weit lieber solche Männer zur Macht empor, denen nichts zu vergeben ist. Briand ist der beste Redner Frankreichs, ist einer seiner klügsten Politiker. Diese Eigen schaften wären vollkommen genügend gewesen, um ihm eine glänzende staats- männische Karriere zu gewährleisten. Auf dem Wege zu den Ministerpalästen hätte er nicht nötig gehabt, bei irgendeiner Internationale einzukehren. Ich glaube, Briand hat vollkommen aufrichtig all das geglaubt, was er einstmals auf den Meetings vorgebracht hatte, geglaubt auch seine Theorie des General streiks. Ich meine, er hatte der Sache der Enterbten völlig ehrlich gedient. Man kann sich darüber wundern, daß ein Mann, der elfmal an der Spitze der Re gierung gestanden hat (ein Rekord in der Weltgeschichte) seinen Glauben und seine Illusionen allmählich verliert. Jedoch nichts Zynisches habe ich in seinem Leben finden können. * * * Vor etwa einem Vierteljahrhundert erschien der Schriftsteller Paul Acker zu einem Interview bei Briand, der gerade damals begann, bekannt zu werden. Ackers Bericht kann man nur schwer ohne ein Lächeln lesen. Er schildert Briand als einen finstern Fanatiker des Kollektivismus, einen begeisterten Prediger einer neuen Religionslehre. In entsprechenden Tönen war auch das Äußere des „Fana tikers“ beschrieben, seine winzige Zelle auf dem Montmartre mit dem Bilde streikender Arbeiter an der Wand. Einige Jahre später hatte man aufgehört, Briand als Fanatiker zu schildern. Aber fast das ganze linke Frankreich sah in ihm einen nach der Diktatur strebenden Ehrgeizigen. Aus einem Savonarola hatte er sich in einen Bonaparte verwandelt. Vielleicht noch amüsanter als die Aufsätze Ackers wirken heute die politischen Reden des Jahres 1910, in denen die Redner (Cruppis z. B.) mit prophetischer Stimme das französische Volk vor der herannahenden Polizei- und Militärdiktatur des verzweifelten und gefährlichen Mannes warnen. Briand war ebensowenig Diktator wie Fanatiker. „Die Treue zur Doktrin“, sagt Emerson, „ist der übliche Punkt der Geistes krankheit kleiner Leute.“ Man kann sich mit diesem sonderbaren Gedanken keineswegs einverstanden erklären. Man braucht aber auch nicht in das entgegen gesetzte Extrem zu fallen. Briand hat „vom Leben vieles gelernt“. Ob er seinen Unterricht gut angewandt hat, ist eine andere und sehr komplizierte Frage. Er ist augenscheinlich zu der Überzeugung gelangt, daß man in der Politik ein Meer nicht austrocknen, wohl aber unendlich viel zu Nutz und Frommen der Menschen tun kann: tun kann sowohl in der Opposition wie vom Regierungstisch aus, jedoch vom Regierungstisch aus weit eher als in der Opposition. Von diesem Gedankengang ausgehend, hat er zuzeiten anfechtbare persönliche Schlüsse gezogen. Talleyrand konnte mit vollem Recht sagen: „Alle politischen Regimes, denen ich gedient habe, haben von mir weit mehr erhalten, als sie mir gegeben haben.“ Briand hat nur dem republikanischen Regime gedient, jedoch in verschiedenen sozialen Gruppen — und jeder von ihnen hat er natürlich mehr gegeben, als er von ihnen erhalten hat. Seine Verdienste um Frankreich sind zweifellos bedeutend. Eine negative Seite seiner Tätigkeit liegt vielleicht darin, daß er wie viele 694