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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 13.05.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-05-13
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030513021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903051302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903051302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-05
- Tag1903-05-13
- Monat1903-05
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Rellamen unter dem Redaktionsstrich s4 gespalten) 75 vor den Famtliennach- nchten (v gespalten) 50 Tabellarischer und Zissernsay entsprecheud höher. — Gebühren sür Nachweisungen un- Offertenannahme L5 L, (excl. Porto). Ertra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung VO.—, mit Postbesörderung 70.^-- Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: vormittag« 10 Uhr. Morgeu-Ausgabe: Nachmittag« 4 Uhr. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi« abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Pol« in Leipzig. Nr. 241. 97. Jahrgang Mittwoch den 13. Mai 1903. Politische Tagesschau. * Leipzig, 13. Mai. Der „Verräter" Eugen Richter. Seitdem die Wahlbewegung begann, haben wir daraus aufmerksam gemacht, daß eS schon um deswillen eine zwingende Nolwendigkeit ist, die Sozialdemokratie zu bekämpfen, weil sie Handelsverträge auf Grund lage de« neuen Zolltarif« verwirft. E» ist aber ein Irr wahn, zu glauben, e« würde m absehbarer Zeit im Reichs tage da« Zustandekommen von Handelsverträgen möglich sein, in denen nicht auch ein auSreichencer Schutz für die Landwirtschaft vorgesehen ist. Da« sieht auch mehr und mehr der Führer der freisinnigen VolkSpartei, Eugen Richter, ein, der neuerding« in seiner „Freis. Ztg." darauf binwie«, daß eine Rechnung, welche die Sozialdemokratie al« einen Faktor sür die Annahme irgend welcher neuen Handelsverträge im Reichstage in Betracht zieht, ohne den Wirt gemacht ist. Wie berechtigt dieser Hinweis ist, geht aus der bekannten Aeußerung des Abg. Bebel hervor, daß neue Handelsverträge, welche die Minimalsätze für Getreide und entsprechende Fleischzölle ent hielten, von der Sozialdemokratie auf das äußerste und aller entschiedenste bekämpft werden würden. Dieses Verhalten Bebels ist ebenso konsequent, wie daS des Inspirators der »Freis. Zlg." vernünftig ist. Freilich muß sich Herr Richter dieses Verhalten« wegen vom „Vorwärts" als Förderer der Wünsche der Ueberagrarier denunzieren lassen. Es läßt sich aber leicht beweisen, daß die Ueberagrarier über den Führer der Freisinnigen Volkspartei ebenso ergrimmt zu sein Ur sache haben, wie die Sozialdemokratie. Wenn diese e« fertig brächte, im nächsten Reichstage die neuen Handels verträge, in denen ein ausreichender Schutz der Land- wirtlchast vorgesehen ist. zu Falle zu bringen, so würde sie die Begehrlichkeit der Ueberagrarier fördern, die bann erst recht ihre Forderungen hochschrauben und sich crnbilden würden, sie könnten schließlich auch die Sozialdemokratie überwinden. Der gleich fanatische Widerstand der BundeSIeilung und der Sozialdemokratie kann gar keine andere Wirkung haben, als daß die Sozialdemokratie auch auf dem Lande große Erfolge erzielt, nachdem ihr der Bund der Landwirte alS Schrittmacher gedient. Das ist die Lösung des Rätsels, warum der „Vorwärts" außer sich darüber ist, daß die „Frei sinnige Zeitung" nicht dumm genug ist, zu glauben, sozial demokratische Wahlen — ganz abgesehen von ihren sonstigen Folgen — seien wenigstens in der Frage der HandelSvertragS- politik geeignet, die Linke zu stärken. Herr Richter lehnt cs ab, die Geschäfte der Sozialdemokratie, soweit sie daraus gerichtet sind, die neuen Handelsverträge nicht zu Stande kommen zu lassen, in der Welse mit zu besorgen, wie die Leitung deS Bundes dies tut» und er wird deshalb, waS nicht neu, aber lehrreich ist, als Verräter bezeichnet! Ueber die Organisierung eine» zukünftige» Polcnaufruhr« berichtet die „Ostmarl" in ihrer neuesten Nummer folgendes: Jeder Tag bringt neue Beweise dafür, daß der Gedanke an die Wiedererrichtung »ine- polnischen Reiche- die Hoffnung ist, die die Herzen aller Polen, vom höchsten bis zum niedrigsten, belebt und der polnischen Propaganda immer wieder neuen Wind in die Segel führt. Was früher in der tiefsten Tiefe des Gemüts ver borgen blieb, wird heute in den polnischen Zeitungen schon offen ausgesprochen, ja sogar im deutschen Reich-tage konnte sich im Jahre l902 derAbg. v. Chrzanowski, derselbe, der das Wort von der „preußischen Pest" geprägt hat, herauSnehmen, zu äußern, daß die Polen nicht aufhören werden, das Ideal eine« anderen Vater landes, als des deutschen, zu pflegen, und vor einiger Zeit wagte es ein anderer polnischer Abgeordneter v. Glembocki im preußi schen Landtage eine Rede zu halten, die wohl das Aergste gewesen ist, was bisher in einem deutschen Parlamente dem deutschen Volke von Seiten eine- Polen in- Gesicht geschleudert worden ist. Heute liegt vor un» eine Landkarte, die un- von befreundeter Seite aus Galizien zugrsandt worden ist mit der Bemerkung, daß solche Karten überall in Galizien in den Schaufenstern einer jeden Buchhandlung au-gelegt zu sehen sind. In dem un schuldigen Gewände einer historischen Karte Polens wird dort jedem Polen die ehemalige Größe des Polenreiches von Meer zu Meer sinnfällig vor Augen geführt und zwar wird das frühere Polen nicht nur abgebildet in den Grenzen von 1770, aus Neben karten wird auch Polen dargestellt, wie es aussah zur Zeit Boles- laus' III., KrzywoustyS (Schiefmaul) und Kasimirs des Großen. Aber auch diejenigen Länder und Orte, die niemals zu Polen gehört haben, erscheinen aus der Karte in nur polnischem Gewände. Das alte Passau an der Donau, Leipzig und Dresden, die Lutherstadt Wittenberg, Rostock und Greifswald und sämt liche Städte Schlesiens müssen es sich gefallen lasten, in polnischer Ausstaffierung vorgeführt zu werden. Für den Geist, aus dem heraus diese Karte geboren wurde, ist auch bezeichnend, daß unter den 12 aufgesührten Orten Ostpreußens auch die Dörfer Grunwald und Tannenberg nicht fehlen, wo im Jahre 1410 durch gemeinen Verrat die Blüte des deutschen Ordens von den vereinigten Polen, Litauern und Tartaren vernichtet worden ist. DaS Gesamtbild, das diese schon in 3. Auslage erschienene Karte von den Wünschen und Hoffnungen der Polen entwirft, würde unvollständig sein, wenn der Herausgeber jener Karie nicht den „urpolnischen" Namen Valeryan Heck trüge und die Verlagsbuchhandlung nicht Kubaczki und Lange hieße. Am deutlichsten und rückhaltlosesten sind die revolutionären Wünsche und Hoffnungen des PolentumS ausgesprochen in einer Rede, die einer der AufsichtSkommissare deS NationalfchatzeS, Or. Karl Lewakowski, anläßlich des vierzigjährigen Gedenktages des Aufstandes vom Jahre 1863 an die polnische Jugend gehalten hat. Diese aufiührerische Rede, die in der polnischen Druckerei von A. Reiff in Paris 1903 gedruckt ist, schildert erst die Geschichte und den Ver lauf der früheren polnischen Aufstände ziemlich ausführlich und fährt dann fort: „Tie Nation soll also die Freiheit und Unabhängigkeit mit eigenen Kräften sich erobern. Bis jetzt hat es einen Aufstand der ganzen polnischen Nation nicht gegeben. Es gab Ausstände, aber das polnische Volk hat sich an ihnen nicht beteiligt, nur aus- nahmsweise hat es Las Volk getan, jedoch in geringer Anzahl und ungern. Der Grund zu einem erfolgreichen Aus stande ist heute vorbereitet, und wenn er irgendwie ge lingen soll, muß er wahrhaft revolutionär sein, und er wird es sein oder wir werden uns niemals mehr zur Eroberung der Freiheit emporraffen.... Zum Ausstande drängt un» schon der Selbst erhaltungstrieb. Wir wissen nicht, wann uns der Augenblick über-1 raschen wird, denn nicht von uns hängt er ab, doch zu lange Zeit I ist bereits verflossen, ohne daß wir in ihr unseren unbeugsamen » Willen zur unabhängigen nationalen Existenz irgendwie dokumentiert < hätten. Wir haben also die Pflicht, den nächsten günstigen Augenblick, welcher un« jedoch nicht unvorbereitet antresfen darf,! uns zu nutze zu machen. Fühlen wir uns als leibliche Brüder mit dem um das tägliche Brot arbeitenden armen Volke, helfen wir ihm die gesellschaftliche Gerechtigkeit zu erringen, verschaffen wir ihm die Ueberzeugung, daß die künftige polnische Republik ein Boll- werk der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit zwischen den Bürgern sein werde, und wir werden die Feinde besiegen." Al» Mitglied deS Aussichtsrates des polnischen National schatzes wird Herr Or. Lewakowski die Fäden genau kennen, die in Rapperswyl zusammenlausen und die Verbindung mit den auflührerischenGesinnungsgenosseninden ehemaligpolnischen Gebietsteilen Herstellen. Wie wird sich nun die Presse deS Zentrums zu dieser Enthüllung und Mahnung LewakowklS pellen? Wahrscheinlich wird sie ihn einen „blassen Renommisten" nennen, auf dessen „Prahlereien" nichts zu geben sei, und wird die teuren Polen gegen den Verdacht zu schützen suchen, auch ihrerseits AufstandSgelüste zu hegen. Hoffentlich aber läßt sich die preußische Negierung dadurch nicht von schärfster Prüfung und Verfolgung aller Spuren abhallen, die zur Entdeckung der zu einem erfolgreichen Aufstande getroffenen Vorbereitungen führen können. Jedenfalls sind die Ent hüllungen LewakowSkis ganz besonder« geeignet, den im Leitartikel unserer heutigen Morgenausgabe gemachten Vor schlag zu unterstützen, die geplante Heeresvermehrung um 30 000 Mann nicht zur Komplettierung der 43 neuen Regimenter, sondern zur Bildung je eines neuen Armeekorps an der Ost- und der Westgrenze zu verwerten. Der Deutsche im Liede der Magyaren. Die Magyaren, die ritterlichste Nation, wie sie sich mit Vorliebe nennen und nennen hören, haben von dieser Ritterlichkeit die Deutschen wenigstens so gut wie nichts spüren lassen. Wie sie für diese fühlen, kommt so recht drastisch zum Ausdruck in den zahlreichen Liedern, die von Hatz und Hohn gegen die Deutschen triefen. Diese Lieder bilden eine kleine Literatur für sich. Bekannt ist letztcrzcit auch in Deutschland das Lied vom deutschen Hundsfott geworden, wohl das beliebteste von all diesen Liedern. Wenig oder nichts geben diesem die „Kurutzen- lieder" nach, die im 17. Jahrhundert schon aufkamcn. Damals richteten sie sich nicht eigentlich gegen das Deutschtum im allgemeinen, sondern gegen die öster reichische Herrschaft und insbesondere gegen das Haus Habsburg. Heute aber sind diese Lieder zu Spottliedern insbesondere gegen die ungarischen Deutschen geworden. Man höre, wie diese sehr beliebten un- weit verbreiteten Lieder den Deutschen besingen: Dieses Land ist ohnegleichen, Willst Du auch die Welt durchmessen, Weizen wächst hier, Gold und Silber, Dessen Be st es Deutsche fressen. Hoih, hoihl Früher waren die Magyaren Nicht so große Mamelucken, Heute aber herrscht der Deutsche, Und wir müssen feig uns ducken. Hoih, hoihl Früher hatten wir noch Kleider, Reichverschnürte, ganz famose, Heute trägt man deutsche Röcke, Deutsch ist Hut und Frack und Hose. Hoih, hoihl Hund geborene Germanen, Hergelaufenes Gesindel, Bald erscheint der Held Rakotzi, Aber schnürt Euch oann da« Bündel. Hoih, hoihl In einem Kurutzenliede aus dem Jahre 1705, das heute allenthalben mit Begeisterung gesungen und ge spielt wird, heißt es: Fluchbeladne deutsche Sippe Mit den Storch- und Kranichbeinen, Seht nur, wie die feigen Knechte Zittern, beben, lausen, weinen. Krumm gebeugt sind ihre Rücken» Eingefallen ihre Wangen, Alle sind sie bleich und müde. Abgezehrte Hopfenstangen. Hier geflickt und dort zerrissen Sind die Kleider, die sie tragen. Alles ist an ihnen schmutzig, Unausstehlich, nicht zu sagen. Und sie mästen viele Tiere Noch auf ihrem edlen Leibe, Ungeziefer, das nur ewig Bei den trägen Deutschen bleibe . . . Der Ueberseyer entschuldigt sich, daß die Uebcrtragung dieser Verse nicht ganz getreu sei, aber manches darin sei einfach unübersetzbar. Und dieses Lied nahm ein Herr Erödi Ernö in ein Liederbuch auf, das er an deutsche Schulen in Ungarn versandte, „damit die deutschen Kinder sich auch an magyarische Weisen gewöhnten". Die Proben dieser eigentümlichen Dichtkumt ließen sich beliebig vermehren. Doch mögen diese beiden genügen. Wenn man mit Recht sagt, daß im Liede eines Volkes sich am treuesten seine innerste Art ausspreche — wo bleibt bann die magyarische Ritterlichkeit? Zur Krisis im Orient wird der „Intern. Korresp." aus Konstantinopel, 12. Mai, geschrieben: Der sranzösische Botschafter Constans gab der Pforte volle Aufklärungen über die Verhandlungen, welche zwischen dem Fürsten Ferdinand und dem Minister Delcass 6 gepflogen wurden. Danach hat die französische Regierung ihr Möglichstes getan, um eine Beilegung des Streites her beizuführen. Fürst Ferdinand versprach, die denkbar schärfsten Maßnahmen zur Unterdrückung der make donischen Agitation zu veranlassen. Desgleichen beteuerte er, daß das Dynamit, welches die Revolutionäre zur Anfertigung ihrer Bomben verwandten, nicht aus Bul garien geliefert fei. Der Fürst bat sowohl den Präsi denten Loubct, als auch DelcasscL, sie möchten ihren ganzen Einfluß dahin geltend machen, daß der Sultan den Behörden und Gerichten in Makedonien ein maß volles Vorgehen gegen die Ruhestörer anbefehle. Wenn Bulgarien im Zusammenwirken mit der Türkei die Grenze absperre, so würden sich die makedonischen Banden in einigen Wochen von selbst verlaufen. Die Pforte solle also nur etwas Geduld haben. — Auf die vernrittelnden Vorstellungen DelcasisS erklärte sich auch die russische Regierung bereit, die Vorgänge in Makedonien noch einmal nachsichtig zu beurteilen, und der Botschafter Sinowjcff hat auch bereits in diesem Sinne bei der Pforte Schritte getan. Das Anerbieten des Fürsten Ferdinand, dem Sultan einen Besuch abzu statten, ist türkischerseits im allgemeinen güirstig aus genommen worden, indessen kann eine solche Reise wohl Feuilleton. ui Freiheit. Roman von Walter Schmidt-Häßler. Nachdruck verboien. Einige Augenblicke stand sie regungslos, noch wie be täubt, und strich sich mit der Hand über den blonden Scheitel, als müsse sie gewaltsam eine häßliche Erinnerung fortwischen. Dann sank sie langsam auf die Kissen des Sofas und sing an, erst nach und nach zum ganzen Bewußt sein der Situativ» zn kommen, in der sie sich befunden hatte. Brennende Scham und eine grenzenlose Erbitte rung quollen jetzt, wo sie allein war, um so heftiger in ihr auf, und ihre Lippen preßten sich fest aufeinander, wie in körperlichem Schmerz. Zum ersten Male, fett sie in diesem Hause war, empfand sie das Bewußtsein einer untergeord neten Stellung, fühlte sie sich als ein dienendes Wesen, eine bezahlte Fremde, der gegenüber man sich erlauben durfte, anders zu denken, als jeder anderen Krau der Ge sellschaft gegenüber. Nie noch hatte diese» Drückende auch nur einen Augenblick auf ihrer Seele gelastet, nie hatte nur der leiseste Gedanke daran sie gestreift. Und alles, was in ihr nach Freiheit und Selbständigkeit verlangte, bäumte sich trotzig empor, gegen Fesseln, die ihr noch nie mals fühlbar gewesen waren! Was hier geschehen, war ja nur die Tat eines schlecht erzogenen, in sich verdorbenen Burschen gewesen, aber daß es überhaupt geschehen konnte, daß es gerade ihr geschehen war, ließ sie schaudernd suhlen, mit welch souveräner Nicht achtung man auf die Gesellschafterin heruntcrblickcn durfte, wie minderwertig man sie zu taxieren wagte! — Ein förm licher Ekel schüttelte sic, als sie aufsprang und ans Fenster eilte, als müße sie flüchten vor den hämischen Bildern ihrer eigenen erregten Fantasie. Bor ihrem Schreibtische blieb si« stehen. Ein Stoß eng- beschrtebener Blätter fesselte ihren Blick! Ja, da lag, was sie frei machen konnte, frei machen mutzte, wenn anders die Stimmen, die seit ihrer Jugend in ihrem Innern zu ihr gesprochen, nicht gelogen hatten. Da lag ihr Beruf, ihre Zukunft — ihre Unabhängig keit. Einzig und allein nur dort, in der Kunst, öffnete sich ihr das große, geheimnisvolle Tor, durch das die ringende Seele in das ersehnte Zauberland der Freiheit schreiten konnte, erhobenen Hauptes, von niemandem abhängig, als von dem einen großen Etwas, das in ihr selbst lebte, das aus ihr redete, wie der delphische Gott aus dem Munde seiner Priesterin. Liebevoll, zärtlich fast strich sie mit der Hand über die weißen Blätter, und in ihr eben noch so erregtes Gemüt senkte sich eine tiefe, wohltuende Ruhe, ein freundliches Selbstvertrauen, das sie mit einem Schlage wunderbar aufrichtete. Sie wollte Geduld haben und Vertrauen zu ihrem Schicksal. Von hier aus, vom sicheren Hafen, wo sie gegen des Lebens Not und Mangel geschützt war, wollte sie die Schwingen prüfen, nicht mehr zögern, den ersten Versuch zu wagen, denn der heutige Tag hatte sie mächtig empor gerüttelt aus ihrer mädchenhaften Scheu vor der Oeffent- lichkeit, von hier aus wollte sie ansangen zu fliegen, bald, gleich — und konnte sie es — dann — dann gehörte ihr die Welt! Eine namenlose Seligkeit durchrieselte sie bei dem Ge danken, alles Bittere, was sie noch soeben durchlebt, ver sank in nichts vor der großen, lebendigen Schaffensfreude, die sie tatkräftig durchströmte. Sie hatte sich selbst ge funden! Tie fürchtete keine Zukunft mehr! Sie mußte, was sie wollte! Und das war alles! . * * Am selben Abend noch waren die französischen Gäste ab- gereist. Ella war mit dem ruhigsten Gesicht bet Tisch er- schienen, obwohl sie darauf gefaßt war, noch einmal den Unverschämten sehen zu müssen. Einen Augenblick hatte sie die Absicht gehabt, sich mit Kopfweh zu entschuldigen und auf ihrem Zimmer zu bleiben. Aber das wäre ihr wie Feigheit erschienen, und sie wollte gerade Egon zeigen, daß sie in seinem Beisein vor nichts sich fürchtete. Aber Herr de Varonne hatte vorgezogen, heftige Migräne zu haben und deshalb erst im letzten Augenblick zu erscheinen, al- der Wagen schon vor der Tür stand. Während man bei Tisch saß, vermied eS Egon mehr denn je, Ella anzusehen, kein Blick, kein vertrauliche- Lächeln erinnerte sie von seiner Lette an das Geheimnis, da- sie mit ihm teilte, und auls neue bewunderte sie -en feinen Takt dieses erlesenen Charakters. Der nächste Tag war ein Sonntag, und freudiger alS jemals machte sie sich um 6 Uhr auf den Weg zu den Ihrigen. Als sie in der Pferdebahn saß, zwischen all den festtäglich geputzten Menschen, fühlte auch sie im Innersten etwas wie Feiertagsstimmung, etwas freudig Gehobenes, und sie konnte kaum die Zeit erwarten, wo sie dem Onkel gegen- Ubersaß, um ihm ihren Entschluß anzukündigen, die letzte Arbeit an eine größere Zeitung mutig «inzusenden und damit den ersten Schritt in die Oessentlichkeit zu wagen. Was er wohl dazu sagen würde? Ob er sie schon für fähig dazu hielt? Würde er nicht am Ende doch mißbilligend den Kopf schütteln und ihr wohlmeinend abraten? So langsam wie heute schien ihr die Pferdebahn noch nie gefahren zu sein, und daß auf der Strecke so viele Haltestellen waren, fiel ihr zum ersten Male recht störend aus. Endlich war sie da. Man begrüßte sie mit der alten, immer gleichen Herz lichkeit, lebhaft und angeregt wie jedesmal plauderte man beim einfachen Abendessen, und doch schien cs Ella, alS ob gerade heute etwas ganz Besonderes in der Luft läge. Oder war alles nur der Widerschein ihrer eigenen Stimmung? — Ein paar Mal fing sie einen Blick auf, den Röminger ssnior über den Tisch herüber mit seinem Lohne wechselte und den der Alte mit einem behaglichen Schmun zeln begleitete. Aber er sagte nichts. Nach dem Essen aber, als alles um den abgcräumten Eßtisch versammelt war, brachte Frau Anna mit strahlen dem Gesicht zu Ellas größtem Erstaunen das Prunkstück des Hause-, die prachtvolle alte Bowle, setzte sie behutsam mitten unter die Hängelampe, und das Cousinchen stellte die Gläser vor jeden Einzelnen hin. Ella lächelte. „Alle Tausend!" sagte sie vergnügt, „was ist denn heute für ein besonderer Feiertag? Ich bin doch kein so vergeßliches Menschenkind, daß ich einen Ehrentag der Familie Röminger nicht wußte! Da muß es doch etwas ganz Besondere- sein!" „Ist es auch, mein Fräulein!" sagte der Hausherr, in dem er sich breit nnd behaglich in seinem Lehnstuhl zurecht rückte. „AnanaSbowle war für mich von jeher der Inbe griff aller Feststtmmung. Aus Champagner »nach' ich mir nicht vi«l, er ist mir, wie soll ich gleich sagen, zu konventio nell, zu offiziell. Ich bin nun mal für das Intime. Bei all meinen wirklichen Festen gibt's A nanasbvwle." „Ja, was ist denn heut für ein Fest?!" „Ein gan« absonderliches! — Wirft gleich hören! Erst mal eingeschenkt! Sol — Und nun bitte ich um ungeteilte Aufmerksamkeit!" Ella war wirklich gespannt auf das, was nun kommen sollte; denn sie wußte nur zu genau, daß heute tatsächlich weder ein Geburtstag noch sonst ein wichtiger Tag im Römingerschcn Kalender stand, und mit erstaunten Augen sah sie fragend von einem zum andern. Dann begann der Onkel mit einer gewissen Feierlich keit, die ihm sonst nur in wirklich großen Momenten eigen war: „Liebste Ella! Wenn du heute uns alle in festfreudi ger Stimmung sichst, wenn du bedenkst, daß ich meinen ältesten Forster Riesling aus dem Keller geholt habe, um dieses alte Familienerbstück damit zu füllen, so wirst du dir sagen müssen, daß das einen sehr wohlerwogenen Grund haben »miß. Und den hat es auch. Wir haben nämlich gestern alle eine große Herzensfreude gehabt, die wir dir bis heute vorenthalten mußten, um uns in egoistischer Weise den großen Moment der gemeinsamen Freude nicht zu stören. Es ist uns, namentlich meiner lieben Frau, recht schwer geworden, die Ueberraschung so lange für uns zu behalten. Den heutigen frohen Tag verdanken wir näm lich — dir!" „Mir?! — Wieso denn mir?!" „Ja, liebe Ella, dir ganz allein. Und nun will ich dich auch nicht länger neugierig machen, denn wir alle möchten gern miteinander anstotzen. Die Sache ist nämlich die. Vor einem Monat ungefähr übergabst du mir eine deiner letzten Arbeiten, eine größere Novelle „Frauenberuf", und da mir dieselbe ausnehmend gefiel und ich sie für ganz besonders reif hielt, so war ich so vorlaut, ohne dich zu fragen, dieselbe unter den Arm zu nehmen und sie per sönlich zu dem Chef meines Lohnes, dem Inhaber unserer größten Verlagsfirma, hinzutragcn und sic ihm mit war men Worten ans Herz zu legen. Erschrick nicht, ich habe ihm deinen Namen nicht acnannt. Darüber ist ein Monat vergangen und gestern brachte mir mein Herr kilius die nicht unangenehme Nachricht, daß der Herr Verleger die Arbeit meines jungen Proü'ge nicht nur selbst tadellos ve» funden, sondern sic bereits a» die Berliner 9^ustttkrte Zeitung für den ganz annehmbaren PrcrS von 200 Mark verkauft hat, welche ich hiermit das Vergnügen habe, dir in Form dieser zwei famosen blauen Lcheine einzühän- -tgcn!" Damit erhob er sich, reichte Ella zwei nagelneue Hun derter und hob mit der andern Hand sein GlaS mit den Worten: „Unsere liebenswürdige junge Dichterin, die heut ihr erstes Honorar verdient hat — sie lebe!* Alles stieb mit einem kräftigen Hoch mit einander an,
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