man hat von dem Schiffe, das durchaus seetüchtig war und Feuilleton. 2oi Ange Mlhelmi. Roman von I. Oppen. Nachdruck verboten. Die Frau Schuldirektor und Schulinspektor hatten nach monatelangen Beratungen sich mit Familie in ein kleines Bad der Ostsee begeben und hatten mit ihren Reisesorgen und -Vorbereitungen wochenlang vorher den ganzen Freundeskreis in Atem gehalten. Bei ihrer Abreise war die ganze Gesellschaft in corpore auf dem Bahnhofe erschienen. Man hatte Sträußchen und Erfrischungen an die Bahn gebracht, einen tränenreichen, herzlichen Abschied genommen, als gelte er einer Trennung fürs Leben. Lange noch hatten die Taschentücher Lebewohl ge- winkt. Dann wurde auf dem Bahnhofe reichlich gefrüh stückt und zum hundertsten Male sich darüber ausge lassen, ob die beiden praktischen Frauen, die mit Mann und Töchtern in die Ferne zogen, auch außer der Kräftigung der Gesundheit noch andere geheime Wünsche verwirklicht sehen würden, die sie von ihrem Aufenthalt erhofften. Lucie Erbach und der Landrat waren die einzigen, die im Doktorhause zwanglos ein- und ausgingen. Lucie machte für Ingeborg allerlei notwendige Be sorgungen, der Landrat rauchte oft eine gemütliche Zigarre in dem behaglich kühlen Zimmer des Arztes und plauderte mit ihm von der Zukunft. Eben malte er sich aus, wie anregend der Verkehr sich zwischen ihnen gestalten würde, wenn er erst Marga heimgeführt. Der Doktor unterbrach. — „Ich Hobe Schritte getan, um L. in absehbarer Zeit tu verlassen. Ich fühle selbst, daß meine Frau nicht hierher paßt. Sie leidet unendlich unter den engen, kleinlichen Verhältnissen. Der ewig aufreibende, nutz lose Kampf, der jetzt für Momente eingeschlafen, nimmt auch mir alle Lust und Freudigkeit, die mir Lebens- bedingung sind, und die ich zur Ausübung meines Be rufes notwendig brauche." Der Landrat war anfangs bestürzt. Dann sagte er nach einigem Nachdenken: „Ich glaube selbst, daß Ihre Frau hier niemals festen Fuß fassen wird, sie ist zu zart, zu leicht verletzt, sie gleicht einer Mimose, die bei der geringsten Be rührung sofort ihre Blüte schließt. Marga ist aus festerem Stoff gefügt; sie hat von Jugend an mit dem harten Leben ringen müssen, sie hat gelernt, mit Menschen und Verhältnissen zu rechnen und ihr glückliches Temperament wird ihr über alle Un annehmlichkeiten, die ihr gewiß auch nicht erspart bleiben werden, leicht hinweghelfen. Doch wenn Sie mich brauchen, Doktor, wenn ich Ihnen helfen kann, fo vertrauen Sie sich mir an, ich fühle mich so tief in Ihrer Schuld und würde glücklich fein, etwas zur Verwirklichung Ihrer Hoffnungen bei tragen zu können." Der Doktor dankte lächelnd. „Bleiben Sie uns ein Freund, das ist daS Kostbarste für uns. So werden wir schließlich einmal nicht so bitteren Herzens an L. zurückdenken." Der Landrat gab ihm das Versprechen, ihn oft in der Residenz mit Marga aufzusuchen, da er ohnedies wochenlang dort amtlich zu tun hatte. Auch wollte er mit seiner jungen Frau jeden Urlaub zu einer Reise auSnützcn, sie sollte so wenig wie möglich von der Klein stadttragik vor der Hand berührt werden. Sein Beruf fessele ihn ja nicht ausnahmslos an die Stadt, wie den Doktor. MargaS heitere Briefe erfreuten Ingeborg unendlich und wurden stets in dem kleinen Kreise vorgelesen. So vergingen Wochen und Monate. Ingeborg hielt sich trotz der außerordentlichen Pflege und Schonung nur mühsam aufrecht. Tie furchtbare Aufregung, die die Ahnungslose so erschüttert, schien einen unheilvollen Einfluß auf ihr ganzes Nervensystem geübt zu haben. Sie, die sonst jeden Sport mit Geschicklichkeit und Kraft ausgeübt, bewegte sich trotz aller Energie und Willenskraft nur mühsam und schwerfällig und brachte stundenlang in halber Apathie auf ihrem Ruhebette zu. Wenn ihr Gatte daheim war, nahm sie sich zu- sammen und klagte nie, aber ihr Gesicht, in das sich langsam feine Leidenslinien gezogen, redete eine deut- liche Sprache. Dennoch tröstete der Doktor sich und zählte die Wochen und Tage, die für den Ungeduldigen doppelt langsam dahingingen. Seine Bewerbungen um eine Assistentenstelle an einem Krankenhause in der Großstadt waren bis jetzt noch nicht von Erfolg gekrönt. An einem ungewöhnlich heißen Septembertage kam der Doktor früher als gewöhnlich von seinen Kranken- besuchen heim und berichtete Ingeborg, daß er für einige Stunden fortfahren müsse, da er einen dringenden Besuch über Land hatte. Er bat sie, zu ihrer Gesellschaft sich Lucie holen zu lassen und schied mit dem Versprechen, so schnell wie möglich heimzukehren. Jeden Tag wurde es ihm schwerer, stundenlang von ihr fern zu sein, und auch heute begleitete ihn die Sorge um sie auf seinem Wege. Während der Wagen auf der heißen, staubigen Land- straße dahinrollte, wandt Ingeborg sich in den gual- vollsten Schmerzen, die sie am Morgen schon geängstigt und die sich im Laufe dek Tages gesteigert hatten. Das Dienstmädchen, daS zufällig in das Zimmer kam, fand sie einer Ohnmacht nahe. Die Geängstigte versuchte nun die Leidende wieder zu sich zu bringen und fragte, ob sie nicht jemand holen soll. Ingeborg verneinte heftig. Doch als die nächsten Stunden den qualvollen Zu stand noch erhöhten, lief das Mädchen zum Kreis- physikus. Leider war derselbe nicht zu Hause. Er hatte sich an einem Ausflug mit mehreren Bekannten be teiligt. Ohne sich die Erlaubnis der Frau Doktor zu holen, kam sie nach einer halben Stunde mit einer Wärterin zurück. Madame Wegner, eine rundliche, robust auSsehendc Vierzigerin, betrat mit einem Wortschwall lauter Be- grüßungen recht ungeniert das Zimmer und beugte sich über die erschrockene Kranke in so vertraulicher Art, daß Ingeborg ganz erschreckt auffuhr. „O, Frau Doktor", sagte sie mit ihrer harten, lauten Stimme, „nie und nimmer hätte ich geglaubt, daß Sie meine Hülfe in Anspruch nehmen würden. Die ge lehrten Damen in der großen Stadt mögen ja uns ein- fache Frauen nicht." „Ich habe Sie auch nicht gerufen", sagte Ingeborg kalt. „Mein Dienstmädchen war so voreilig." „Na, da kann ich ja wieder gehen", antwortete die so Zurückgewiesene entrüstet. „Bin ohnedies sehr nötig. Habe zwei Häuser von Ihnen entfernt eine arme Tischlersfrau liegen, die schreckliches Fieber hat. Die hübschen kleinen Zwillinge sind heute schon gestorben. Nun warten wir noch etwas mit der Beerdigung, denn die junge Frau kann's auch nicht mehr lange machen. So hat nun wenigstens der arme Monn nicht doppelte Begräbniskosten." Ingeborg fuhr auf. „Mir ist schon besser", sagte sie mit bebender Stimme. „Wenn ich Sie brauchen sollte, rufe ich Sie. — Ich " Die Frau entfernte sich, blieb aber im Hausflur noch stehen, um mit dem Mädchen leise zu flüstern. Auf der Treppe rief sie noch: „Wenn Sie mich brauchen, so bin ich nebenan bei Tischlert."
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