Begründet und fortgesetzt 15 Zgr. vierteljährlich. ^ L. Iakrgang. ^ Ouartal. Redigirt unter Verantwortlichkeit der Verlags-Erpeditivn. Niotto: Wem Neich -er Freiheit wcrb' ich Dürgcriuncn. dir. 24. Sonntag, pcn TE-. Juni. Die bar>»tker;ige Schwester. Aus dem Leben eines Pariser Arztes. Von Leopold Strauß. (Forsetzunq aus Nr. 23.) Als sichAmelie nahezu wieder erholt hatte, machte ich ihr einen Besuch. Sic brach bei meinem Anblick wieder in Weinen ans, sagte aber Nichts. Zch ehrte Viesen großen Schmer;, richtete keine Fragen an sie und suchte sie auch nicht zu trösten; sie wußte von ihren Gefährtinnen, daß das Unglück unverbesserlich war. daß der Hülssarzt, der sich für dieses Familiendrama so sehr interessirk, auch die irdischen Reste der armen, an der Brust der Tochter gestorbenen Mutter zur letzten Ruhestätte begleitet hatte. „O, wieviele Güte haben Sie mir erwiesen'." stammelte sie; ,,der liebe Gott allein kan» ihnen dieses Wohlwollen lohnen!" Ich drückte ihr mein Bedauern ans, daß mir nur menschliche Dienste und Hülse, nur menschliche Kräfte zu Geboten seien. „Ick weiß cS," erwiderte sie, „daß Sie ge- ihan haben, was nur in ihren Kräften stand; aber Sie haben mir mehr Freundschaft und Wohlwollen erwiesen, als in ihrer Pflicht stand. — Und Er," fuhr sie dann lebhaft fort, — „der Mann, welcher . . . mein Vater," setzte sie mit einiger Anstren- gung hinzu, „wo ist er hingekommen? Wissen Sic nicht, was auS ihm geworden ist ?" „Nein," enkgegneke ick, er entfernte sich so schnell und ungestüm, daß Niemand Zeit hatte, eine Frage an ihn zu richten!" „Ach, mein Herr!" fuhr Amelie fort, „wenn Sie wüßten wenn es einem Kinde erlaubt wäre, daS Leben, d. h. die Fehler der Urheber fei ner Tage zu erzählen! .... Dock nein! ruhe im Fri.den, arme Mutter! ich werde stille sein wie das Grab. Dort oben bist Du einst wieder rein ge worden und gut, rein wie wir, Deine Kinder, die Dich so sehr geliebt hatte»! — O Charles, Charles! wie glücklich bist Du, daß Du sie nun wieversiehst!" — Sie brach von Neuem in Weinen ans, und ich achtete ihr Schweigen, wie Sie wohl denken mögen, und tröstete sie so gut ich konnte. Ich gab ihr zu verstehen, daß sie noch andre PflichteII zu erfüllen habe, z. B. ihren Vater wie der aufzufinden, vielleicht zu beruhigen, und die Armen und Nothleidenden zu trösten und zu retten. „Sic haben Neckt," entgegnete mir das sanfte, engelgute Wesen, „ich bin es meinen Berufspflich- ten schuldig, daß ich mich ihnen erhalte, und ich werde m der Religion, die mir meine Mutter emprägte, die nölhige Kraft schöpfen, um die mir auferlegie Pflicht zu erfüllen!" Bon ihrer Mutter? fragte ich mich überrascht. In der That war Schwe ster Amelie schon wenige Tage nach diesem Be suche wieder in ihrem Amte, und dieselbe treue, eifrige und hingebende Pflegerin der Hülflosen, weiche die Kranken wie eine Mutter, wie eine Vorsehung begrüßten. Mehrere Monate vergingen, und jenes Erlebniß am Sterbebette von Amvlie's Mutter verlor in meiner Erinnerung bereits bedeutend an Lebhaftig keit, als ich von A lgi er aus einen schwarz gesiegel ten Brief empfing, welchen ich stets in meinem Taschcnbnche trage und mit dessen Inhalte ich Sie bekannt machen werde. Er rührte von einem Offizier der SpahiS her, und enthielt unter Ande rem auch die Bitte, der Schwester Amölie de Fouquel ein anliegendes Päckchen zu übergeben, 24