71 Winfrid Haider Europa am Ende des Zweiten Weltkrieges »Fassen wir uns für einen Augenblick ans Herz und fragen wir uns, was wir erlebt haben! Dann vielleicht werden wir verstehen, was wir erleben und wieder erleben werden. Die Ge schichte war offenbar aus den Ufern getreten und drohte uns und alles das Unsrige, das Erbe, dessen Wert wir zu spät erkannten, mit so vielen Hoffnungen, Ansprüchen, Rechten, deren Fragwürdigkeit wir uns längst hätten eingestehen müssen, hinwegzureißen. Als Über lebende, die nicht recht begreifen können, wie sie überlebten, oder gar mit welchem Rechte, blicken wir über eine Verwüstung ohnegleichen [...].« 1} So schrieb im Jahr 1945 der Dich ter Reinhold Schneider unter dem unmittelbaren Eindruck des Zeitgeschehens im - ähnlich wie Dresden - noch in den letzten Kriegsmonaten im Bombenhagel untergegangenen Frei burg im Breisgau. Schneider, in den zwanziger Jahren eine Zeitlang Wahl-Dresdner, war als entschiedener Gegner des NS-Regimes aus christlichem Geist selbst einem Hochverrats prozeß vor dem Volksgerichtshof nur durch das - für ihn ! - gerade noch rechtzeitige Ende der Terrorherrschaft Hitlers entgangen. In seinen Werken hatte er zumeist den Wegen der europäischen Geschichte nachgespürt 2 ', und so hatte er auch jetzt gewiß nicht allein die »deutsche Katastrophe« vor Augen. Das Bild von Europa, das sich Schneider und seinen Zeitgenossen 1945 bot, soll im Folgenden in seinen Umrissen nachgezeichnet werden. 1. Das Kriegsende in Europa Die letzte Phase des Zweiten Weltkrieges auf dem europäischen Festland, die zeitlich in etwa mit der ersten Hälfte des Jahres 1945 zusammenfällt, war wesentlich geprägt durch die Eroberung des Deutschen Reiches durch die Streitkräfte der Anti-Hitler-Koalition, in der Hauptsache gestellt von der Sowjetunion, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika. 3 ' Von Osten trat die Rote Armee Mitte Januar 1945 zu ihrer letzten Winteroffensive an, die die deutschen Verteidigungslinien, dem örtlich zähen Widerstand zum Trotz, insgesamt rasch durchstieß. Ende Januar war die Oder bereits an mehreren Stellen von sowjetischen Truppen überschritten. Am 16. April begann der Vorstoß unmittelbar auf Berlin, das am 2. Mai, zwei Tage nach dem Selbstmord Hitlers, kapitulierte. Im Verlauf dieser Operation wurden auch Teile Sachsens erobert. 4 ' Die Westalliierten begannen ihren Großangriff auf das Reichsgebiet am 8. Februar 1945. Britische Verbände stießen nach Norddeutschland, amerikanische und französische Truppen