TYPENFORMEN DER VERGANGENHEIT UND NEUZEIT heben, machten sich bald nationale Idiosynkrasien geltend. Zu tief wurzelten die Verschiedenheiten, und so kam es, daß mit der Zeit die Manuskripte des nördlichen Europa sich deutlich von denen des Südens unterschieden. Um das zwölfte Jahrhundert schufen die Schreiber aus England, Deutschland (Seite 9), Flandern und Frankreich eine sym metrische, längliche, zugespitzte, eckige Schrift, während zahlreiche italienische und spanische Kalligraphen die ab gerundetere, breitere Form beibehielten. Im vierzehnten Jahrhundert war die Karolingische Originalminuskel aus dem neunten Jahrhundert beinahe völlig verschwunden. Statt dessen herrschten irische, englische, deutsche, französische und italienischeNationalhandschriftenvor, nebst zahlreichen liegenden oder Kursivschriften, die sich aus Schnelligkeits gründen aus der offiziellen Schrift entwickelt hatten. Zur Zeit der Erfindung des Buchdrucks bedurfte die Handschrift nahezu einer neuen Revision. Sie trat ein, doch ohne Beihilfe irgend eines Herrschers und als spontane Rückkehr zu den veralteten Buchstaben, die Karls des Gro ßen Bemühungen ins Leben gerufen hatten. Das hatte einen einfachen Grund. Die Führer in der als Renaissance bekann ten literarischen und künstlerischen Bewegung des fünfzehn ten Jahrhunderts bildeten ihren Geist an den klassischen Texten des alten Rom. In sehr vielen Fällen hatten sich diese als Manuskripte in Karolingischer Handschrift erhal ten, und es entstand eine Schreibergilde, die beim Abschrei ben der klassischen Texte das Original auch in der Schrift kopierten. Dieses Neukarolingisch tauchte zuerst in Florenz auf, wo der berühmte Humanist Niccolo Niccoli sich als ei ner der ersten persönlich für Kalligraphie interessierte und etwa um das Jahr 1425 eine Schule leitete. Hier wurden 10