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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 22.07.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-07-22
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970722015
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897072201
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897072201
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-07
- Tag1897-07-22
- Monat1897-07
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Größere Schriften laut unserem PreiS- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffrrnsatz »ach höherem Tarij. . - Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen - Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbesöcderung X 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abeud-Au-gab«: Vormittag- 10 Uhr. Morge »-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein halbe Stunde frnher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von L P olz st« Leipzig 368. Donnerstag den 22. Juli 1897. 91. Jahrgang. Conservative und Lund der Landwirthe. DaS zweideutige Verhalten der Berliner Leitung deS Bundes der Landwirthe zur Reichstagsersatzwahl in West- priegnitz hat endlich die Langmüthigkeit der conservativen Parteileitung erschöpft. Sie hatte von der Bundesleitung weiter nichts verlangt, als daß sie sich klar darüber äußere, ob sie in diesem Wahlkreise, den bisher Herr v. PodbielSki vertrat, unter der Hand den angekündigten antisemitischen Einbruch unterstützen oder offen den conservativen Besitzstand erhalten wolle. Auch jetzt erfolgte noch kein klarer Bescheid; im Gegen- theile, neben nichtssagenden Versicherungen einer „freundschaft lichen Gesinnung" die schroffe Antwort: der Bund sei doch keine Commandite der conservativen Firma und stände doch auch nicht in Brod und Lohn bei den Conservativen. Die con servative Parteileitung hat richtig erkannt, wohin die Reise geht. Zahlreiche Blätter haben an der Hand der kürzlich erschienenen Betrachtungen eines alten Conservativen über das Wesen und Wirken des Bundes der Landwirthe bereits darauf hingewiesen, daß die Antisemiten eine ganze Anzahl konservativer Wahlkreise in Brandenburg bereits in Angriff genommen haben und daß in der Bundesleitung die Absicht besteht, nachdem man im conservativen Nest flügge geworden ist, eine eigene Politik zu treiben und vermittelst Verschmelzung der Bundesorganisation mit der „Deutschen Reformpartei" eine eigene „Agrar"- oder „Deutsch-Partei" zu begründen. Daß mit der Berufung des Abg. Or. Hahn an die Spitze des Bundesvirectoriuniö der Zug nach einer selbstständigen Bundes partei einen gewichtigen Vorschub erhalten, liegt auf der Hand. Bcmcrkenswertb ist zunächst, daß die Organe des Bundes diese Behauptungen aus der angeführten Schrift des „alten Conservativen" völlig mit Stillschweigen übergangen und weiter beharrlich geschwiegen haben, obwohl von vielen Seiten auf diese bündlerisch-antisemitische Cooperation hin gewiesen worden ist. Jedenfalls bat die Leitung der con servativen Partei die Situation richtig beurtheilt, wenn sie nun mit aller Entschiedenheit wie folgt auf Klarheit dringt: „Die conservative Partei hat nie und nirgends beansprucht, daß der Bund der Landwirthe ihre „Commandite" sein möge. Sie hat im Gegenthcil stets lebhaft gegen derartige gegnerische Unter stellungen protestirt. Ebenso wenig hat die conservative Partei jemals verlangt, der Bund solle ihre Schlachten schlagen: allein sie erhebt Len entschiedenen und unabweisbaren Anspruch, daß der Bund „in der Schlacht" sich nicht gegen sie stelle, daß er also im Interesse der landivirthschaftlichen Sache antisemitische Ein bruchsversuche nicht nur nicht begünstige, sondern unzwei deutig dagegen Stellung nehme. Wenn die „Correspondenz des Bundes der Landwirthe" also schreibt: „Wir stehen nicht in Lohn und Brod der Conservativen, aber auch nicht der Antisemiten, lassen uns überhaupt von keiner Partei ausschließlich in Be schlag nehmen" — so ist das nicht ganz richtig. In „Lohn und Brod" unserer Partei — wie geschmackvoll! — steht der Bund freilich nicht; aber unleugbar besteht der bei Weitem größte Theil der zur Bundescasse steuernden Mitglieder aus Conserva tiven, und diese berührt es eigenthümlich, daß die Bundespresse sich jedesmal scharf gegen unsere Partei wendet, wenn diese ihre berechtigten Ansprüche geltend macht, dagegen über die Aspirationen und Andrängelungrn der Antisemiten, die dem Bunde vermuthlich kein« nennenswerthe Mitgliederzahl zuführen, aber den Frieden in den Wahlkreisen stören, kein Wort verliert. Die conservativen Bundesmitglkeder werden das nicht länger gleich müthig hinnehmen dürfen, wenn sie nicht die Verantwortung für eine schwere Schädigung nicht nur unserer Partei, sondern auch der Sache der deutschen Landwirthe, mit auf sich nehmen wollen." Zu den conservativen Bundesmitgliedern gehört in erster Linie Herr v. Plötz, der ja der Vorsitzende des Bundes ist. Dieser ist aber bekanntlich mit seinem Freunde Or. Rösicke und dem Abgeordneten vr. Hahn inzwischen weiter gegangen und hat die Forderung einer sechsmonatigen Getreide grenzsperre ausgenommen. Wie in dem Bundesprvgramm, das vor sechs Wochen den Vertrauensmännern zuging und die Forderung stetig steigender Getreidepreise enthielt, ge schrieben stand, ergehen solche Forderungen apodiktisch, und alle Bundesangehörigen haben sich damit abzusinden, also auch der auS Conservativen bestehende „größte Theil der zur BundeScasse steuernden" Mitglieder. Wie peinlich diesen und der ganzen conservativen Partei die neue Bundesforderung ist, ergiebt sich aus den Auslassungen der conservativen Presse. Selbst die „Kreuzztg." vermag sich mit der Forderung nicht zu befreunden. Wenn man die Ausführungen dieses Blattes genauer be- trachtet, so findet man sogar, daß es, wenn auch in milden Ausdrücken, die den russichen Handelsvertrag betreffende Begründung des Antrages für illoyal erklärt. Der Antrag will aus der Bestimmung des Handelsvertrages, wonach außer aus gesundheitlichen und ähnlichen Rücksichten auch auS anderen schwerwiegenden Gründen ein Einfuhrverbot gegen gewisse Handelsartikel soll erlassen werden können, folgern, daß Rußland das Getreideeinfubrverbot sich werde gefallen lassen müssen, da die prekäre Lage der deutschen Landwirlh- schaft eben ein schwerwiegender Grund sei. Diese Motivirung nennt die „Kreuzztg." Jnterpretationskunst und meint, daß die Vertragschließenden nicht die Absicht gehabt hätten, sich Hinter- thüren offen zu lasse». Sie erkennt ganz zutreffend an, daß, wenn die Interpretation des Bundes der Landwirthe zutreffend wäre, der ganze Vertrag keine Bedeutung mehr haben würde. Die „Kreuzztg." lehnt also den Antrag durchaus ab, obwohl sie die Gelegenheit benutzt, für den Antrag Kanitz zu plaidire». Auch die freieonservative „Post" meint, daß der Antrag jeden falls dazu anregen müsse, Hilfsmittel für die Landwirthschaft zu finden; den Antrag selbst verwirft sie aus ähnlichen Gründen, wie die „Kreuzztg.", und hebt nur noch schärfer hervor, daß das Deutsche Reich unter allen Umständen sich den Ruf der Loyalität wahren müsse. DaS freieonservative Organ betont auch die Nothwendigkeit, die guten Beziehungen zu Rußland zu wahren. Der letztere Grund ist durchaus zutreffend. Wir sind keineswegs der Meinung, daß das deutsche Reich es nöthig hätte, um der Beziehungen zu Ruß land willen jemals eine Selbsterniedrigung zu begehen wir Frankreich. Aber Wohl muß eS darauf halten, nicht durch ein illoyale Handlungsweise gerechten Anlaß zu einer Ver schlechterung der Beziehungen zu den Nachbarstaaten zu geben. Diesen Anlaß würde das Reich nicht nur dann geben, wenn es ohne Verhandlungen mit Rußland direct das Einfuhr verbot erließe, sondern auch schon, wenn es, wie die „Kreuz- Zeitung" vorschlägt, mit Rußland darüber in Verhand lungen träte. Denn wenn man an einen Anderen ein un billiges Verlangen stellt, so erregt man schon dadurch be rechtigter Weise Verstimmung bei ihm. Da übrigens Vie „Kreuzztg." selbst Voraussicht, daß Verhandlungen dieser Art kein positives Ergebniß haben würden, so ist eS das Beste, daß sie gar nicht erst unternommen werden. Alles in Allem stellen sich also die conservativen Parteien dem Anträge gegnerisch gegenüber. Mag die Motivirung der Ablehnung auch durch Vorschläge anderer Art gemildert werden, so werden die Führer des Bundes der Landwirthe nach dem bekannten Goethe'schen Worte: „Der Andere hört von Allem nur das Nein" sich nur an dieses „Nein" hallen. Und dieses „Nein" wird ihnen um so schärfer in die Ohren gellen, da es zeitlich mit dem oben cilirten Ultimatum an Vie conservativen Bundesmitglieder zusammenfällt. Daß die BundcSleitung die Forderung, antisemitische Einbruchsversuche in conservativen Wahlkreisen bekämpfe» zu helfe», erfüllen und daS Verlangen nach einem Getreideeinfuhrverbote fallen lassen werde, ist kaum anzunehme». Dieses Verlangen ist nun einmal ausgesprochen und in aller Form dem Reichskanzler und dem preußischen Staatsministerium über mittelt worden, es wird also auch in den parlamentarischen Körperschaften zur Sprache gebracht werden müssen. Suchen die Conservativen das zu Hintertreiben, um einem offenen Conflicte mit der Bundesleitung auszuweichen und ibren eigenen Mitgliedern, die dem Bunde «»gehören, die Qual einer Wahl zu ersparen, so verschleppen sie nur eine Entscheidung, die ihnen in Zukunft doch nicht erspart bleiben wird, und verschlechtern ihre Position. Je gewichtiger die Gründe sind, die sie und alle anderen Parteien sammt der Negierung gegen den Sperrantrag geltend zu machen haben, um so günstiger ist für sie die Gelegenheit, durch Aufnahme des Kampfes ihre Selbstständigkeit zu wahren. Deutsches Reich« Berlin, 21. Juli. Am Donnerstag tritt daS Herren haus wieder zusammen, um die verfassungsmäßig vor geschriebene zweite Abstimmung über seine Beschlüsse in Sachen der Vereinsgesetznovelle vorzunehmen; auf den Freitag ist daS Abgeordnetenhaus einberusen, um am Sonn abend seinerseits über die Herrenhausarbeit zu entscheiden. Die conservative Parteileitung macht bereits bekannt, daß angesichts der Lage der Dinge für die bevorstehende Ab stimmung unter keinen Umständen Abpaarungen zwischen Freunden und Gegnern des Gesetzes statlfinden dürfen. Wir sind in der angenehmen Lage, nicht erst versichern zu brauchen, daß die nationalliberale Fraktion zur Stelle sein wird, um ihr entscheidendes Votum so in die Wagschale zu werfen, wie sie eS vor einem Monat als ihr einmüthigeS Votum durch ihren autorisirten Vertreter kundgegeben hat. Die bekannten Versuche der letzten Wochen, welche bis zur un verblümten Aufforderung der Trennung von der Partei gingen, nach dem die Hoffnung, durch Druck von außen die Vertreter der industriellen Bezirke zu einer Abstimmung gegen ihre Ueber- zeugung zu drängen, sich als eitel erwiesen, haben cs gewisser maßen Allen zur Ehrenpflicht gemacht, zur Stelle zu sein und ihren Standpunct zu vertreten. Schon bei der erst maligen Schlußabstimmung im Abgeordnetenhaus ist diese Empfindung bethätigt worden, als Mitglieder der Fraction, die einer dringend nothwendigen Cur sich unterziehen mußten, eine Unterbrechung derselben und eine unbequeme Tagereise nicht gescheut haben, um ihrer Ueberzeugung Ausdruck zu geben. Aus Hannover ist die Nachricht gekommen, daß dein Abg. Senator Wallb recht soeben ein bedauerlicher Unfall zugestoßen ist. Er stürzte auf seinem Gute mit dem Pferd und brach dabei daS linke Schlüsselbein. Trotzdem hat er den Entschluß gefaßt, am Sonnabend im Abgeordnetenhause anwesend zu sein, um gegen die Herrenhausfassnng des Vereinsgesetzes zu stimmen. Die gesammte Partei wird Herrn Wallbrecht Tank für diese Haltung wissen. 0. AI. Berlin, 2l. Juli. Der „Erste internationale Advocaten-Congreß" wird am 1. August d. I. in Brüssel eröffnet werden. Das Zustandekommen desselben ist der Initiative der „Vereinigung belgischer Advocaten" (b'eck^ration ckes ^.voeats Lolgog) zu verdanken. Für den Congreß sind die umfassendsten Vorbereitungen getroffen worden. Aus jedem Nechlsgebiete sind gedruckte Vorarbeiten über die auf die Advocatur bezüglichen gesetzlichen Bestimmungen eingegangen, in welchen zugleich die aus der Tagesordnung ersichtlichen hochwichtigen Fragen cle le^s kvrouck» und cko lego lata beantwortet werden. Von besonderer Wichtigkeit erscheint dabei Punct 5 der Tagesordnung: „Internationale Beziehungen der Barreaus und derAdvocaten miteinander." ».Her stellung einer dauernden, internationalen Organi sation, sowohl unter den ofsiciellen Vertretungskörpern der Barreaus ter verschiedenen Staaten, als auch unter den einzelnen Mitgliedern (freie Vereinigungen). l>. Gegen stand dieser Organisation: Mittheilungen über die ausländischen Gesetzgebungen bei Processen vor den ein heimischen Gerichten; Benennung von Advocaten im Auslaute, je nach der Besonderheit und dem Fache; Congresse und Vereinigungen von Advocaten; gegenseitige Gastfreundschaft, c. Organisation eines internationalen RcchtsbeistandeS für Arme, welche in fremden Ländern Processe führen (Inter nationales Armenrecht), cl. Gelegentliche Zulassung aus wärtiger Advocaten zur Fürsprecherschaft vor Gericht in anderen Ländern. — „Welches sind die hierfür festzusctzenden Bedingungen?" e. Prüfung der im Hinblick auf eine künftige Tagung des Congresses zu treffenden Maßnahmen. — Andere Gegenstände der Tagesordnung beziehen sich auf die freie Association im Advocalenstande, Fürsorge für entlassene Sträflinge und Landstreicher und die zwischen diesen Einrichtungen und der Advocatur herzustellenden Be ziehungen, sodann auf die Ausbildung der Advocaten. „Worauf müssen sich die Examina beziehen? Sollen sie nur die eigentliche juristische Fachwissenschaft umfassen, oder sich auch auf die Philosophie, Naturwissenschaft, Sociologie, Anthropologie, Physiologie, Literatnr und Rhetorik erstrecken? Wie viele Jahre muß man hierfür sestsetzen? Wie soll die praktische Ausbildung organisirt sein und wie lange soll sie dauern? — Welche Erfolge kann man davon erhoffen :c.?" Die Gäste werden am Sonntag, den l. August, im Justiz palast durch die Vereinigung der belgischen Advocaten unv eine Abordnung des Appellationsgerichts empfangen werden. TagS daraus beginnen die Sitzungen und werden bis zum Donnerstag, den 5. August, dauern; sie werden im Sitzungs- Feuilleton. Der erste Ferientag. Skizze von Georg Hiller. Gleich nach den Psingstferien fängt die Beschäftigung mit den großen Ferien an. Beschäftigung ist eigentlich nicht daS richtige Wort für das Gemengsel von Erwartung, Freude, Hoffnung, Sehnsucht, Bangen, Ungeduld, aber ich finde kein anderes, denn das Sinnen und Trachten nicht nur der Kinder concentrirt sich im Geheimen oder offen auf die schöne Zeit des Nichtstbuns während langer vier Wochen, auf die Zeit, wo alle die Pläne in Erfüllung gehen sollen, die im Winter geschmiedet worden sind. Fast jeden Tag werden die Tage bis zum schönsten Freitag deS Jahres gezählt und jeden Abend wird mit größten: Behagen der vollbrachte Tag im Kalender auSgestrichen. Ob dabei auch daS Tage werk vollbracht worden ist? wer kann das wissen. Der Eifer des Lernens sinkt desto tiefer, je näher der Tag heran rückt, an dem das erwartete Wort gesprochen wird: „Lebt wohl, Kinder, Montag über vier Wochen kommt gesund und munter wieder!" Und nun ist der große Tag gekommen. Zu Hause steht Alles gepackt. Seife, Kamm und Bürste sind nur noch in einem Exemplar vertreten, alle übrigen sind längst ein gepackt. Schlafschube und sonstige Bequemlichkeiten giebt r» nickt mehr, sie birgt der große Koffer oder Reisekorb, der mitten in der Stube steht und von dessen unscheinbarem Aeußeren eine magische Gewalt auSzugehen scheint, der unsichtbar alles regiert und der so sckeu betrachtet wird. Nicht daS Ding an sich ist eö, waö wir auf unS einwirken lassen, sondern da», wa- wir von unserem Geiste erst hinein- tbun ist cS, das uns in seiner Widerstrahlung so eigen- thümlick, fast sympathisch berührt. Es ist der alte Götzen glaube, der in un» wach wird und wie sich der Südsee insulaner seinen Fetisch schnitzt und dann anbetend vor ihm niederkniet, so packt der moderne Eulturmensch seinen Reisekorb und behütet und bewahrt ihn und sorgt sich um ihn Tag und Nacht. Alle- dreht sich um den Korb, um den Koffer. Die liebliche Unordnung, die sonst in der Kinder stube früh herrschte, ist einer peinlichen Ordnung gewichen. Keine überflüssigen Kleider, keine nick^ gebrauchten Hosen und Stiefeln liegen herum, kahl sind die Stühle, kahl di« Kleider rechen, di« Schränk« sind verschlossen und an» ihnen kommt ein Dust von Moschu», Kampfer und Naphtalin. Man erzählt sich sogar, baß manchmal selbst beim Kaffee- trinken früh morgens die Familie sich mit einigen alten Taffen begnügt, weil die besseren AlltagStassen wohl verpackt mit auf» Land wandern. Alle Reste werden aufgegefsen. Sorgfältig wird die Butter auf große Bemmen geschmiert, Wurst- und Käsezipfel dazu gethan, damit ganz gewiß die Kinderchen keinen Hunger leiden, während die übliche, schon längst eingekaufte Schlack- oder Cervelatwurst auS Mutters Handtasche verführerisch heraus guckt. Endlich sind die Kinder zum Tempel hinaus. Der Unterricht, ick will keinem Lehrer zu nahe treten, ist von der Nähe de» feierlichen Moment» doch berührt. Es fleckt nicht recht und auf der schwarzen Wandtafel malen sich an Stelle der Zahlen und Formeln Berge und Wälder und Seen und Gletscher und eine 4 macht ganz den Eindruck eines Weißen Segelboots, das sich im fernen Horizont nach der Küste zu verliert, die 7 erscheint wie ein Bergstock und die lustige 2 hat eine eigenthümliche Aehn- lichkeit mit einer Locomotive. Auch die Buchstaben tanzen ihren Reigen und daS K erinnert an die zackigen Felsen der Schweiz, während das M uns in die Dolomiten versetzt. Ja, ja die dumme Phantasie, sie spielt uns die schlimmsten Streiche und gerade dann, wenn wir alles Andere als sie brauchen können. Da endlich klingelt es, der große Moment ist gekommen. Man drückt sich die Hände, angehende Backfische küssen sich, jeder ist mit sich selbst be schäftigt, ihn kümmert der Andere nicht mehr. „Na Kinder lebt Wohl, schreibt mir einmal und macht Euch Notizen, damit Ihr eine gute deutsche Arbeit über die Ferien machen könnt." Im letzten Augenblick die Erinnerung an eine deutsche Arbeit — wie vielen ist sie wohl angenehm? Alles strömt nach Hause. Zu essen giebt es heute nichts. Schon steht die Droschke vor der Thür, der Vater ist zu geizig mit der Zeit, die Ferien sollen ausgenutzt werden wie noch nie. Keine Minute länger in der Stadt! Endlich sind sie alle beisammen — da» Dampfroß fährt und Kinderstimmen klingen. Aber so manche Kinder sehen der Droschke niedergedrückt nach. In engen Kreis geschaart um daS stolze Thier und den noch stolzeren Wagen, batten sie der Verstauung der Koffer beigewobnt, waren sie Zeuge gewesen, wie der Vater ihres Kameraden nochmals zu den Fenstern hinausblickte, ob auch alle Läden herabgelaffen sind, wie sich ihre besten Freunde heute gar nicht groß um sie bekümmern, wie sie sich etwa» „affig" in dem Wagen breitmachen. Dann haben sie die Koffer gezählt, haben da» hervorgestoßene Wort .... er Bahnhoff gehört und fort war der Wagen gehumpelt. Der andere Tag! Der erste Tag der Ferien! Wenn die Schienen und Räder ganz glatt wären, würden die Räder nickt auf den Schienen laufen, eS fehlte die Reibung, die vorwärts bringt; wenn auf den Fortschritt keine Reaction folgte, würde bald kein Fortschritt mehr sein, denn wer könnte von ihm reden, wenn sein Gradmesser, die Reaction, fehlte? So kommt denn die Reaction mit Naturnothwendigkeit und sie kommt auch in den Frrien. Der Gipfelpunkt drr Er wartung ist überschritten, jetzt kommt die Erschlaffung. Nach stundenlanger Fahrt sind sie müde und abgespannt, ver schwitzt und verschmutzt endlich in dem weltverlorenen Neste, das man Sommerfrische nennt, angekommen. Das erste, was man macht, ist, die Fenster der kleinen, dunstigen, schwülen Zimmer zu öffnen. Dann würgt man ein wenig Abendbrot) hinunter, erkundigt sich angelegentlich, wann und wo die Sonne aufgeht und wirft sich in die Belten. Hat man seine eigenen, so bleiben sie noch in den Säcken, da muß die Matratze oder der Strobsack genügen. Nun senken sich die Schatten der Nacht hernieder. Kein Wagen raffelt Lurch die Stadt, kein Rufen unv Schreien wie in der Großstadt, kein Klingeln der elektrischen Bahn und kein Gegröhle bier seliger Schwärmer, aber auch kein Vogelgesang — denn Jacobi ist nahe. Nickt einmal der Hund bellt, denn der ist schon auf sämmtliche Sommerfrischler des Städtchens dressirt. Alles schläft. Da plötzlich wirft sich Fritz, der Kleinste, der bei dem Papa schläft, herum, er stöhnt, plötzlich bricht er in ein Winseln aus. Schlaftrunken reibt sich Papa die Augen. „WaS hast Du, Fritz?" „Durst, Papa, Durst!" Mechanisch greift der Vater nach der Seile, er faßt fest zu, er weiß, hier auf dem Tischchen zur Rechten muß die Wasserflasche stehen. Aber er greift in die Luft. Keine Flasche, auch kein Tisch. Ach so, er ist ja nicht zu Hause. Er sieht sich um, kein Wasser, keine Flasche, nicht einmal eine leere; auch im Krug für daS Waschbecken ist kein Tropfen. Soll er aufstehcn. Wer weiß denn gleich, wo der Brunnen ist, ob das HanS nicht ver schlossen ist. Was thun? Er verspricht für morgen seinem Liebling Fritz einen ganzen See von frischem Wasser, eine Quelle allein für ihn, und das arme kleine Kerlchen schläft wieder rin. Auch der Vater drusclt wieder. Nach kurzer Zeit hört man im Nebenzimmer einen Stoß gegen die Belt pfosten, dann noch einen. Hier schlafen die beiden großen Mädchen mit dem Dienstmädchen. Plötzlich schreit eine unterdrückte Stimme „Laß mich gehn", „Ja Du trittst mich immer", „Ich weiß, Du blst'S", „Paß auf, ich gebe Dir einen Patsch", „Thue eS und ich rufe". Man merkt, es zieht ein Kampf herauf, wie er unter Geschwistern so „selten" vor kommt. Da wird der Vater wieder munter. Mit gewaltiger Stimme donnert er hinüber „Ruhe!" Nun ist's im Neben zimmer still, aber besorgt richtet sich die Mutter schnell auf „Was ist denn los?" „Nichts, schlaf nur!" Die müden Augen fallen wieder zu. Alles schläft. Unv als am Morgen die gegen da» Fenster glitschenden Regentropfen einen nach dem andern wecken, al« der Vater nach der Uhr blickt und verzweifelt die neunte Stunde verkündet, da hält e» Niemanden mehr. RauS, Alle 'raus. „Minna, schnell Waschwasser", „wo ist denn mein Kamm?" „Wo sind meine Hausschuhe, Frau?" „Mein Schuhsenkel ist zrrrissrn." „Wo hast Du die Bürste hingethan?" „Ich hatt« dock ein Paar frische Strümpfe oben aufgelegt." „DaS Koffer schloß geht nicht auf." „Herrgott, wie ist daS Kleid zerknittert." „Mama, meine Kaffeetasse ist entzwei." „Na, kriegt man denn heute gar keine Stiefeln, Minna?" „Gottbewahre Junge, den guten Anzug heute nicht!" „Waö die neuen Haarbänder ? Heute zum Sonnabend!" „Mama, ich will Kaffee." „Das Brötchen ist auch nicht frisch." Ja, Du hast mich zuerst geschuppt!" „DaS Wetter fängt gut an." „Natürlich die Nähnadeln habt Ihr nicht cingepackt, ich habe es Euch großen Mädckcn doch gesagt." „Weggehen können wir nicht, macht heute Schularbeiten!" „Ich bitte Dick, Mann, die armen Kinder, heute zum ersten Tage sollen sie schon wieder arbeiten?" „Dann mackl nichts! Laßt mich nur zufrieden. Sv ein dummer Regen!" „Junge, was zerschmeißt Du denn da?" „Die Commvde hat ja kein Schloß." „Kann ich den Rest Wurst essen?" „Nun macht aber, daß Ihr fertig werdet!" „Aber Mann, wir können doch nicht hexen, wir können ja auch nicht fortgehen." Die Mutter sagt -, geschäftig wie immer, denn sie organisirt jetzt. „Mann, Du stehst Einem auch immer im Wege!" „Ja, Papa, den einzigen freien Stuhl hast Du, und ich möchte mir gern einen Knops annähen." „So, dann bin ich wobl hier überflüssig?" „Auf zwei Stunden, bis zu Mittag, liebes Männchen." Und er geht. Im Gasthof hört man ein freudiges Klopsen, ein frisches Faß wird angezapst. Hei, wie das braune Bier schmeckt — der erste Frühschoppen an einem Wochentage, seit vorigem Jahre! Ach — die Ferien sind doch schön! Dann bellt sich das Wetter auf. Die Mutter ist mit AuSpacken fertig. Die Knöpfe sind angenäbt, der Anzug FritzenS rum ersten Mal mit Benzin gereinigt (es kommt in den Ferien 28 mal vor), der Tisch gedeckt. Das unvermeidliche „deutsche Beefsteak" — auch kürzer „gehacktes" genannt — ist gegessen. Die Sonne scheint. Die Regentropfen glitzern au den Blumen, an den Blättern. Froh bewegt, tief- aufatbmend, friedvoll und zufrieden gestimmt schreitet Vie Familie den, Walde zu! Dem Walde, dem herrlichen Walde... und dem ländlichen Nachmittagskaffee im nahen Forstbause! Und die, die in der Stadt geblieben sind? Die Nacht vergeht in süßem Schlummer. Kein Wecker ist gestellt. Der Bäckerjunge klingelt vergebens, die Milchfrau klingelt, Nie mand öffnet. Bis gestern ist man der Kinder wegen um '/-><> Uhr aufgestanden, auch hier ist Reaction. Man schläft und sckläsl. Endlich wackt der Vater auf. Schon acht Uhr! Ich muß ins Geschäft. Und die Angst beflügelt den eilenden Schritt. Nichtig, der Cbef ist sckwn da. Ein Tag wie alle, dieselbe Tretmühle! „Wohl verschlafen?" „Ja — heute war Ferienanfang." Und er setzt sich hin an seine Arbeit.
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