Nr. 3- / Beiblatt zun, »Chemnitzer General-Anzeiger* and zum »Sächsischen Landbolen". 1899. „Keine Zeit!" Wen» wir vor einem Ameisenbau stehen und dem Gewimmel zusehen, wie die kleinen Erdarbeiter durcheinander hasten und laufen, wie da einer über den Abhang kollert, wie ein anderer in zu großer Eile unter der Last eines Zweigleins zusammenbricht; wie Alles den kürzeste» Weg sucht ohne Aast und ohne Ruhe — so bedenken wir vielleicht nicht, was für ein treffendes Spiegelbild des heutigen Menschengeschlechts so eine Aineiseukolonie ist. Der Ameifenleib enthalt zwar im Verhältnisse viel weniger Nerve», als der menschliche Körper und an Stelle des Gehirns befindet sich im Ameisenkopf nur ein kleines, winziges Nerven- knvtchen. Die Art der Thätigkeit aber, das wilde Jagen der Thierchen nach Erwerb, die Aufregung bei der Brutpflege, die maßlose Gereiztheit gegenüber allem Fremden u. dergl. könnten die Meinung, daß die Ameisen ein von allgemeiner Nervosität ergriffenes Volk seien, als nicht ganz ungerechtfertigt erscheinen lasscn. Ueber den vielen Pforten, die ins Innere des Bancs fuhren, ließe sich ganz gut als angemessene Aufschrift die Devise: „Keine Zeit!" denke». Es würde nicht minder der Situation entsprechen, als wenn über den Wohnungs- > nd Bnreauthürcn des modernen Menschen ebenfalls das Aviso zu lesen wäre: »Wegen Zeitmangels nie zu sprechen!" Denn „keine Zeit haben", das ist ein un trügliches Shmptom der heutigen Weltstimm- ung. Mit Erstaune» blättern wir in der Geschichte vergangener Tage, welche »ns zeigt, daß einst die Menschen mit merkwürdiger Ruhe und Gemnthlichtcii ihr Leben verbrachten und daß sie sich nur durch wirklich wichtige Dinge anfrcgcn ließe». Sind wir auch sonst keine Lvbredner der sogenannten »guten, alten Zeit", — in dem eine» Punkte der größeren Behaglichkeit, mit der die Leute ihr Leben genossen, blicke» wir' nicht ohne Reis auf unsere Altvvrderkn zurück, deren Haupttalent darin bestanden zu haben scheint, daß sie jederzeit das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheide» fähig waren. Wir Neuen dürften diese Unterschcidungsgabe verloren haben, denn dieses unruhige Milieu im mensch lichen Dasein erstreckt sich heute fast über die ganze zivilisirtc Welt! Weiß der Himmel, ob nicht der Indianer in den nordamrrikanischen Reservationen auch schon mit seiner Uhr nicht zufrieden ist, weil sie etwas zu spät geht. Es ist nämlich ein besonders charakteristisches Zeichen unserer Zeit, daß Jeder eine genau gehende Uhr verlangt. Und dies ist gegen wärtig sogar bei jedem Nichtsthner der Fallt In Nachahmung der Aufregung wirklich nach der Minute läendcr geschäftiger Menschen, rennt auch der Flaneur athemlos in den Uhr macherladen und jammert, daß feine Uhr, die er eigentlich nur braucht, um zu sehen, wie lange er täglich in der Badewanne sitzt, um einige Sekunden disserirt. Dem Manne, der Jahre nutzlos vergeudet, kommt es nun auf Sekunde» au. Aber abgesehen von solchen Existenzen — gicbt es etwas Vcklagsns- wertheres, als ein Geschlecht, welches mit der Uhr in der Hand sein Leben verbringt? „Dem Glücklichen schlügt keine Stunde" hieß es sonst! Heule hört mau die Sekunden schlagen! Die Zeit ist die Peitsche, unter der unsere Nerven fort und fort zusammcuzncken. Alle Ruhe ist hin, alle Behaglichkeit ver- schnun.'en! Die Höflichkeit des Verkehrs hat längst anfgehört, ihr freundliches Band um die Menschen zu schlingen; den» es hat ja Niemand mehr Zeit! Wer heute einem Besuch einen Sessel anweist und nicht schon nach fünf Minuten de» Chronometer aus der Tasche zieht — das ist gewiß ein Original, ein altväteris bcr Mann von Anno dazumal. Auch die Frau hat keine Zeit mehr. Sie hat ihre» Wochen- Jvur, an dem sie das Besnchskontingent er- erledigt, sonst ist sie ans Mangel au Zeit »nicht zu Hause". Ganz natürlich macht sie dies ihrem Manne nach, der Mittags ans de« Geschäft »ach Hanse läuft, im Vorzimmer Ucberrvck und Hut in die Hände des Dienst boten fallen läßt und mit den gemülhliche» Worten: »Ich muß gleich wieder fort" sich SNA