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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.04.1901
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1901-04-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19010429025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1901042902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1901042902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1901
- Monat1901-04
- Tag1901-04-29
- Monat1901-04
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Loc.-Anz." aus Peking noch Folgendes: „Während der blutigen Kämpfe um Tientsin im Sommer vorigen Jahres mußten naturgemäß die vor dem Feinde Gefallenen sofort in dem jedesmaligen Gefechts-Gelände beerdigt werden. So auch die des deutschen Detachements, welches sich bekanntlich bei jenen Kämpfen unverwelklichen Lorbeer errungen, aber auch «inen Gc- sammtvcrlust von 2 Officieren und 21 Mann zu beklagen hatte. Der Umstand nun, daß die einzelnen Gefechtsfelder (am Ost arsenal, Hsiku-Fort, Taku-Thor u. s. w.) — und somit auch die Gruppen der Gräber ziemlich weit auseinander lagen, be einträchtigte bisher sehr stark die nöthige Beaufsichtigung undPflege dieser Grabstätten. Dem mußte abgeholfen werden, und jüngst ist das nun auch geschehen! Am 14. März wurden die sterb lichen Ucberreste unserer Gefallenen von ihren weit draußen ge legenen Begräbnißplätzen mit militärischen Ehren auf den großen Friedhof nach Tientsin übergefü'hrt und dort feierkichst zur ewigen Ruh« bestattet. Die namentliche Liste derselben lassen wir hier folgen. Bon der Marine sind es: Der Corvetten-Capitän Buch holz, der Feuerwerksmaat Tschöpr, der Obermatrose Zimmer mann und die Matrosen Goedecke, Rieck, Visier, Feddermann, Herbst, Boding, Lansten, Offermann, Herkenrath, Wojak und Grafe. Vom 3. Seebataillon: Der Leutnant Friedrich, der Sergeant Popp und die SeesolDaten Klier, Dehnert, Stegmeier Ludwig Wißmeier, Nitsch und Schmitz. — Friede ihrer Asche! Neue Wetterwolken. Der Specialcorrespondent der „Morning-Post" sendet unter dem 28. April seinem Blatte von Shanghai die folgende alar- mirende Nachricht, die ganz geeignet ist, die seit einigest Wochen von den Europäern in den chinesischen Küstenstädten gehegten schweren Befürchtungen zu bestätigen, und ihnen neue Nahrung zu geben. Der gewöhnlich gut unterrichtete und durchaus nicht als sensationslustig bekannte Berichterstatter (Mr. H. I. Whig- man) kabelt wie folgt: „Ich habe fbebcn einige wichtige Informationen erhalten, die wahrscheinlich von großer Bedeutung sein werden. Mein Ge währsmann gab mir die bestimmte Erklärung, daß alle die un zufriedenen Elemente in den Uangtse-Provinzen, ein- schließlich der als Ko-lao-hwiei bekannten Organisation der so genannten Reformer, der Salz-Schmuggler und der aufgelösten chinesischen regulären Truppen sich zusammengethan haben, um im Monat Mai oder Juni einen allgemeinen Auf st and in Scene zu sehen. Die aufrührerische Bewegung soll mit dem Niederbrennen der sämltlichen Kirchen und Capellen der aus ländischen Missionen im Dangtsethal und den angrenzenden Districten ihren Anfang nehmen, und wenn auch das Grund motiv der Anführer in ihrer revolutionären und reformdurstigen Gesinnung zu suchen ist, so herrscht in den großen Massen ihrer Anhänger natürlich nur der Drang nach Mord und Plünderung vor, der natürlich von den Leitern der Bewegung in entsprechen der Weise gefördert und für ihre Zwecke ausgenlltzt wird. Mein Gewährsmann hat mich ganz besonders darauf aufmerksam ge macht, daß die französischen Kirchen und Missionsanstalten in den Aangtse-Provinzen weit zahlreicher sind, als diejenigen der Engländer und Amerikaner, und daß es daher alle Wahrschein lichkeit für sich hat, daß die Franzosen Veranlassung nehmen werden, als Vorbeugungsmittel sich des Arsenals von Kiang- Nan und der verschiedenen benachbarten Pulvermühlen zu bemächtigen, während die britischen Behörden, dir bislang an neue Unruhen nicht glauben wollten, sogar ihre Garnisonen durch Zurückziehung der Sikhs-Infanterie und der Artillerie bedeutend geschwächt haben." Eine Bestätigung dieser schlimmen Befürchtungen bleibt natürlich abzuwarten. Der Krieg in Südafrika. Man schreibt iznS aus London unter dem 27. April: Ueber die angeblich neu aufgenommenen Aric-rnsvcrhandlungkn liegen heute absolut keine Nachrichten vor, und auch in einer Kitchener'schen Depesche, die wieder einmal triumphirend auf- summirt, wieviel Boeren-„Gefangene" von den verschiedenen Farmen zusammengetrieben worden sind, wieviel Gewehre und Patronen die Truppen erbeutet haben, wird natürlich kein Wort davon erwähnt, daß dec britische Obercommandirenve be absichtigt, mit den Boerengeneralen noch in dieser Woche zu conferiren. In hiesigen eingeweihten Kreisen glaubt man jetzt definitiv an erneute Verhandlungen, und bringt dieselben mit immer größerer Entschiedenheit mit der „Beurlaubung Sir Al fred Milner's" in Verbindung, dessen Rückkehr nach Südafrika unter kernen Umständen in Aussicht stehen soll, so lange nicht ein officieller Friede mit den Boeren geschlossen worden ist. Man scheint auf englischer Seite den Boeren noch in anderer Hinsicht entgegen zu kommen, denn heute trifft die Prioatmeldung von Pretoria ein, daß der famose Generalmajor Batzen-Powcll, der Held von Mafeking, der jetzt als 'Generaliwspeckeur der neuen berittenen Polizei die beiden Boerenstcraten gründlich „pacificiren" sollte, diesen gut bezahlten Posten aufgeben und nach England zurückkehren wird, bevor er noch sein wichtiges Amt überhaupt praktisch ausüben tonnte. Baden--Powell ist nach Rhodes und Milncr der bestgehaßte Mann bei den Boeren, weil er sie stets mit der typischen britischen Ueberlcgenheit und Unverschämtheit be handelt, und nock> während der Belagerung von Mafeking jene unsäglich protzigen und albernen „Proklamationen* und Br!«', an die Boerencommandanten sandte, die ihm unter den braven Transoaalern und Freistaatlern den zweifelhaften Ehrennamen ,)d«r komische Clown" einbrachten. Dieser Mann an der Spitze der Landespolizei wäre den Boeren unter allen Umständen stets ein Dorn im Auge gewesen, und Gemralcommansant Botha wird bei seiner derzeitigen Unterredung mit Kitchener keinen An stand genommen haben, hierauf hinzuweisen. So geht denn auch Gcneral-Baden-Pcwell in „Urlaub", und wird in seiner Ab wesenheit durch den Generalmajor Sir W. Nicholson ersetzt werden. Wie gering übrigens in Wirklichkeit auch an höchster Stelle das Verdienst des Herrn Baden-Powell mit Bezug auf seine „glorreiche Dcrtheidigung von Mafeking" angeschlagen wird, geht daraus hervor, daß er in der vor wenigen Tagen veröffentlichten Liste von verdienten Militärs, die König Eduard durch Beförde rung, Dekoration u. s. w. ehren wollte, gänzlich fehlte. Im Publicum ist man hierüber geradezu bis zur Erbitterung ent täuscht, da man für diesen VolkShelden zum Mindesten den Adels titel oder einen hohen Orden erwartet hätte. So aber bleibt es einfach bei der nach Aufhebung der Belagerung «rfolgten Be förderung des Obersten zum Generalmajor. * Loutzou, 29. April. (Telegramm.) Nach einer Blätter meldung au- Lapstadt überraschten 400 (?) Boeren eine 25 (?) Mann starke Abtheilung Colonialtruppen 15 Meilen von Kronstadt. Die 25 Mann leisteten den Boeren acht Stunden lang einen hartnäckigen Widerstand, wobei 14 Boeren ge- tödtet (?) und mehrere verwundet wurden. Nach Erschöpfung der Munition ergaben sich die Colonialleute den Boeren, die sie nach ihrer Entwaffnung wieder in Freiheit setzten. * London, 29. April. (Telegramm.) Die Blätter melde» aus Pretoria vom 26. April: Die Boeren brachten gestern eine» nach Süden gehenden Lazarethzug mit kranken Soldaten zum Entgleisen. Einige Kranke wurden verletzt. Ein anderer Zug mit Pferde» wurde nahe bei Springfontein in die Luft gesprengt und eine Anzahl Pserde getödtet. * Lontzon, 29. April. (Telegramm.) Da» „Reuter'sche Bureau" berichtet aus Fort Drichoek vom 24. April: Unter den von einer Anzahl Mannschasten des Oberst Plumer gemachten Ge- sangenen befindet sich der frühere StaatSminen-Jngenieur Munik, sowie sein Vater, der frühere Landdrost von Pietersburg und Bockburg. Tie Pest * Capftavt, 28. April. (Reuter.) In deu letzten 48 Stunde» sind I« Personen an der Pest erkrankt; darunter sind 8 Europäer. Im Ganzen sind bis jetzt 51V Pestsällc vorgekommen, davon 217 mit tödtlichciu AnSgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 29. April. Die Ruhepause, die der Reichstag nothgedrungen hat ein treten lassen, wird von einem Theile der Presse dazu be nützt, Srisengernchtc zu verbreiten und zu erörtern. DaS Signal dazu hat ein Mitarbeiter der „Hamb. Nachr." durch folgende Auslassung gegeben: „Seit einigen Tagen sind Gerüchte von bevorstehenden Der. änderungen in der Zusammensetzung de- preußischen Staats« Ministeriums verbreitet. Es heißt, der preußische Finanzminister vr. v. Miquel und der Landwirthschaftsminister Freiherr Hammrrstrin würden ,iu Kurzem sich zurückziehen. Obwohl bei Beiden daS Alter und das körperliche Befinden hinreichende Erklärungsgründe für ihre Rücktrittswünsche sein dürsten, werden natürlich im Hinblick auf die augenblick liche kritische Lage, welche wir ohne Zweifel im Innern durchmachen und an welcher gerade diese beiden Minister in erster Reihe lebhaft interessirt sind, diese rein persönlichen Beweggründe kaum Glauben in der Oeffentlichkeit finden. Herr v. Miquel hat übrigens schon seit langer Zeit kein Hehl daraus gemacht, daß er den Zeiipunct für seinen Rücktritt als gekommen erachten müsse und daß er nur noch an dem Zustandekommen de- Canals mitwirken wolle. Bei Herrn von Hammerstein sollen sich in letzter Zeit Gehörbeschwerden eingestellt haben, welche ihn hindern, dem Gange der Verhandlungen im Parlamente mit derjenigen Schärfe zu folgen, welche sowohl ihm al- den Parlamentariern Wünschenswerth erscheinen muß. Natürlich begnügt sich die Fama nicht mit diesen als zweifellos geltenden Ministerrücktritten, sondern nennt noch einige andere, oder, richtiger gesagt, so ziemlich alle Minister, den Reichskanzler nicht ausgeschlossen. Während man aber in Bezug aus die Nach« folgerschast de- Finanzministers wie des Landwirthschastsministers noch einigermaßen im Ungewissen tappt, hat man bereits für den Reichskanzler eine bestimmte Persönlichkeit ins Auge gefaßt, welcher die weitesten Kreise der deutschen Nation auf Grund der früheren Thätigkeit an leitender Stelle die wohlverdiente Ruhe im Oriente gönnen." Daß unter der Persönlichkeit, der im Oriente die „wohl verdiente Ruhe" gegönnt werde, der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Frhr. Marschallv. Bieberstein, gemeint ist, ist selbstverständlich. Aber gerade deshalb könnte man wenigstens daS auf Len jetzigen Reichskanzler und seinen eventuellen Nachfolger bezügliche Gerücht ignoriren. Auch die „Ver- niulhung" eines den Bismarcks von jeher feindlichen Blattes, Graf Herbert Bismarck sei der Vater des Gerücktes und habe dieses auSgesprengt, um dem jetzigen Botschafter in Konstantinopel den Weg zum Kanzlerposten zu verrammeln und seine eigenen Chancen zu verbessern, verdient kaum er wähnt zu werden, denn sicherlich hat Graf Herbert Bismarck niemals weniger Neigung gehabt, Reichskanzler zu werden, als gerade jetzt. Man kann aber die Gerüchte nickt unerwähnt lassen, weil die Bemerkungen, die einige Blätter an sie knüpfen, die innerpolitische Lage beleuchten. BeachtenSwerth ist besonders ein Artikel der „Post", deren Beziehungen zum Frhrn. v. Zedlitz ja bekannt sind. In diesem Artikel wird die Canalvorlage in der Regierungsvorlage als aus sichtslos bezeichnet, auf die Geschichte der sybillinischen Bücher verwiesen, von der Unsicherheit der inneren Verhältnisse ge- sprochen und der Ueberzeugung Ausdruck gegeben, daß „Veränderungen von größter Bedeutung" in Aus- sicht seien, wenn die ausreichende Verstärkung des Zollschutzes für die Landwirlhschafl nicht mehr feststehe. Dann hecht es weiter: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß «S alsdann zu einem voll« ständigen Wechsel in deu Personen der verantwort lichen Räthe der Krone kommen müßte. Abgesehen von den ethischen Gründen, welche in solchen Fällen für die vollständige Solidarität der Mitglieder der ReichSregierung und des preußischen Staatsministeriums entscheidend in» Ge wicht fallen, kommt in Betracht, daß Personen, welche unter solchen Uniständen im Amte verbleiben wollten, jeden Einfluß sowohl bei der Krone als auch bei der Volksvertretung nothwendig verlieren müßte». Nach beiden Richtungen hin ist für die Stellung eines Ministers, welcher seiner persönlichen Verantwortlichkeit wirklich gerecht werden will, die unerläßliche Voraussetzung, daß er nicht an seinem Portefeuille klebt. Selbst ein Mann von der Be deutung Herrn v. Miquels hat an der augenfälligen Ver minderung seines Einflüsse» sowohl bei der Krone wie bei der Landesvertretung die Erfahrung machen müssen, daß man nicht ungestraft sein Portefeuille beibehalten kann, wo man durch sein Verbleiben die Verantwortlichkeit für politische Actionen übernimmt, welche mit dem bisherigen politischen Gesammtverhalten nicht füglich vereinbar sind. Würde hiernach mit einer vollständigen Aende- rung des Personalstandes der verantwortlichen Räthe der Krone zu rechnen sein, so müßte auch alsbald ein schwerer Conflict mit dem Reichstag in Aussicht genommen werden, den» es ist völlig ausgeschlossen, daß der Entwurf eines Zolltarifs, welcher den Zusagen auf ausreichenden Schutz der Landwirthschast nicht entspräche, die Zustimmung des Reichstages finden könnte." An welche Adresse diese Mahnung sich richtet, braucht nicht gesagt zu werden; um so bezeichnender aber ist eS, daß ein freiconservatives Blatt sich zu derartigen Auslassungen versteigt. Diese legen die Vermuthung nahe, daß auch bei der bevorstehenden Interpellation über den Zolltarif im Reichstage die Interpellanten eine sehr scharfe Sprache Fenilleton. Der Oger. Roman von Hermann Birkenfeld. Nachdruck verboten. Die Wohngebäude in Weißenhaus liegen so planlos wie denkbar über das unebene Gelände verstreut, Georg Knufinke's auf einer mäßigen Bodenerhöhung, von der man einen Theil des Dorfes überschauen kann. Als Rudolf seinen Brief zur Bestellung abliefern will, tritt der Doctor gerade aus der niedrigen Hausthür. „Erna hat mir einen Kranz flechten müssen, den er mitnehmen soll; er wird ja zu des alten Colomb'schen Begräbniß noch gerade zurecht kommen." Das sieht dem Wackeren nun wieder so ähnlich! Bon dem Blick jedoch, mit dem Rudolf ihm dankt, nimmt er keine Notiz. Mit zusammengezogenen Brauen sieht er in die Weite. Ein tönig grau hängt der Himmel über dem Thalkessel. „Es wird anders!" brummt der Doctor. „Es liegt etwas in der Luft wie drei Wochen Landregen. Habt Ihr den Roggen herein?" Rudolf nickt. „Dor einer halben Stunde das letzte Fuder." „Hm! — Na, mach', daß Du drinnen fertig wirst. Ich warte." Als Rudolf nach fünf Minuten aus Knufinke's Haus tritt, stößt Weber seinen Stock schon ungeduldig in die Erde. „Hat lange genug gedauert!" „Hast Du eine Arbeit für mich?" „Dumme» Zeug! Bei meinem Kram kannst Du mir doch nicht helfen." Dem jungen Mann leuchtet das zwar nicht ein, doch paßi er sich der Wortkargheit de» Anderen an. Dor einer der Glashütten bleibt dieser einen Augenblick stehen, dann tritt er rin. Rudolf weiß nicht recht, ob er ihm folgen soll. Nach kurzem Besinnen thut er's. Drinnen geht Alles seinen Gang. Der Ofen loht, die Glas ballen an den Pfeifen glühen, Zange und Scheere klappern, abgeschnittene, rosig durchhauchte Scherben fallen zu Boden. „Alles wie an der Schnur. Aber — schneide die ab, und d«S Getös« ist aus, Mein Lebenszweck auch." „Onkel Gerhard!" raunt Rudolf erschreckt. Der Doctor sieht sich um. „Was denn? — Soll's mich kalt lassen wie den sauberen Herrn Fritz, wenn's schließlich dahin kommt, wohin er's treibt? Was gilt denn mein bischen Leben ohne einen vernünftigen Zweck? Wenn Einem der — zum Beispiel die Erziehung eines Neffen, den man geliebt hat, als wäre man sein Vater — so gründlich mißlingt wie mir, dann soll man wohl ein Gesicht aufsetzen wie der Hansnarr beim Sllßholzgeraspel mit seiner Baronesse?" „Dir ist etwas sehr Unangenehmes passirt, Onkel." „'ne wunderliche Weisheit! Und Du willst natürlich wissen, was. — Was? — Das." Doctor Weber bläst über seinen breiten Handrücken. „Futsch! — Aus mit dem ganzen Betrieb. Wenigstens mit dem der Firma Weber. Er will 'raus, nachdem sich Frida — was ich ihr schließlich nicht mehr verdenke — für zu gut hält, seine Frau zu werden. Verlangt Geschäfts- theilung — was natürlich dasselbe bedeutet wie den Verkauf von Weißenhaus, das mein Vater gründete und mein Bruder und ich mühsam in die Höhe gebracht haben. Du Grünschnabel hast keine Idee, was so etwas bedeutet." „Doch, Onkel, doch!" sagt Rudolf, seine Hand unter des Alten Arm schiebend. Der Jammer des Doctors schnürt ihm die Brust ein. „Kannst Du nicht die Fabrik allein übernehmen?" „Ich mit meinen Achtundfünfzig? — Wenn'S einen Zweck hätte — warum nicht? Aber so! Für wen denn nur? — Und wenn auch — ich bin kein reicher Mann. — Laß! Ich weiß, was Du anstimmen willst: 'ne Jeremiade über meine Kapital anlage in Sprakensen, und die verbitte ich mir. Kurz und schlecht: ich habe weder Lust noch Geld zu dem Soloversuch unö werde um den ersten October herum wohl abziehen müssen, die Arbeit aufgeben, die mir so lieb geworden war, in irgend einem Krähwinkel den Rentier spielen. Fetthammel, wie'S bei Reuter heißt. Derweil« verputzt dann Herr Fritz mit seiner schon halb abgeflackerten Flamme in Hannover oder Berlin deren und ihrer lieben Tanten Vermögen; denn mit seinem eiaenen dürfte er ohnehin bald fertig sein. Mag er! So mußte es kommest, natürlich! Und auch Du" — hier machte sich der Alte-ärgerlich von Rudolf los. „Ein bischen mehr Vertrauen konntest Du schon zu mir haben. Und Frida desgleichen. Warum muß ich erst durch Georg Knufinke von Euren Promenaden mit den beiden Karniner Menschenkindern hören — deren Bekanntschaft zu erneuern ich Dir übrigens gern erspart hätte?" Mit unverhohlenem Grimm sieht Doctor Weber seinen Schützling an, und mit heißer Stirn antwortet dieser: „Du hast ein Recht, mir zu zürnen, Onkel Gerhard. Aber nur gelegentlich sind wir mit den Anderen zusammengetroffen. Das erste Mal hatte ich gerade keinen Anlaß, der Begegnung froh zu sein —" „Glaube ich." „Und fürchtete, offen gestanden, eine unliebsame Erörterung, wenn ich Dir davon erzählte." Der Doctor schüttelt den Kopf. „Kannst Dich nicht ein wenig bündiger ausdrücken?" „Schwerlich", antwortet Rudolf zögernd. „Denn Du würdest mich mißverstehen. Es schulmeistert Alles an mir herum: Fräu lein Hansen, Frida — von denen die Eine mir Lieblosigkeit gegen meii r Schwester vorwarf, die Andere falsche Beurthcilung Ulrich Fet'lhenne's — und deshalb —" „Hattest Du die absurde Idee, ich würde in das Gedudel mit einstimmen?" „Heute, wo ich von der Verkehrtheit meiner bisherigen Ansichten überzeugt bin, könntest Du es thun." „So? Tas begreife ein Anderer." „Ich hatte gestern Abend das Herz zu voll", fährt Rudolf mit weicher Stimme fort, „stand zu sehr unter dem frischen Eindruck von allerlei Unerhörtem. — Heute hätte ich Dir ohne hin berichtet, was seit vierundzwanzig Stunden mit mir, in mir vorgegangen ist." „So!" machte der alte Herr wieder. Nachdem Rudolf vergebens auf ein weiteres Wort geharrt hat, erzählt er ihm AlltS. Gerharo Weber sieht währenddem schweigsam in die Gluth des Hüttenofens. Auch nachher noch eine ganze Weile, ehe er sich langsam nach dem jungen Manne umdreht, mit den Fingern durch die Augen fährt und seufzt: „Die Weißgluth! Das Rein gucken beißt!" Dann mustert er Rudolf vom Kopf bis zu den Füßen. „Nachgerade geht Einem ein Licht auf. Ich wollte vorhin schon fragen, ob Du etwa der Baronesse Lrporin Deine Aufwartung machen wolltest." Rudolf ist allerdings sorgfältiger gekleidet als gewöhnlich. „Ick möchte nur Fräulein Hansen meinen Dank abstatten", antwortet er nun. „Ein Höflichkeitsact. Soll ich nicht?" „Ge st mich so gut wie gar nichts an. Blos in den Teufelstasten des Herrn Fritz hm! Du mußt's wissen. Meinethalben trab' los!" Weber tupft Rudolf leicht auf die Schulter Als er geht, ruft er ihm aus der Hüttenthür noch nach: ,Halt! Kannst den Karniner Damen gleich bestellen, wenn ei re von ihnen bei Deinem Anblick in Ohnmacht fallen sollte, so könnte man sich den Boten zu Doctor Weber sparen." Kopfschüttelnd geht er auf das Wohnhaus zu. Rudolf hat bei seinem Gange nach der Roßwiese doch etwas mehr im Sinne, als die bloße Erfüllung einer Anstandspflicht. Sein Dankbarkeitsgefllhl gegen Erna Hansen hat sich je mehr vertieft, je deutlicher ihm die ganze Tragweite dessen zum Be wußtsein kommt, was er an Gabriele zurückgewinnen wird. Zudem fühlt er sich wegen seines gestrigen Benehmens, das ihm heute die Röthe der Verlegenheit ins Gesicht treibt, in ihrer Schuld. Endlich zwingt ihn auch ehrliches Mitgefühl mit Ulrich zu dem Gange. Wie mag er sich bei ruhiger Ueberlegung mit den Thatsachen abgefunden haben? Am Ziel, zaudert er, ins Haus einzutreten. Ja, muß er das denn überhaupt? Er wird ja sicherlich auch im Garten Jemanden finden, und so trüb' das Himmelsdach, es ist ihm für seinen Besuch doch lieber, als die gemalte Decke eines Empfangs zimmers. Er wird sich draußen so viel freier fühlen. Er hat sich nicht getäuscht: nicht weit von ihm, unter dem Schutz einer Fichtengruppe, sitzen ein paar Damen. Die beiden Mütter. Diese Begegnung hat er vorausgesehen, ohne sie aber zu fürchten. Dennoch klopft ihm das Herz, als er sich den Damen naht und eine der beiden, eine kleine, sehr corpulente Frau mit einer ganzen Sammlung von Berloqucs an der schweren Goldkette, die auf ihrem vollen Busen ruht, mit fetter Stimme sein Begehr zu wissen wünscht — eine Frage, die sie sich gleich gewissermaßen selbst beantwortet mit einem ebenso bestimmt als wohlwollend klingenden: „Zweifellos zu Herrn Weber, der leider nicht hier ist?" „Wie Sie sehen", fügt ihre Nachbarin hinzu mit einem Nicken ihrer spitzigen Nase, das etwa bedeutet: Also verschonen Sic uns mit Ihrer Nähe! Rudolf aber bringt ohne sonderliche Verlegenheit den Wunsch vor, Fräulein Erna Hansen für einen ihm gePern geleisteten unschätzbaren Dienst seiner aufrichtigsten Dankbarkeit zu versichern. Die Damen würden sich möglicher Weise noch seiner Person erinnern: Rudolf Lammert. Die Wirkung seiner kurzen Rede ist sehr sonderbar. Frau Senator Fetthenne — die Rudolf noch nie so ihrem Namen entsprechend wohlgenährt zu sehen das Vergnügen hatte — schnappt ein paar Mal, ob nach Luft oder nach Worten, läßt sich nicht feststellen, während Frau Senator Hansen ihren langen Rücken an die Stuhllehne klappen läßt, als sei sie einer Ohnmacht nahe, Doctor Weder's Abneigung, ihr in solchem Falle bcizustehen, indessen zu ahnen scheint, sich auf ein von der
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