"j/i5 Nr. 6. Beiblatt zum „Chemnitzer General-Anzeiger" und zum „Sächsischen Landboten". 1899. Aneignung gesellschaftlicher Vorzüge. Schmücke Dich mit allen Vorzügen, die ohne Gründlichkeit nichts bedeuten, ohne die aber Gründlichkeit großentheils unnütz ist. Nimm einen Mann von sehr mittelmäßigem Wisse», anlockcnd, kurz, mit allen den kleinen Gaben geschmückt! Damit vergleiche einen anderen von gesundem Verstände und großer Gelehrsamkeit, aber ohne die angeführten Vor züge. Ersterer wird nicht nur Letzterem bei jeder Bestrebung den Rang ablaufen, sondern es wird gar keine Mitbewerbung unter ihnen staltfinden. Kann sich wohl Jeder solche Vorzüge er« werben? Ich sage ja, wenn er will, und wenn die Umstände ihm erlauben, gute Gesell schaften zu besuchen. Aufmerksamkeit, Erfahrung und Nachahmung werde» es unsehlbar zu Wege bringe». Wenn Du einem Mann begegnest, dessen erste Anrede Dich zu seinem Vortheile rin nimmt und Dir eine günstige Meinung von ihm beibringt, ohne daß Du weißt, warum, so zergliedere diese Anrede, untersuche die verschiedenen Theilc, ans denen sie besteht, Du wirst alsdann finden, Laß sie der Erfolg, die glückliche Vereinigung einer Bescheidenheit ohne Verlegenheit, Ehrerbietung ohne Schüchternheit, einer wohlanständigen aber ungezwungeneil Stellung des Leibes und der Glieder, eines offenen, heitere», nicht aber grinsenden Gesichts und einer zwar nicht nachlässigen, doch auch nicht geckenhasten Kleidnng ist. Ahme ihm also nach, nicht knechtisch, sondern so, wie einige der größte» Meister in der Malerei andere nachgeahmt haben, so daß ihre Nach bilder an Schönheit und Freiheit de» Urbildern gleich wurde». Wenn Dir ein Manu vorkommt, von den, man durchgängig einräumt, er zeichne sich als ein angenehmer, wohlerzogener Mensch aus, so sieh auf ihn, gieb sorgfältig auf ihn Acht, be merke, aus welche Art er sich an seine Oberen wendet, wie er mit Seinesgleichen lebt, sund wie er geringeren Leuten begegnet l Achte aus die Wendungen seines Gesprächs beim Morgen- bcsuche, der Mittagsmahlzeit und den Abend belustigniigen: Werde sein Nachbild, nicht aber sein Affe! Dn wirst finden, daß er Sorge trägt, nie etwas zu sagen oder zu thun, was als Ver nachlässigung oder Verachtung ausgelegt werden, oder auf irgend eine Art Anderer Eitelkeit oder Eigenliebe kränken kann. Vielmehr wirst Du sehen, daß die Leute Gefalle» an ihm haben, indem er es zuerst dahin bringt, daß sie Gefalle» an sich haben. Er äußert Ehr erbietung, Achtung, Hochschätzung und Auf merksamkeit da, wo immer es sich schickt. Er säet sorgfältig aus und erntet im Ueberflnsse. Diese liebenswürdige» Vorzüge lassen sich alle durch Uebung und Nachahmung erwerben. Denn was wir sind, sind wir mehr als halb durch Nachahmung. Die Hauptsache ist, gute Muster zu wählen und sorgfältig zu studiren. Die Menschen nehmen unbemerkt nicht nur die Mienen, die Sitten und Laster Derer an, die um sie sind, sondern auch ihre Tilgende» und sogar ihre Denkungsart. Das ist so wahr, daß ich Leute von ganz geringem Verstände gekannt habe, die einen gewissen Grad von Witz durch beständigen Um gang mit solche», die viel davon besaßen, er langten. Beharre dabei. Dich zur besten Gesellschaft zu Hallen, so wirst Du nnbemertt ihr ähnlich werde»; setzest Dn aber Auf merksamkeit und Beobachtung Hinz», so wirst Du gar bald einer ans ihrer Mitte werden. Diese Anpassung an die Gesellschaft zeigt Dir die Rothwcndigkcit, die beste zu besuchen »nt jede andere zu meide», denn aus seiner jeden wird an Dir etwas hängen bleiben. Die Lnlipomame. Unter allen zu», Thcil höchst seltsame» Manien, welche von Zeit zu Zeit die Mci'W» heit ergriffe» habe», ist wohl die TulipomanÄb welche im Anfänge des 17. Jahrhunderts ua-i gesähr ein Dutzend niederländischer StäM ergriff, eine der eigenartigsten gewesen.