Kieme DoWrif/ Nr. 4./ Beiblatt zum „Chemnitzer Genernl-rrnzetger" und zum .Süchfifchen Landbo/en". / 1S9S. Die Schule der Erfahrung. Der große Mann geht seiner Zeit voraus. Der Kluge geht mit ihr auf alle» Wegen, Der Schlaukops beutete sie gehörig aus, Der Dummkopf stellt sich ihr entgegen. Baucrnseld. Wieder ist ein Jahr vorbei ri»d wir könne» ihm nur noch de» Abschiedsgruß zuwinken; wieder ist ein Tropfen der Zeit ins Meer der Ewigkeit versenkt, unwiederbringlich und un rettbar verloren für Den, der ihn nicht zu seinem Vortheile zu kosten verstand; wieder ist der Zeiger au der Weltenuhr um ein Stückchen unaufhaltsam weitcrgeriickt und die letzten zwölf Glockenschläge des scheidenden Jahre- tönte» mahnend an das Ohr des denkenden Mensche». Für ihn ist der Jahresschluß ein Meilenstein am Aege des Lebens, an dem er nicht acht los vorüber schreiten kann, den er als will kommenen Nuhepnnkt benutzt, um Alles, was das vergangene Jahr ihm an Leisen und Freuden, an Mühen und Arbeite», an Hinder nissen und Enttäuschungen gebracht hat, noch einmal im Geiste passim« zu lassen. Wie der rechnende Kaufmann wird er alles Dieses aus die „Soll"-Scite seines Lebensbuches schreiben und dann aus der „Haben"-Seite de» Gewinn berechnen. Leiden und Freuden, Mühen und Arbeiten sind ihn« ernste Mahnungen und vor treffliche Lehren, die Hindernisse und Ent täuschungen brachsten ihm reichliche Erfahrungen in der Schule des Lebens. Darnach wird er seinen eignen Werlh zu schätzen wissen und in dieser Selbsterlenntniß feind» Charakter zu bilden und zu veredeln trachten. Die'praktische Weisheit wird eben nur i« der Schul« der Erfahrung erlernt. Die Ideale und Illusionen, der Jugend zählen nicht. Erst wenn die Erfahrung hinzu kommt und Zweig auf Zweig unbarmHerzig knickt, dann seht auf Das, was Euch noch übrig geblieben. Aus dem Grund könnt Ihr getrost Häuser bauen und die Lüftschlösser ohne Bedauern hinter Euch lasten. Die Selbsterlenntniß ist daher, für Me uothwendlg, die ihre Aufgabe nrcht vollbringen- »lüchlen. Sie ist die erste Bedingung für die Gewinnung bestinnnter, persönlicher Ucber- zengung. Sie ist der rechte Weg zur Schule der Erfahrung, die einzig richtige Anleitung zur Erlernung der Geduld, Gewisseuhaftigkeit, Auf merksamkeit, Selbstbeherrschung, zur Stärkung des Pflichtgefühls, des Fleißes und der Aus dauer, der Zufriedenheit und Genügsamkeit. — Wer sich durch die Erfahrung belehren lasse» will, darf nicht zu hochinülhig dazu sein, Andere um Hülfe zu bitten, die guten Rathschläge eines Anderen anzuhörcn. Wer da glaubt, daß er zu klug sei, um von Anderen lernen zu können, wird nie etwas Großes oder Gutes ausführcn könne», weil ihm in eitler Selbst- sucht jede Befähigung dazu mangrlt. Wir müsse» Herz und Geist offen halten und UNS nie schämen, bei Denjenigen in di« Schule zu gehen, die Weiser und crsahrener find, als wir. Der Kluge schämt sich nicht mit der Wahrheit zu gehen, weil er Alles richtig zn beurtheilen versteht, was in de» Kreis seiner Beobachtung kommt und den Inhalt seines täglichen Lebens ausmacht, der Schlaukopf beutet die Erfahr ungen des Weisen gehörig auS zu seinem Vor theil, wohlwisscnd, daß die Erfahrungen sich nur im Lause des Leben- erzielen lassen und daß das Leben nur eine Frage der Zeit ist; nur der Dummkopf stellt sich ihr entgegen, i» träger Unwissenheit über schlechte Zeiten und ein mißliche- Schicksal klagend. Das Gold der Erfahrungen weiß er auf dem Wege de» Lebens nicht zu finden, weil die Unwissenheit und Unkenntniß seines Jchs ihn mit Blindheit geschlagen; noch weniger vermag er aus de« Erfahrungen seiner Mitmenschen Nutzen zu ziehen. Bei ihm ist lediglich da- Unglück schuld an seiner schlechten Lage, nicht die Energie- und Charakterlosigkeit, nicht die Selbst sucht und Unzufriedenheit. Was bei Andere« durch reiche Erfahrung, mühsame Arb:it und unermüdlichen Fleiß errungen wurde, betrachtet er durch die Brille des Neide» als maßlose« Glück, das dem Anderen schon in der Wieg« avs-tzütige Gabe des Schöpfers mit auf d«» Weg Uie» LKens gegrvrn wurde.