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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 07.10.1889
- Erscheinungsdatum
- 1889-10-07
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-188910072
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18891007
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18891007
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1889
- Monat1889-10
- Tag1889-10-07
- Monat1889-10
- Jahr1889
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 07.10.1889
- Autor
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Aber Lieber, von Venen der Refrain fehlt, Tanztheile, welche man der Ersparniß halber verstümmelt hat . . . Und das wird seelen los heruntergedudelt, nicht einmal, nein, womöglich gleich ein halb Dutzend mal, mit dieser frechen, kreischenden Aufdringlichkeit, mit diesem handwerksmäßigen Nacheinander der wahnsinnigsten Programmfolge. Da» soll sich auf die Straße wagen dürfen, soll musikalisch gebildete Ohren gewissermaßen beim Ohrläppchen festhalten und zwingen dürfen, zuzuhören? Der Staat, der in der Schule zwangsweise das Ohr musikalisch bildet, dürfte wirklich dies Marterinstrument ermächtigen, ebendasselbe Olir stundenlang zu martern? Auf die Tanzsäle der Dors- kneipen mit ihnen, da mögen sie zum Tanz ausspielcn — dabei ist die Musik nicht Selbstzweck, sondern nur HülfSmittel, und da» Ohr hört sie kaum; in geschloffene Privaträume von Mufikdarbaren, die den Genuß für sich selber zu verantworten haben, wie die Folgen des gleichzeitigen Genusses von Bier, saurer Milch. Obst und Gurken salat! Aber nicht auf die Straße, wo Jedermann gezwungen ist, sie zu hören; das ist Unfug — grober, das ist sackgrober Unfug!" Der erregte Musikdirektor fiel erschöpft auf die Bank zurück und wischte sich mit einem rothseidenen Taschentuch sorgfältig, doch mit dumpfem Stöhnen über den Spar scheitel. Der Fleischermeister, Stadtverord nete und Vertheidiger Pickert hatte während der eben vernommenen Rede beständig den Kopf geschüttelt, die Augen gerollt, den „Musikus" Ncumann angestoßen und andere Zeichen höchster Unruhe von sich gegeben. Jetzt sprang er auf. „Meine Herren..." ..Ich muß den Herrn Vertheidiger er suchen, sich in Geduld zu fassen," unterbrach ihn der Richter in drohendem Ton und höchst nachdrücklich. .Jetzt werden die Zeugen ver hört." Herr Pickert steckte zum Beweise seines Gleichmuths die Hände in die Hosentaschen und ließ sich nieder, indem er den Mund wie zum Pfeifen vorschob. .Zeuge Blüthgen, ich bitte!" „Ich bin Schriftsteller." sagte ich ebenso langsam wie deutlich, nachdem ich ein paar Schritte zum Richter hin gethan. „Ta« ist mein Beruf, der mir einen guten Theil meines Lebensunterhalts erwirbt. Ich be finde mich in der unglücklichen Lage, nicine gesammte Arbeit allein, ohne Unterstützung durch Hilfskräfte, verrichten zu müssen; sie steuert nicht ohne mich, wie die des Kauf manns. der seine Commis, die des Bau meisters. der seine Maurer und seinen Polier anstcllt. Ich habe ferner das Unglück, etwas empfindliche, eindrucksfähige Nerven zu be sitzen — leider speziell empfindlich für Ge räusche. so zwar, daß ich unfähig bin, auch nur einen (Hcdanken zu soffen, wenn mein Ohr stark in Anspruch genommen wird. Ich pflege de» Vormittags zu arbeiten, in welcher Zeit ich am besten zu arbeiten disponirt bin. Nun geschieht e» durch zwei Vormittage in der Woche, daß vor meinem Gehör eine, zwei, ja drei Drehorgeln ihre Stimmen er schallen lassen: zu meiner Verzweiflung, zum Schaden meiner ErwerdSthäligkeit im be sonderen und der deutschen Literatur im all gemeinen. Zwei Tage in der Woche, Herr Richter, wird mir meme Arbeitszeit gestohlen von diesem ntchtSwürdigen Kasten dort; ich kann die Fenster doppelt schließen, ich kann in den verstecktesten Winkel meines Hauses flüchten — es nutzt mir nicht», dieses In strument hält sich von magistratswegcn be rechtigt, mich zu verfolgen. Und ich klage nicht um die Arbeit allein: dieses Geschöpf da verdirbt meinen Charakter. Ich bitte sich zu vergegenwärtigen, in welchen Zustand der Entrüstung ich gcrathe. wenn jene heillose Musik beginnt. Wuth faßt mich, grenzenlose Wuth; ich behalte mühsam soviel Gewalt über mich, um nicht jenen meinen Peiniger zu zerschlagen, ich hege den brennenden Wunsch, seinem Helfershelfer den Kragen umzudrehen. In Gedanken bade ich bereits eine Reihe der scheußlichsten Mordthaten begangen! Meine unschuldige Familie, mein armes HauSper- sonal haben derartige Ausbrüche de» in mir kochenden Vulkans zu gewärtigen, daß sie mich bereits ängstlich m diesem Zustande meiden. Ich finke moralisch so tief, daß ich mich nicht mehr traue meine Hauskatze auf den Schwanz zu treten und meinen Jagdhund mit Fußtritten zu regaliren. Ich bitte um Abhilfe: Schutz meiner Arbeit, Schutz meiner unsterblichen Seele, Schutz den mir anver trauten Lebewesen!" Mit dem frohen Gefühl, nichts als die lautere Wahrheit bezeugt zu haben, zog ich mich zurück, nicht ohne bemerkt zu haben, daß der Eindruck meiner Rede auf den Ge richtshof sowohl wie auf das Publikum ein starker war. Der Richter räusperte sich ein paarmal, ehe er fortsuhr. „Zeugin Weber, darf ich bitten!" Meine Nachbarin, ein stilles älteres Fräulein, etwas kränklich im Aussehen, sagte, indem sie sich erhob, mit gedämpfter Stimme: „Ich bin öfter krank, leide besonder» an Migräne, wobei ick wenig Geräusch ver tragen kann; eö macht mir immer die schreck lichsten Schmerzen und Zufälle, wenn dann die Drehorgel rn der Nachbarschaft spielt. Ich habe mir schon ein Antiphon gekauft, aber bei Migräne kann ich es nicht am Ohr vertragen." „Nun, da wäre ich denn wohl dran," erscholl es neben ihr und eine kräftige, wohlgerundete Bürgcrsfrau. breit aufgedonnert, segelte bis dicht vor den Richter. „Im vorigen Jahre an einen Mittwoch starb mein Mann; zwei Stun den dauerte es mit dem Armen, und die ganze Zeit hat dicht unter unscrm Fenster das gottvergessene Instrument gelärmt, und wie ich das Fenster ausmachte und hinunter meine Meinung sagte, grinste mich der Mensch da an und dudelte erst recht, bis ich zu: Polizei schickte. Mein Mann hat sich zu Tode über den elenden Kerl da geärgert, davon bin ich überzeugt." „Ich ersuche die Zeugin, sich der Be leidigungen zu enthalten," bemerkte milden Tons der Richter. „So? Na da!" — meinte die Dame und segelte auf die Bank zurück. „Zeuge Knötel — Sie find als Armen- pflegcr zum Sachverständigen wegen des letzten Punktes der Anklage vorgeschlagen. Wollen Sie sich gefälligst äußern?" Der lange ungewöhnlich hagere alte Herr Hub etwa» schwerverständlich an: „Ich kann im Umherschleppen und Drehen dieieS In strumenta kein Gewerbe sehen, wie das Ge setz e» thut. Der Begleiter desselben ist auf müde Gaben angewiesen, hat kein Recht für seine Thätigkeit etwa» zu fordern; die meisten, welche ihm geben, thun e» mehr oder weniger widerwillig, mit dem selben Gefühl, mit dem man einen Bettler abfertigt, und cs dürste nur eine geringe Zahl von Personen existiren, die einen Genuß zu bezahlen wünschen, indem sie Geld an den Orgeldreher verabfolgen. Selbst diejenigen, welche sich das zweifelhafte Ver gnügen, eine Drehorgel zu hören, gern gefallen lassen, würden nicht einen Schritt gehen und nicht einen Pfennig opfern, wenn es in ihre Wahl gestellt würde, sich dieses Vergnügen zu verschaffen. Nur daß man ihnen un gefragt erst etwas vororgelt, bestimmt ihre Gutmüthigkeit schließlich, für die Leistung zu entschädigen. Ich bin durchaus der An sicht, daß es sich bei der Drehorgel um einen privilegirtcn Bettel handelt." „Ich danke. — Hat einer der Herren vielleicht noch eine Frage? — Nicht? — Dann ertlicile ich dem Herrn Amtöanwalt da» Wort." Am Anwaltstische erhob sich ein schlanker Mann in mittleren Jahren mit einem Schnurr bärtchen, schwarzem glatt gescheiteltem Haar und dunklen ernsthaften Augen. Er bewegte in der rechten Hand einen Bleistift und sing in geschäftsmäßigem Tone zu reden an: „Hohes Gericht! Es ist etwas vollkommen Begreifliches, wenn in der Entwicklung des öffentlichen Lebens gewisse Dinge, die eine Zeitlang unangefochten, ja begünstigt durch die öffentliche Meinung bestanden haben, ihr Existenzrecht für ein absolutes und un antastbares halten und sich so schmälich dagegen sträuben, für veraltet, abgethan, ja ver werflich erklärt zu werden. Nicht minder begreiflich ist es, daß die öffentliche Meinung aus einer Art Toleranz gegen das Her gebrachte diesem Sträuben Vorschub leistet, auch wenn in den Kreisen thatkräftlger Intelligenz längst und immer dringlicher da» „Weg damit!" gesprochen worden ist. Eines der schlimmsten derartiger Ueberblcisel, so scheint mir nach dem, was wir soeben von den Zeugen gehört haben, muß jene Klaffe volksthümlicher Musikinstrumente ge nannt werden, zu welcher Angeklagte gehört. Jene Zeit, in der diese Instrument auf- tauchten. wird dieselben zweifelsohne mit beifälligstem Interesse begrüßt haben; Gene rationen haben sie gern gehört, Generationen, meine Herren, welche andere Nerven hatten, weit weniger interefsirt zu arbeiten hatten, anders über manche Dinge, z. B. den Bettel dachten, als wir, damit schließe ich keineswegs aus, daß man diese Art öffent licher Musikübung nicht vielfach schon in jener Zeit als eine Belästigung empfunden hat; allein einmal ist die Zahl dieser In strumente erheblich gewachsen, ihre Musik eine erheblich lautere geworden, zweitens das musikalische Gefühl in weiteren Kreisen entwickelt worden: und endlich bedarf es öffentlichen Belästigungen gegenüber vielfach einer längeren Zeit, ehe die im Gefühl gegebene Opposition zur bewußten wird und lawinenartig wachsend sich zu einem Willens-Ausdruck bringt, der die öffentliche Diskussion über Sein oder Nichtsein zu einer nicht mehr zu vermeidenden macht. Ich meinestheils halte jeden Punkt der An klage für durch die Zeugen erwiesen und beantrage da» „Schuldig" unter Annahme mildernder Umstände. Was die letzteren be trifft, so lassen sich dieselben ohne Zweifel daraus begründen, daß die Behörde heute noch die Ausübung de» Orgeldrehen« auf der Straße im Prinzip gestattet und diese — die Frauen lassen einen Haussier mit schmutzigen Stiefeln nicht gern m die Stube herein? Alice erklärte, sie wollte wiederkommen: im Stillen beschloß sie, in irgend einer Kon ditorei zu warten, bis der Alte zurückkchre. Aber als sie die vier Treppen hinabgeklettcrt war, traf sie den Alten und — wo? Er saß auf der untersten Treppenstufe, offenbar, um für den Aufstieg Kräfte zu sammeln. Der ominöse Kasten und der nasse baum wollene Regenschirm lagen ihm zu Füßen. Der Alte wischte sich den Schweiß von der Stirn und zitterte doch zugleich vor Kälte. Ein heißes, ungekanntcö Empfinden stieg in Alicen'S Herzen auf: Das Mitleid mit diesem ermüdeten Alten. Hatte er nicht zeitlebens mehr als seine Pflicht gethan, sich geplagt, um seine Kinder gut zu erziehen? Und trotzdem wollte er kein Gnadenbrod von ihnen annehmen — wollte arbeiten so lange er es vermochte! Und an solchen Tagen wie heute war es doch wohl keine „liebe Gewohnheit", wie Arnold opti mistisch meinte, heute war eö doch wohl ein stolzes, starkes Pflichtbewußtsein, das den Greis hinauStricb in den strömenden Regen, da» Waarcnlager unter dem Arm und den baumwollenen Regenschirm mehr zum Schutze dieses Letzteren als zu seinem eigenen be nutzend. Sollte eS nicht schön und verdienst lich sein, ihm nach solchem Tagewerk eine trauliche Stunde zu bereiten? Und zum ersten Male wurde in ihrer Brust eine zärtliche Regung wach für den Schwiegervater. Plötzlich stand sie vor dem alten Manne und taßte seine kalten Hände. „Ich bin gekommen, um Sie zu uns zu holen, lieber Schwiegervater," sagte sie herz lich, „heute Vormittag habe ich mich über eilt und will es nun gut machen." Der Alte fand vor Staunen und Ucber- raschung gar keine Antwort. Sie faßte mit der einen Hand seinen Arm, ergriff mit der anderen den Riemen, an welchem der Hausir- kosten getragen wurde und brachte Greis und Kasten nach der Droschke. Sie hatte den Schwiegervater in da» Speisezimmer geführt und ihn mit einer Taffe Thee gelabt, während man mit dem Abendbrod noch auf Arnold wartete. Endlich kam Arnold mit kalter, verschlosse ner Miene. Schüchtern trat sie ihm entgegen. „Du bist lange fortgeblieben." „Ich habe meinen Vater gesucht," ver setzte er finster. „Nach der schweren Kränkung, die er heute erfahren, wollte ich ihm ein gutes Wort gönnen. Du wirst mir das viel leicht übel nehmen, aber ich konnte nicht anders; konnte ihn aber nicht finden, weder in seiner Wohnung. noch in seiner Kneipe, noch bei meinen Brüdern." „Tein Vater ist hier", sagte sie ganz leise, „ich habe ihn selbst geholt — ihn sammt seinem Kasten ..." Und sie führte den starr aufschauenden Mann in daö Speisezimmer. Da saß der Alte hinter seiner Theetaffe, ein Bild de» Behagens, der Zufriedenheit. „Alice," schrie Arnold auf, fast ganz so wie jener Wilhelm, „Alice — Das vergesse ich Dir mein Lebtag nicht!" „KinderkenS," sagte der Alte, „ich auch nicht!" Wrozeß öcr Drehorgel. Humoreske von Victor Llüthgin. (Nachdruck verdaten.) rundlich doch ich will nicht vor weg der nachfolgenden interessanten Verhandlung den Spannungsfaden abschneiden. Sie war eine alte Drehorgel, ein braves altes Möbel, mit Perlmutter ausgelegt und mit grüner Seide vor den Pfeifen. Ein dicker GenchtSdiener mit kurzem schwarzen Bürstcn- haar trug sie herein, denn sie war angcklagt — vor da» Schöffengericht der öffentlichen Meinung gefordert wegen groben Unfugs, Gewerbsstorung, Gesundheüügefährlichkeit, Schädigung der öffentlichen Moral und ge werbsmäßigen Betteln». Eine recht ausgiebige Anklage, wie man sieht. Sie warm einem kleinen aber hübschen mär kischen Badeort, einem Paradies der Dreh orgeln, aufgegriffen worden, um vor die Justiz gestellt zu werden und eine Vorentscheidung her- bcizuführen — denn, die Wahrheit zu sagen, hatte sie nicht mehr Schuld, als die drei Genoffen, die gleichzeitig mit ihr durch zwei Wochentage in den Straßen jenes Bade örtchens zu „arbeiten" pflegten. Und wahr lich mit Lust! Denn die Drehorgeln haben mit den Nachtigallen gemein, daß sie vor zugsweise gern an Orten sich hören lassen, welche sich einer guten Akustik erfreuen, und die» kann man von jenem Städtchen, das sich in enge Bergschluchten streckt, mit Fug und Recht behaupten. Sie hatte so etwas Mürrisches, Ver stockte» im Aussehen, die brave, alte Dreh orgel, welche der dicke Gerichtsdiener da schnaufend in die Schranken setzte, weil sich die Anklagebank als von ungeeigneter Form für ihre Aufnahme erwieS; und sie ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, als der Mann de» Gesetze» au» Versehen ihren Schwengel berührte, ihrer Verstimmung durch ein kurzes Quieken Ausdruck zu geben. „Fischerin, du kleine!" flüsterte es im dichtbesetzten Zuschauerraum, und es ver breitete sich wie Sonnenschein über die Ge sichter. Der Richter rief: „Ich ersuche um Ruhe im Publikum!" und fuhr dann fort: „da ich voraussetzen muß, daß die Angeklagte nicht Worte zu finden vermag, so bin ich ge- nöthigt, von ihrer Vernehmung abzusehcn und mich an den Herrn Vertheidiger zu wenden." „Zu jeder Auskunft bereit!" erhob sich wuchtig ein vierschrötiger Mann mit rothem Gesicht, der neben einem einäugigen, ver kommen auSschenden Individuum innncrhalb der Schranken gesessen hatte. „Ich bin.. .„ „Erlauben Sie gefälligst." unterbrach der Richter. „Sie sind der Vertheidiger. der Fleischermeister und Stadtverordnete Pickert." „Jawohl, und ich lasse auf die Dreh orgel nichts kommen, theils aus Prinzip, theils au» Menschlichkeit und theils weil ich sie gern höre." „Davon später. Die Angeklagte ist in Rixdors geboren, und ihr derzeitiger Besitzer der im übrigen beschäftigungslose ehemalige Kellner Neumann." „Musikus Neumann," sagte der Einäugige, kurz auf- und niederschnellend. „So ist e»," nickte der Vertheidiger. „Angeklagte ist beschuldigt de» groben Unfug», der Gewerbsstorung, Gefährdung der Gesundhei. der öffentlichen Moral, sowie des gewerbsmäßigen BettelnS. Ich frage den Herrn Vertheidiger. ob er die Schuldfrage bejaht oder verneint?" .Ganz im Gegentheil. Was die Be triebsstörung ist. . ." „Später, bitte. Ich werde zunächst die Zeugen verhören. Zeuge Kulike, was haben Sie zur Sache beizubringen?" Aus der Zahl von Personen, die sich auf der Zeugenbank befanden, erhob sich ein jovial dreinschauender junger Mann, schlank, gut gekleidet, offenbar den wohlhabenden Ständen angehörig. „Herr Richter," sagte er, „es ist mir vor einiger Zeit geschehen, daß ich, Abends vom Restaurant nach Hause gehend, Lust bekam zu singen." „Um welche Zeit war das." „Gegen 10 Uhr. Warum sollst du nicht fingen? fragte ich mich. Ich stimmte also das Lied: <> ya geschmauset — an, und ich fand mich nicht veranlaßt, das Singen einzustellcn, als ein Wächter Bedenken dagegen äußerte. Die Folge war. daß ich wegen groben Unfug« polizeilich bestraft wurde. Nun habe ich diese Drehorgel da nicht einmal, sondern allwöchentlich zwei Tage lang in den sämmt« liehen Straßen der Stadt einen musikalischen Lärm vorführen hören, gegen die mein Singen AeolSharfenklang war. Ich frage: aus welchem Grunde soll sic nicht bestraft werden?" „Meinen Sie nicht, daß nächtliche Ruhe störung etwa» andere» ist." „Keineswegs. Schlaf ist Schlaf, mein Mittagsschlaf ist mir so nöthig, wie mein Nachtschlaf, und e» schlafen um zwei herum am Tage ungefähr ebensoviel Menschen, wie Abend» um zehn. Wer sich auf sein Sopha legt und eine halbe Stunde lang verzweifelt kämpft, um zu schlafen, während draußen ein solch elender Jammcrkasten sich öffentlich ermächtigt hält, ihm die Nerven wach zu heulen, den bitte ich zu fragen, ob er dieses Geheul für groben Unfug hält oder nicht." Zeuge Kulike nahm Platz. „Zeuge Kienitz, wollen Sie sich äußern." Em Mann nnt einer stillen Bürgerphy siognomie stand ruhig auf. „Ich bin Fuhrmann; da sollen wir, wenn wir Eisenstangen fahren, was Weiches unter legen, damit der Spektakel von den Eisen stangen nicht so laut in den Straßen klingt, und das hat ein Kutscher von mir nicht gemacht, und dafür bin ich bestraft worden. Diese Orgel da macht alle Wochen zweimal in der ganzen Stadt einen Spectakel, daß man'S durch sechs Thüren hört und wird nicht bestraft; wenn die Leute das nicht gcnirt, dann können Sie wohl auch vertragen, wenn Eisenstangen ohne Unterlage durch die Straßen raffeln." „Hm! das ist doch aber nicht Musik!" „Musik!" rief leidenschaftlich aufspringend ein älterer Herr mit feinem, völlig rasirtem Gesicht und grauem Anleihcscheitcl. „Wenn das Musik ist, so istS Sphärenmusik, wenn ein Wagen mit ungeschmiertcn Rädern quiekt." „Bitte, Herr Musikdirektor, Sie sind Sachverständiger," nickte höflich der Richter. ,O Gott, wissen Sie, meine verehrten Herren Richter, wa» e» für ein musikalisch gebildete» Ohr heißt, diese Musik anhören zu müssen? Diese Gassenhauer, Tanze, irgend ein Dideldum au» einer traurigen Operette oder aus dem Tingeltangel, schlecht, oft falsch gesetzt, oft genug von halb ver stimmten Pfeifen gepfiffen — oh! und wenn diese Piecen noch vollständig herauSkämen!
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