29 Die Befreiung des Ornaments aus der Beschränktheit einer historisierenden Kultur und sein spielerischer, mit der Funktion des Gegenstandes verschmelzender Einsatz war ein Fortschritt. Auf dieser zweiten Stufe der ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Pro zeß der Industrialisierung scheint die Lösung näher. Aber die zwischen Strenge und Be- schwingtheit pendelnde Gestaltung vollzieht den Bruch mit dem Historismus nur ober flächlich, sie bleibt der Tradition des Dekorierens verpflichtet. Um die Mitte der 90er Jahre ergab sich die eigentümliche Situation, daß die Wertschät zung des kunstlosen, alltäglichen Gebrauchsgegenstandes - in der deutschen Kunstgewer bebewegung schon länger vorbereitet - mit ästhetischen und programmatischen Vorstel lungen zusammentraf, die überraschenderweise aus dem Bereich der bildenden Kunst kamen. Die übergroße Mehrzahl der Vertreter dieser sich nunmehr rasch etablierenden neuen Richtung, wie van de Velde oder Riemerschmid, waren Maler, die zur Kunstgewer bebewegung stießen. Ein wichtiger Impuls zu dieser Stilwende wurde über die 1897 gegründete Wiener Sezession vermittelt. In der Nachfolge einer großen Ashbee- und Mackintosh-Ausstellung im November/Dezember 1900 gelang der geometrisierenden Richtung des Jugendstils in den Werken von Joseph Hoffmann, Joseph Maria Olbrich und Koloman Moser ein interna tionaler Durchbruch. Die vor allem von Hoffmann angestrebte Klarheit, Einfachheit und Orthogonalität der Raum- und Gegenstandsgestaltung wird unverzichtbar auch für die deutsche Reformbewegung und nimmt ihren Weg über München zu anderen Zentren der neuen Bewegung in Deutschland. In München wirkten in den 1898 gegründeten Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk neben Peter Behrens so bekannte Entwerfer wie Margarete v. Brauchitsch, Hermann Obrist, Bruno Paul, Richard Riemerschmid, Paul Schultze-Naumburg. Zwei der bedeutendsten Künstler, Bruno Paul und Richard Riemerschmid, verließen um die Jahrhundertwende München in Richtung Dresden. Die Residenzstadt Dresden war damals ein kultureller Anziehungspunkt erster Ordnung in Deutschland. Die Anwesen heit des Hofes über die Jahrhunderte hatte die Kultur- und Geisteshaltung der städti schen Bevölkerung nachhaltig geprägt. Dresden war deshalb auch bekannt für seine eigentümliche, aus privilegiertem, monarchistischem Traditionsbewußtsein gewachsene städtische Atmosphäre, die ein zum Konservativen tendierendes Wert- und Selbstbewußt sein seiner Bürger einschloß. Der industrielle Aufbruch im sächsischen Umland und der Stadt selbst ab 1860-70 hatte kaum Auswirkungen auf das traditionsgeprägte städtische Leben, die allgemeine Kultur, die Kunst und Gewerbekultur. Auch die 1876 von Carl Graff gegründete Königliche Kunstgewerbeschule und der von Carl Graff, Max Rade, Oskar Seyffert u. a. im gleichen Jahr gebildete Dresdener Kunstgewerbeverein verstanden sich stets als Vermittler und Ver breiter einer traditionsgefestigten Kultur des Handwerks. Der in Dresden mit Einzug von Wissenschaft und Industrie ab 1870 anwachsende gebil dete Mittelstand spürte bald die eng gesetzten Grenzen höfisch-konservativer Lebensweise. Er schuf sich sein kulturelles Refugium in Form zahlreicher Vereine, die die differenzier-