_ 22 — Gescblechte zur vollkommsten körperlichen Ausbildung zu verhelfen. Die gymnastischen Uebungen wurden ihm die Mittel /VIV Erreichung dieses Zweckes, und die herrlichen Volksfeste mit ihren pompösen Auf zügen, Schaustellungen und Kampfspielen boten ihm die vortrefflichste Gelegenheit, die Leistungen der Nation in dieser Beziehung auf die edelste Weies vor Augen zu fuhren. Die freie Bewegung der Glieder des Körpers war den Griechen die erste Bedingung bei ihrer Bekleidung, und daher war die Nackt heit der Arme, Beine und des Halses ein Umstand, der sich von selbst ergeben musste. Hierbei trat nun eine sehr vorthcilhafte Wechselwirkung ein. Dem Auge wurde Gelegenheit, die Schönheit der Körperform gleichsam in vollen Zügen zu gemessen. Jedermann war in der Lage, seinen plasti schen Blick üben und heranbilden zu können. Die öffentlichen Bäder, der Wettlauf, die Kampfspiele zu Wagen und zu Fuss zeigten mehr und mehr das Nackte der männlichen Gestalt und beseitigten mit der Zeit die allerletzte Schranke für das Studium der Körper Schönheit. Den sittsamen Frauen und Mädchen der Griechen war das Auf treten an öffentlichen Orten zwar eben so wenig erlaubt, als ihnen das Erscheinen auf der Strasse ohne eine dichte Verhüllung gestattet war; aber dennoch wurde auch ihrer Schönheit gelegentlich das wohlbegrün dete Recht. Bei den grossen Processionen, die bei Volks- und Weihe festen angeordnet wurden, machte man von der genannten, sonst streng befolgten Sittenregel eine Ausnahme. Die Frauen durften in diesen feierlichen Aufzügen ebenfalls geschmückt und ohne die übliche Ver hüllung erscheinen. So z. B. traten die athenieiisischen Jungfrauen als Kaneplioren, d. h. Korbträgerinnen, auf, indem sie bei den Festen der Demeter und des Bacchus die heiligen Opfergeräthe in prachtvollen Körben auf dem Haupte trugen. Sie boten in dieser anmuthigen Hal tung den berühmtesten Künstlern die Motive zu Werken, welche deren Namen unsterblich gemacht haben. — Es ist nach solchen erwiesenen Thatsachen und unter der Berücksichtigung der Natur des weiblichen Herzens wohl anzunehmen, dass bei jenen Processionen nicht alle Mäd chen so gedacht haben, wie die berühmte Tlieäno aus Kreta, welche einem lauten Bewunderer ihres schönen Armes, als er entzückt ausriet: „Welch’ ein schöner Arm!“ erwiderte: „Schön mag er sein, aber nicht für’s Volk!“ und denselben sodann verhüllte. Ohne diese und andere Gelegenheiten zum Studium würden die griechischen Künstler auch nicht im Stande gewesen sein, Darstellungen des weiblichen Armes zu liefern, die für alle Zeiten mustergültig bleiben werden. Namentlich war es eine gewisse Stellung des linken Armes, die sie als vorzügliches Motiv in allen ihren Dianen- und Venusstatuen verwertheten. Die linke Hand wurde dabei bis zur Schulter oder noch