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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 22.05.1908
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1908-05-22
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19080522028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1908052202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1908052202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1908
- Monat1908-05
- Tag1908-05-22
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Bezug»-Preit M L«tp»ia >üor»rt, durch »«ter» Träg« «d Vpchtt»»» tut Hau» gebnuht: Lutgad« L («« m»r«>M »trrteljthrlich S »i., »»»»arliL 1 vi.; Lv»aab« » (»oro»»« »ad abe»d«) »toM. jthrltch 4.S0 awaatltch 1.S0 ». vmech dl, O,« ,» bqtehr»: fl «al tiglich) innerhalb L^uttchland« und der brätschen Kolonien »irttrltthrlich b,2Lmoaatllch 1,7b M. autjchl. Post, beftellgeld, ,ür Oesterreich v L 86 d, Ungar» 8 L oierteljthrlich. Ferner in Bel« gim, Däneniart, den Lonaukaatr», Italien, Luräadnr«, Niederlande, Norwegen, Sud» land, Schwede», Schweiz a»d Spanien. I» alle» übrigen Staate» nur direkt durch di» d. «. erhältlich. Sbonnem«at-«»aabine: Ungnstalplatz 8, bei ualeren Träger», Filiale», Spwiteürea und dlnaahalestellen, stnot« Postämter» mW Briefträgern. St» einzeln» Nummer kostet 1l> Dfg. diedattio» »ad Arp«ditto»: Iohaanchgaste 8. relevbo» Nr. 14SVL Nr. lE. «r l««Se. Nr. 141. Abend-Ausgabe 8. KipMrr.TagMaü Haudelszettung. Amtsblatt -es Mates ««- -es Nolizeiamtes -er Lta-t Leipzig. 7—^-7^?— Freitag 22. Mai 1908. Auzeigeu-Prei» ist, Iaserare au» Ueipzig und Umgebung di, Saeipaltene PetltzeU« 2S Pi., stnanztell« Nnzetgen 3ö Pi., Neklamrn 1 M.; dm» a»,wärt« SV Pi., Ne0a»l«n 1.20 M.; »om Lutland SOPi., fiuanz. Anzeigen 7LP>.. lkeklamen 1.SÜ M. Inserate ». ve-trde» in aoUItche» Seil 4V Pi. Beilagegebübr SM. p. Säulen» exkl. Post, gebühr. idejchLilöaovigen an beoorjugtei Stelle im Preise rrhäht. Rabatt nach Lar» Fester»Ul« Lutträge können nicht zurück- ae»ogeu werden. Für da, lkrscheinen an bestimmten Lagen und Plätzen wird kein» Garantie übernommen Ilnzeigea.Annahme: Augustuäplatz 8, bet sämtlichen Filialen u. allen Annoncea- Ezpeditionen de« In» und Auslände». Saapt--Male verliui Carl Duacker, Herzog!. Bagr. tzolbuch- handlung, Lützowstratze 1L (Telephon VI, Nr. 4608). Haupt.Filiale DrrSde»: Seestrabe 4,1 (Telephon 4621). 1Ü2. Jahrgang. Amtlicher Teil. Mittwoch, de« 27. Mat 1SV8, vor«. 10 Uhr sollen im Geschäft-lokale der Firma Lmtl Sarksn hier, vrihl «S S8S Sttdolr einem Dritten gehörige i« Wege des Pfandverkaufs meistbietend öffentlich ver steigert werden. Leipzig, den 21. Mai 1908. orss. Der Gerichtsvollzieher des König!. Amtsgerichts. Dar wichtigste vom Tage. * Das Großherzogspaar von Hessen ist aus Rußland zurück gekehrt. (S. Dischs. R.) * Die Revisionsvrrhandlungen im Prozeß des Grafen Moltke gegen Harden haben heute vormittag um 9 Uhr vor dem 2. Strafsenat des Reichs- gerichtS unter großem Andrang des Publikums begonnen und bis zur Mittagspause zu sehr eingehenden Erörterungen über den einen Revi- sionspunkt geführt, ob die Staatsanwaltschaft zu Recht die Einstellung des vor dem Schöffengericht anhängig gewesenen Verfahrens verfügen konnte. (S. d. bes. Art. u. Ber.) * Gegen Fürst Eulenburg sollen neue Verdachtsgründe vorliegen. (S. Dtschs. R.) * Nach den neuesten Meldungen sind bei dem Eisenbahn unglück bei Tontich 38 Menschen ums Leben gekommen. * Rußland hat die Eisenbahn von Kwang-tschoeng-tse nach Charbin einer Meldung der „Morning Post" zufolge an Japan der- kauft. Harden vor dein Reichsgericht. Das Reichsgericht ist auf Sensationsprozesse mit ihren Begleit erscheinungen, mit ihrem Lärm und ihrem Streit der Leidenschaften nicht gestimmt. Seine Bestimmung, seine Wesensart, seine Tradition, seine Funktionäre sind auf das geruhige, penible Abwägen rein juristi scher Momente gerichtet. Von der Materie ist bei ihm kaum die Rede. Sie wird nur selten gestreift. Diese Eigenart läßt es beinahe naturgemäß erscheinen, daß der äußere Apparat des Gerichts dem Ansturm der erregten Schausucht nicht gewachsen ist. Er versagt, und muß erst durch einen Machtspruch wieder zum erträglichen Funktionieren gebracht werden. Bor dem Sitzungssaal VI im Erdgeschoß des Gerichts drängen sich so viel Leute, daß eine Ueberfüllung des Saales zu befürchten wäre, auch wenn man den zuerst in Aussicht genommenen großen Sitzungssaal gewählt hätte. Der nicht sehr ge-äumig« Saal war also, an den machtlosen ichueßenden Dienern vorbei, in wenigen Augenblicken überflutet, als heute morgen gegen 9 Uhr die Türen geöffnet wurden. Der Sitzungssaal ist ein etwa halb so breiter wie langer Raum, dessen Wände hoch hinauf mit Holz bekleidet sind, und auch die Decke weist dieselbe Bekleidung auf, die wie von leichtem Staub bedeckt scheint, während es in Wirklichkeit natürlich nur der eigentümliche Ton des durch Alter stumpf gewordenen, ursprüng lich dunklen Holzes ist. Drei große Fenster lassen durch bleiverglaste, kleine, matte Scheiben gedämpftes Licht ein, und nur wenn bei allzu- großer Schwüle das ein« oder andere zeitweise geöffnet wird, leuchtet frisches Grün in den Saal. Die vordere Reihe der Zuschauerstühle hat den Vorzug, einen Tisch vor sich zu haben und ist für die Presse reser viert. Hinter ihr drängt sich das Auditorium im Chaos. Pünktlich erscheinen Harden und Bernstein. Harden bietet ein frischeres Gesicht, als es die Prozesse des Winters gezeigt haben. Bernstein ist direkt munter. Auch Herr Sello, der Vertreter des Privatklägers Grafen Moltke ist erschienen und wird viel beachtet. Anders als sonst wohl üblich, ist das Verhältnis zwischen den beiden gegnerischen Rechtsanwälten. Kein kollegialer Gruß zeugt von der Be grenzung der juristischen Gegnerschaft auf das Rechtsgebiet, und es wird klar, daß die heftigen Angriffe Hardens auf Sello im letzten „Zukunft- Heft das Produkt auch menschlichen Gegensatzes sind. Nun erscheint der Reichsanwalt Richter, der höflichen Gruß zuerst der beklagten Partei schickt, dann dem Vertreter des Nebenklägers seine Verbeugung macht. Im Hintergrund des Saales, vom Auditorium aus gesehen, öffnet sich lautlos eine schwere Tür. Der Gerichtshof erscheint unter Vorantritt des Senatspräsidenten Freiherrn von Bülow, eines würdigen greisen Herrn mit Schnurr- und Kmebelbart. Man erwartet den Eintritt in die Verhandlungen. Doch der Präsident ist offenbar nicht gewillt, den Gang des Prozesses durch turbulente Szenen andauernd stören zu lassen, und er befiehlt den Dienern, den Saal zu räumen, um nur ordnungs mäßig mit Karten versehene Personen hereinzulassen. Die an solchen Menschenandrang nicht gewöhnten Vollstreckungsorgane des präsidialen Willens erweisen sich aber als ohnmächtig und müssen achselzuckend die Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen melden. Darauf wird die präsidiale Ordre von Freiherrn von Bülow direkt an das Auditorium gerichtet, das nunmehr der höheren Gewalt weicht. Nur die Presse darf bleiben und einzeln werden die Karteninhaber bis zu einer erträglichen Fülle in den Saal hereingelassen. Der Eintritt in die Verhandlungen geschieht mit der üblichen Ge- schäftsmäßigkeit, und wie von selbst gedämpft klingen die Stimmen der Beteiligten. Nur manchmal geht das Temperament mit Bernstein so »veit durch, daß man hinter seinen juristischen Erörterungen das Vibrieren eines leidenschaftlichen Interesses vermuten kann. Sonst aber spielt sich alles in den Formen einer fast zeremoniellen Höflichkeit ab, die den auf nervenpeitschende Ereignisse gespannten Gast arg ent- täuschen muß. Wir dürfen sagen glücklicherweise, denn nichts wäre un- gerechter, als aus der systematischen Jernhaltung aller Leidenschaften vom Forum dieses Gerichts auf eine Verknöcherung schließen zu wollen. Dieses höchste Gericht des Deutschen Reiches darf nicht erregt sein, darf es auch nicht scheinen, darf auch prozessuale Szenen nicht dulden. Seine Aufgabe ist nicht auf die Prüfung der Materie gerichtet. Es soll gar nicht die Materie prüfen, sondern es soll nur die Garantien des Wahr heitsuchens der andern Gerichte prüfen und gegebenenfalls neu stabileren. Mehr als 50 Revisionspunkte sind in den drei Revisionsschriftcn der Verteidiger Hardens, nämlich des früheren Vertreters Werthauer und des jetzigen Verteidigers Bernstein, aufgestellt, und allein die Erörte rung des einen Punktes nimmt drei Stunden, bis zur Mittagspause, in Anspruch. Es muß für einen Menschen, der sein Recht sucht und von der Prozeßmaterie sozusagen bis zum Ueberlaufen voll ist, eine Qual sondergleichen sein, diesen Verhandlungen zuhören zu müssen. Kein Wort wird in Stunden dieser Verhandlung darüber gesprochen, ob der Angeklagte recht oder unrecht hatte, ob er zu bestrafen sei oder nicht, ob Milderungsgründe vorliegeu oder nicht, kurzum, es dreht sich aus schließlich darum, ob alle Vorschriften in der Strafprozeßordnung in dem vorangegangenen Prozeß vor dem Berliner Landgericht ordnungsgemäß angewandt worden sind, und bis in die Finessen juristischer Deutungs kunst muß der Hörer folgen, um zu wissen, was gerade verhandelt wird. In dem üblichen Juristendeutsch, das so wie so schon dem Nichtfach mann schwer verständlich ist, wird erörtert, ob ein« Rechtshängigkeit tot oder scheintot sein kann, ob sie wieder erweckt werden kann, oder ob dem Begriff der Rechtshängigkeit nicht überhaupt schon das ewige Leben innewohne. Es ist zum großen Teil ein Streit um Worte, der doch auch wieder dem Nichtjuristen imponieren muß, da alles Realisieren eines juristischen Willens sich in Worte kleiden muß, um zur Geltung zu kommen, da eben diese Worte das kuocksrruwtum rsguoruro bilden. Wie leblos sitzen die sieben Nichtergestalten in ihren rotseidencn Mänteln, und nur die Augen verraten das Interesse der Gestalten. Keiner der Redner versäumt es, sein selbstverständliches Vertrauen in die Kenntnisse und die Urteilskraft des hohen Gerichtshofes auszu- drücken, und es ist bezeichnend, daß weder der Vertreter des Ange klagten, noch der Reichsanwalt auch nur Miene macht, den Ausspruch des Vorsitzenden zu negligieren, daß den Mitgliedern des Gerichtshofes die einschlägigen Gesetze und Rcichsgerichtsentscheidungen bekannt seien. Bernstein spricht nach der kurzen Erörterung der Prozeßlage durch den Referenten, Reichsgerichtsrat Wiebe, wohl eine Stunde lang mit dem gedämpften Stimmfall, den ihm der Ort diktiert. Der Reichsanwalt sucht die Revisionsgründe zu entkräften. Herr Bernstein antwortet. Der Reichsanwalt findet natür lich seine Meinung nicht erschüttert. Der Vertreter des Neben- klägers verzichtet auf das Wort, da er den Ausführungen des Reichs- anwalts nichts hinzuzusetzen habe, und so geht der Kampf in dem Höf- lichen Tone einer akademischen Disputation fort, daß man leicht ver gessen kann, wie hier um Existenzen gerungen wird. Ein traumhaftes Gefühl kann den Zuschauer überkommen, das ge steigert wird durch die Anordnung der Plätze. Die Parteien drehen nämlich dem Hörerraum den Rücken, so daß man von ihren Mienen nichts sehen kann. Die Bewegungslosigkeit der Richter trägt dazu bei, den Eindruck zu vertiefen, bis plötzlich der Präsident nicht unhöflich, aber bestimmt, einen leise zur unrechten Tür in den Saal sich schleichen- Feuilleton. Ein nobler Fürst hat nie einen roten Heller. Schätze sammeln ist gemein. Nabelais. * Larir in Lastern. Von Max Hochdorf. Etwa zwanzig Jahre sind es heute her, da hatte Paris ein ergötzliches Schauspiel. Gegen Emile Zola, den Vater der Gerechtigkeit, den Herold der Arbeit und den Apostel des Wahrhaftigen traten fünf junge Schrift- steiler auf. Sie beschuldigten den Schriftsteller Zola, daß er den Schmutz unanständig anbete und liebe, daß er in viehischer Absicht und Ver blendung dem Gemeinen huldige, daß er ein verworfener, ein auszurotten, der Mensch und Literat sei. Unter diesen fünf Edlen, die noch in jugendlicher Grünheit blühten, befand sich auch der Sohn eines verdienten Generals vom zweiten Kaiserreiche, der noch unbekannte Paul Mar- gueritte. Die Fünf haben zwar nicht umsonst geheult, und einige Tausend von kurzsichtigen Leuten sind ihnen nachgefolgt; aber der Mar- gueritte ist selber seiner einstigen Empörung untreu geworden. Er ist einer der gelehrigsten, wenn auch nicht begabtesten Schüler Zolas ge worden. Er hat insbesondere fernen Bruder Vrctor Margueritte ganz in die läuternde Schule des Emile Zola eingeweiht, und jetzt hat dieser Victor kürzlich ein Buch geschrieben, das, dem Himmel sei'S gelobt, ganz vom Geiste des Zola voll ist. Es ist ein schweres, ein niederdrücken des und die schlimmste Melancholie beförderndes Buch, aber es hat so viel stramme Energie, so mächtige Achtung vor den -schauern dieses Lebens, daß man cS hochachten und hochrühmen soll. „Die Prostitution" hat es der deutsche Ueberseher gar wörtlich genannt, der die Verdeutschung für Grimm in Pest besorgte. Die Ilebcrtragung ist, nebenbei gesagt, schlecht und schludrig. Paris in Lastern und in Lüsten — man erinnert sich an Nana, wie die große Verführerin aufstieg, wie sie nicderging, von Schmach, Krankheit und Ekel angefressen. Zola hat das Leben der Pariser Verlorenen ge- schildert als das Schicksal der einzelnen Frau. Er legte besonders Wert darauf, die Lotterei der einzelnen zu erzählen, gewissermaßen den be- deutenden Ausnahmefall, durch den das menschliche Gewissen berührt werden sollte. Victor Margueritte will mehr und Schwereres. Er will da» Leben der ganzen Klaffe berichten, zu der Nana auch gehört hat, zu der aber ebenfalls gehören die Kurtisanen mit schillerndstem Kram, die BürgcrSfrauen mit lächelndster Behäbigkeit und Anständigkeit, die Mägde, lein mit schillerndster Unschuld und Rosenjugend. Da lebt ein Industrieller. Er ist rücksichtslos, grob, sinnlich moralisch ver wahrlost, ohne Zügel und nur in der Zote zu Hause. Der jagt in seinem Hause die Dienstboten in die Schande, daß sie an ihrer Sünde Herum schleppen, daß sie durch ihn ins Gefängnis, in den Hunger, in die Laster. Häuser, in die Gossen, ins Spital und schließlich auf den Schindanger kommen. Das Mädel, dem so etwas geschieht, ist Rose, eine blühende Landes, pflanze, die stufenweise ins Elend stürzt, aber so logisch, so folgerichtig, so unbarmherzig, daß hier der Künstler ein außergewöhnliches Stück voll, brachte, als er dieses Schicksal formte. Diese Rolle ist gewissermaßen jene typische Person, für die das Laster ein Gift ist. Ein ordentlicher Mensch, der mit seinen Gedanken nur an der Harmonie unseres Daseins haftet, wird sich an die Brust schlagen und ausrufen: „Das Laster ist stets ein Gift." „Ach nein", erklärt ihm da Victor Margueritte, der etwas genauer hingeguckt hat, „das Laster ist nicht nur nicht ein Gift, sondern im Gegen teil die empfehlenswerteste Medizin. Und er erzählt von dem Leben seiner anderen Heldin, die Anna heißt. Anna ist eine Landsgefährtin der Rose. Sie ist arm, hat ein wenig Sehnsucht nach Liebe und Glanz. Da macht sich der Verführer Roses, der, wie schon gesagt, reich und roh und niederträchtig ist, auch an ihre Unerfahrenheit. Sie gibt sich leicht. Sie wird aber entsetzlich heimgesucht, indem sic nämlich von der furchtbarsten Krankheit angesteckt wird. Nun ist sie erst elend, nun kommt sie ins Weibergefängnis der Kontrollierten und Bemakelten. Aber die Krankheit ist für sie der Sporn zur Selbstzucht. Sie erzieht sich zur gebietenden Kurtisane. Sie hat die Gewalt, daß sich Millionäre ihretwegen den Revolver an die Schläfe legen. Sie hat Fürsten zu An. betern; auch Dichter. Sie erzieht sich zu so viel Innigkeit, trotz aller Lust, daß sie auf dem klassischen Theater des Odeon die Seelen rührt. Er aber, der sie einst im abergläubischen Wahn befleckt hat, daß er von ihr geheilt werden könne, der tapfer erbärmliche Verführer, geht zugrunde als ein Idiot. Seine Kinder erben von ihm das widerlichste Gebrechen. Er vernichtet und zerstört und verpestet, wohin er tritt. Er ist die Stärke des Todes, über den die Stärke des Lebens triumphiert und siegt. Man fühlt schon ungefähr, wie sich Margueritte das Schauspiel des Lasters gedacht hat, wie sein Wille gewesen ist, groß und gerecht die Naturgeschichte des Pariser Lasters zu schreiben, nicht ein Traummärchen davon, über dem Sterne und Mond einherwandeln. An der Seite diele wahrhaftigen Lasters wandelt nämlich ohne Mitleid, ohne Herzbrechen, ohne Skrupel, sondern hart und hurtig und herb und heftig und eisern und eifrig die Polizei. Der Künstler muß diese Bilder köstlich nennen, d. h. von großartigster und belehrendster Moralität, die da reden von der Brüderschaft des Lasters mit der Polizei. Der Mucker wird scheu und schambedeckt die Augen vor diesen Bildern schließen. Glauben wir aber dem Künstler, glauben wir dem wahrhaften, echten Manne, der einstmals den seligen Zola geschmäht hat, der ihn aber eben auSgesöhnt hat durch den Ernst einer schönen, einer tugendhaften Tat. Ja, das Buch vom Laster ist «in tugendhaftes Werk, und wenn der Eingeweihte auch weiß, daß Victor Margueritte im allgemeinen sehr viel Unwertes schreibt, so wird er ihm diesmal doch dankbar die Hände schütteln. O * Karl Lhriftia« Koidewey s. Erst jetzt wird bekannt, daß der berübmte Polarforscher Karl Christian Koldewey in der Nacht vom 17. znm 18. Mai in Hamburg, 71 Jahre alt, gestorben ist. Da- „Hamb. Fremdenbl." veröffentlicht folgenden klirren Lebensabriß de» fest 1871 in Hamburg ansässigen Forscher»: Wieder ist einer der Heroen der Nordpolforschung dahingegangen, und zwar rin solcher, der un» Hamburgern ganz besonder» nahe stand: Karl Kaldewty. Auf immer ist dieser Name mit der Geschichte der Erderforschung verknüpft und für den Anteil Deutschland» an der Erforschung der Arktis bedeutet er rin besondere» Ruhme-blatt. Koldewey war der Führer der ersten deutschen Nordpolexpeditionen, dir 1868 und 1869 hinau-zogen, die erste, gewissermaßen eine Vorbereitung»« fahrt der großen Expedition nach Ostgrönland. Wie so viele der Nordpolsahrer, war auch Koldewey rin Seemann. Am 26. Oktober 1837 in Bücken, Hannover, geboren, trat Koldewey 1853 in den Marinedienst, machte bi» 1866, größtenteils auf Bremer Schiffen, zuletzt al» Obrrsteuermann, große Seereisen, und besuchte alsdann das Polytechnikum in Hannover und die Universität in Göttingen. Hier bereitete sich Koldewey für seine wissenschaftlichen Reisen vor, er studierte namentlich Astronomie. In das richtige, seiner Bestimmung angemessene Fahr wasser gelangte er, als er im Jahre 1868, von Dr. A. Petermann dazu auf- gefordert, die Leitung der ersten deutschen Nordpolfahrt nach Spitzbergen und dem Grönländischen Meer übernahm und die Expedition glücklich durch- führte. Die Ergebnisse dieser ersten Fahrt sind in dem Werk: „Die erste deutsche Nordpolexpedition" (Gotha 1871) niedergelegt, das Koldewey mit Petermann zusammen herausgab. In den Jahren 1869 und 1870 folgte die große Ex- pedition mit den Schiffen „Germania" und „Hansa". Die wunderbaren Schick sale dieser Fahrt haben in der ganzen Welt Aufsehen erregt, bekanntlich wurden die Schiffe getrennt. Und besonders die Abenteuer der „Hansa"-Leute. die ihr Schiff im Eise aufgeben mußten, um sich einer treibenden Scholle anzu- vertrauen, erweckten allgemeine Teilnahme. Die „Germania" setzte in zwischen ihre Entdeckungsfahrt fort und brachte es zu reichen Ergeb nissen. Ueber diese zweite Exvedition berichteten die Teilnehmer in dem Werke „Die zweite deutsche Nordpolfahrt" (Leipzig 1873—74; zwei Bände; Volksausgabe in einem Bande 1875). Nach seiner Rückkehr wurde Koldewey im April 1871 zum Assistenten der Norddeutschen Seewarte in Homburg ernannt. Anfang 1875 rückte er zum interimistischen Abteilungsvoistand der Deutschen Seewarte vor, in die sich die Norddeutsche Seewarte seit der Uebernahme durch das Reich verwandelt batte. Zum ordentlichen Abteilungsvorstand avancierte Koldewey schon in dem folgenden Jahre: 1889 wurde der Geleinte zum Admiralitätsrat ernannt. Zuletzt war Koldewey Leiter der zweiten 'Ab- teilung der Seewarte, der die Prüfung nautischer Instrumente sowie die Unter suchung und Bestimmung der Kompaßdeviation auf unseren Schiffen oblieg'. * Görar- de Nerval verdient als ein glühender Bewunderer Deutschlands sind als der erste Franzose, der „Goethes Faust" in seine Muttersprache über tragen hat, zu seinem 100. Geburtstage (21. oder 22. Mail wohl auch bei uns ein Wort der Erinnerung. Goethe war mit der Faust-Uebecjetzung Nervals, die dieser in der flammenden Begeisterung seiner Jünglingsjahre vollendet hatte, sehr zufrieden und sagte zu Eckermann 1830, im Deutschen möge er den „Faust" nicht mehr lesen, aber „in dieser französischen Uebersetzung wirkt alles wieder durchaus frisch, neu und geistreich." Wie Gsrard de Nerval zu Deutschland stand, dafür ist bezeichnend, daß er sein Buch über leine Reisen in unserem Vaterlande, die „8ouvonir8 ä'äUemsxns", die ..Empfindungen eiues enthusia stischen Reisenden" nannte. Als er durch das Elsaß reisend, auf der anderen Seite des RheineS das deutsche Land sah, da faßte ibn rin Schauder des Ent- zückens. „Wißt ihr, was das ist? . . . DaS ist Deutschland! das Land Goethes, Schillers, Hoffmanns; das alte Deutschland, unser aller Mutter! . . . Teutonia . . Ja diesen Worten spiegelt sich jene innige und aufrichtige Liebe der französischen Romantiker zu Deutschland und dem deutschen Wesen, die später Victor Hugo einzudämmen suchte, weil er es nicht ertragen konnte, sich erst nach Goethe al- den größten Dichter des 19. Jahrhunderts bezeichnet zu hören. In Deutschland, wohin Nerval übrigens im Grame über eine unglückliche Liebe sich geflüchtet haben soll, ging er mit hoher Verehrung den Spuren Goethes in Frankfurt und Weimar nach, weilte er mit Rührung im Hause Schillers und ließ sich an einigen erinnerungsreichen Stätten von Ilm-Athen von einem vornehmen und gefälligen Fremden führen, der von seinem Interesse für diese deutschen Dinge angezogen schien. Dieser Fremde stellte sich nachher heraus als der damalige Erbgroßherzog Karl Alexander von Sachsen-Ärimar, der dem Franzosen später zum Gedächtnisse ein Auiogravb Goethes verehrte. Der Zufall wollte übrigens, daß Nerval in Weimar, wo er mit Liszt in engster Fühlung stand, auch jene längst geschichtlich gewordene Erstausführung des „Lohengrin" erlebte, und eS spricht für die Selb- ständigkeit seines Urteils, daß er in Wagner „ein originelles und kühnes Talent" erkannte, „da» nur erst seine ersten Worte gesagt hat". Was seine Persönlichkeit anlangt, so hieß er eigentlich Gärard Labrunie — d. h. er selbst
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