Nr.5S. Vornehme Frauen. Die Gräfin Karola von der Barr bestieg ihren Landauer, an dessen Schlage ehrerbietig der Diener mit abgezogenem Hute stand Der Kutscher empfing die Weisung, nach einer weit- entlegenen Vorstadtstraße zu fahren, einer Gegend, in der nur das elendeste Proletariat, die Hese der Halbwelt und lichtscheues Ver- brechergefindel seine Heimstätten und Schlupf winkel hatten. Er fand darin durchaus nichts Verwunderliches, denn die Gräfin war bei der gesaminten Dienerschaft als Pflegerin - uud Schützerill der ärmsten Armuth bÄannt. Die temperamentvolleil Rappen zogen auf eine leise Lockerung der Zügel an, und pfeil geschwind glitt die Equipage fast ohne Geräusch über das Asphaltpflaster der vornehmen Straße der Reichshaiiptstadt dahin. Die schöne Frau lehnte sich in die grün- seideuen Polster zurück und schaute mit dein Ausdruck drüben Nachdenkens vor sich hin, ohne ans die wechselnden Bilder der Umgebung zu achten, nur mit der Aufgabe beschäftigt» die sie übernommen, und zu deren Lösung sie jetzt ausfuhr. Sie war Mitglied des lediglich aus aristokratische» Damen bestehenden Vereins zur Rettung materiell oder moralisch hernnter- gekommener Frauen, und ,in dieser Eigenschaft hatte sie den Auftrag erhalten» ein« näher bezeichnte Person aufzusuchen, die nach einem abenteuerlichen, wechselvollen Leben in das aller- tiefste Elend versunken sein und jetzt schwer krank und völlig hilflos darniederliegen sollte. »Ja ja* — sprach di« Gräfin in ihrem Hinbrüte« zu sich, — „die unangenehmsten Komnnssionen fallen immer mir zu. Wenn eine recht verlotterte Peiso» die Aufmerksam- keit des Vereins erregt hat, zu der inan sörm- lich durch Schmutz und Unrath waten muß und obendrein bei dem LiebeSwerk noch in Lebens gefahr gerathen kann, da kann ich sicher sein, daß der ehrenvolle Auftrag mir ertheilt wird. Aber wenn «S gilt, der Frau Prinzessin als der hohe» Protektvrin beS Vereins Bericht zu erstatten, dann wird sich meiner gewiß keine PeUatt zum »Chemnitzer General-A»zetgcr" »nd zum .Sächsischen Laudbateu". Einzige eciunern. Ulld dabei begegne ich stets jener Liebenswürdigkeit, einem verbindliche» Beilehmen, daß ich niemals Veranlassung finden kann, mich gegen die Beschlüsse des Vereins anfzulchneir. O, diese „Geborenen" find so klug und so glatt wie die Schlangen, und ihr Gift wissen sic Einem in einer Art und Weise beiznbringen, daß man völlig wehrlos dagegen ist. Sir reichen mir die Hand: liebste Gräfin hin und liebste Gräfin her; sie »marinen Elch, sie küssen mich sogar zur Begrüßung und znm Abschiede, und doch suhl« ich jedes Mal ganz deutlich die Scheidewand, die mich nach ihrer Meinung von ihnen trennt. Gräfin Karola de Barr bleibt in ihren Augen doch immer nur die gewesene Karoline Burckhard, di» niedrige Chansonetteusäiigeria. An koi, de« Graf hat eben einen dummen Streich gemacht; daran läßt sich nichts mehr ändern; man uurß die Dehors wahren nnd seine legitime Gattin äußerlich anerkennen. Aber Seinesgleichen ist sie darum noch lange nicht, wenn auch nicht die Ahnung eines Schattens auf ihrer Ehre ruht. O, lieber Himmel, welch' ein elende» LooS, Gräfin zu heißen und doch nicht Gräfin zu sein!" „Schau, da fährt die Gräfin von der Barr," — sagte in diesem Augenblicke auf dem Trottoir eine junge Dame zu ihrer Begleiterin,«— „das ist eine beneideuswerthe Frau, schön, jung, reich und von aller Welt bewundert und angebetrt Sie gehört jetzt den höchsten Kreisen an und war doch früher eine simple Sängerin, -noch dazu ohne sonderliche Stimme. Glück und dw Liebe eines der vornehmsten Kavaliere haben sie emporgehohrn. Ach, wir arme Mädchen k" Der Wagen hielt auf der schmutzigen Bor stadtstraße vor einer sechsstöckigen Mi-thkasernr, in der, nach den auf dem Fahrdamm spie enden Kinderschaareu zu urlheilen, wohl fünf« bis sechshundert Menschen wohnen mochte». De» Diener öffnete, den Hut in der Hand, de» Schlag, an dem das gräfliche Wappen mit der neunzackigen Krone glänzte, und erhielt den