02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.02.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-02-16
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18950216026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895021602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895021602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-02
- Tag1895-02-16
- Monat1895-02
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Ertra-Veilage» (gesalzt), nnr mü de« Morgen.Au-gabe, ohne Postdesärderung 60.-. mit Postbesörderung 70-.. Annahmeschluß für Anzeige»; Abend-Ausgabe: Vormittag» 10 Uhr. Marge «.Ausgabe: Nachmittag» »Uhr. Sonn- und Festtags ftüh '/,S Uhr. Lei den Filialen und Annahmestelle» je eine Halde Stunde früher. Anzeigen sind stets an die «rpedttla» zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig ^»87. Eonnabenb den 16. Februar 1895. Zur gefälligen Beachtung. Unsere Expedition ist morgen Sonntag, den IV. Februar, Vormittags nur bis '/»S Uhr geöffnet. Lxpeäition des I^elpri^er ^LZtzdlattes. Politische Tagesschau. * Leipzig, 16. Februar. Da die Männer deS neuesten CurseS eine Erklärung über ihre Politik in einer nationalen Frage von höchster Bedeutung, nämlich über ihre Polcnpolitik, noch schuldig waren, so muß man dem Abg. von Jazdzewski dafür dankbar sei», daß er die gestrige Berathung des preußischen Abgeordnetenhauses über den Titel „Gehalt des Ministers des Innern" mit einer abfälligen Beurtheilung der Bismarckfahrten der Deutschen aus Westpreußen und Posen und mit einer Verdächtigung deS Vereins zur Förderung des Deutschthums im Osten einleitete und damit eine Aeußerung der Negie rung provocirte. Der Herr Abgeordnete entledigte sich seiner Aufgabe mit der bei seinen Landsleuten ge wohnten Dialektik, welche dem durch die Polen innerhalb und außerhalb von Organisationen bedrohten Dentscbthum die Rolle des reißenden Wolfes zuweist, der das friedfertige Polenlamm zu zerreißen droht. Die zahlreichen polnischen Nationalvereine erklärte der Redner für harmlos, den Zusammenschluß der Deutschen fand er „empörend". Die Abgg. v. Tiedeiuanu-Bomst und v. Unruh-Bromberg unter ließen nickt, diese Darstellung auf Grund ihrer Kenntniß polnischer Friedfertigkeit zurechtzurücken, nachdem Minister des Innern v.Kö lle r den Standpunkt der Regierung gekennzeichnet hatte. Die vom Telegraphen schon im Auszuge gemeldete Rede des Ministers lautete nach ausführlichen Berichten folgendermaßen: „Dcr Abg. Motty hat schon neulich dieselbe Frage wie der Abg. Jazdzewski gestellt. Ich war leider durch Geschäfte verhindert, in der damaligen Sitzung anwesend zn sein. Herr Motty behauptete, daß der Verein zur Förderung des Deutjchthums verstoße gegen 'Artikel 8 des Vereinsgesetzes von 1850, wo bestimmt ist, daß weder Frauen ausgenommen werden, noch die einzelnen Zweigabtheilungen in Verbindung miteinander treten dürfte». Diese Behauptung ist sachlich irrig. Der Verein als ein nichtpolitischer füllt nicht unter H. 8, sondern Z. 2 jenes Gesetzes. Wenn der Abg. Motty jagt, von jenem Verein werde das ganze Deutschland wachgerufen znm Kampf gegen das Polenthum und Slawenthum, so hat er damit denn doch die Grenzen einer berechtigten Kritik an diesem Verein wesentlich überschritten. Er behauptete ferner, die Deutschen seien die Angreifer, er verlange kein staatliches Ein greifen gegen den Verein, das sei ungesetzlich. Damit hat er aller- Lings recht. Will man anklagen, so hat man zunächst die Pflicht, die Tendenzen des Anzuklagenden zu prüfen. Ter Verein hat aber darüber in seinen Publicationen keinen Zweifel gelassen, daß er nicht die Bekämpfung des Polenthums, sondern die Stärkung des Deutjchthums auf seine Fahne schreibt. Motty fragt: Liegt es im Interesse der Staatsgewalt, wenn die Beamten den Polen den Vernichtungskrieg erklären? Ich antworte mit einem runden Nein, und frage meinerseits: Wo ist denn das ge schehen? Aus dem Umstande, daß zwei evangelische Pastoren den Aufruf jenes Vereins Unterzeichneten, leitet der Abg. Motty das Recht ab zu der Frage, ob Diener der Kirche den Haß gegen ihre Mitmenschen predigen dürfen. Das sind baare Uebertreibungen, und auf diese stößt man, wenn inan Satz jür Satz die Beschwerden der Abgg. Motty und Jazdzewski verfolgt. Ter Abg. v. Jazdzewski hat sich insbesondere darüber beklagt, Laß den Marcinkowskischen Vereinen mangelndes Wohlwollen entgegengebracht werde, und sicy darauf berufen, daß man ihnen die Porloirecheit nur früher gewährt habe. Was hätte denn der Vorredner dazu gesagt, wen» wir dem neuen deutschen Verein die Portosreiheit gewährt Hallen? Ich erkenne ja an, daß die Wirkungsweise dieser Marcinkowskischen Vereine wohl- thätig ist, erinnere aber zugleich daran, daß gegen die Gründung der- artiger polnischer Vereine niemals aus deutscher Seite ein Wider- jpruch erhoben wurde, und erinnere vor allen Dingen hier an die Josaphawereine und ähnliche. Neuerdings sind die Herren Polen in der Gründung von Vereinen aber etwas weiter gegangen. Sie haben den Verband aller Polen Deutschlands sogar nach dem Westen, in die Provinz Westfalen verlegt. Wenn also Herr v. Jazdzewski sagt, ganz Deutschland mache man mobil gegen die Polen, so hat er sich damit einer kleinen Uebcrtreibung schuldig gemacht. Die Polen haben mobil gemacht gegen die Deutschen (Zuruf von den Polen: Gegen die Locialdemokraten l), nicht nur gegen die Socialdcinokrate». Wenn man die Verhand lungen jenes ersten Verbandstages in Bochum liest, ersieht man daraus, daß Herren aus Leu östlichen Provinzen, aus Posen dorthin gereist sind, um dem Vereine zu Helsen. Es wurde dort für die Verbreitung des Verbandes über ganz Deutschland eingehend agitirt. Diesem Versuche ist seitens der Regierung nicht entgegen» getreten worden. Sie können also auch nicht verlangen, daß der Verein zur Förderung des Deutschthums in den Ostmarken mit anderem Maße gemessen werde. Vor dem Gesetze sind alle Preußen gleich. Herr v. Jazdzewski sprach schon davon, daß ich mit Ausschnitten aus polnischen Zeitungen kommen würde. Gewiß lege ich den'Aus lassungen der Presse wenig Werth bei. Ich weiß, wie die Presse zu Stande kommt, weiß, daß in tendenziöser Weise von der einen Seite ebenso wie von der andern geschrieben wird, und die Artikel in den Zeitungen machen auf mich und haben auf mich in meinem Leben noch keinen Eindruck gemacht. Wir müssen aber doch ein ausmerk- sames Auge auf derartige Preßerzeugnisse haben, wenn wir bedenken, daß die Leser im Lande über die Zeitungen doch nicht ganz so denken wie Herr v. Jazdzewski. In einer polnische» Zeitung steht eine Warnung an Herrn Kennemann: „Ich rathe dir daher gut: laß ab von dem Streit, höre mit deinem Zeitvertreib auf und hüte dich mit deinen College» ... man»,... mann, daß ihr in eurem eigenen Hause nicht gehängt werdet." Uns wird das nicht ausregen, aber schön ist das nicht. (Heiterkeit.) Ein anderes Blatt fordert seine Abonnenten auf, doch die Polenfresser, die bekannt geworden sind, zu nennen, es würde dann in besonder» Beilagen die Namen derjenigen, die die Polen todtschlagen wollten, mittheilen; deshalb möge man alle Genossen des H. K. L.-Bereins namhaft machen. Ich glaube, das ist eine Agitation, die Herr v. Jagdzewski auch nicht billigen wird. Herr v. Jagdzewski deutete an, daß der Minister des Innern wahr scheinlich mit den Vorgängen in Kosten und Schrimm be kannt sein würde. Ich kann Ihnen die Verlesung der Angelegen heiten. die dort gespielt haben, leider nicht ersparen. Zunächst also der Kreis Kosten. Dort hat auf einem Kreistage der Ab geordnete Baron v. Chlapowski eine Erklärung verlesen, deren Verlesung an sich nicht hätte geduldet werden sollen, da aus die Kreistage politische Angelegenheiten nicht gehören. Dcr Inhalt dieser Verlesung ging dahin: „Bisher habe zwischen den beiden Nationalitäten im Kreise Kosten zu Aller Genugthuung und im Interesse der Geschäfte eine große Einträchtigkeit geherrscht; ein Mißton sei nur dadurch hineingefallen, daß ein deutscher Verein, der eine ausgesprochen antipolnische Tendenz Hobe, unter Leitung der Herren Hanjemann, Kennemann, Tiedemann ge- gründet worden sei. Er hoffe, das werde die unparteiische Verwaltung der Geschäfte nicht stören. Jedenfalls würden seine Freunde in dieser Beziehung Alles thun, das bisherige freundliche Einverständniß zwischen den beiden Nationalitäten aufrecht zu erhalten." lieber diese Erklärung habe ich mich gefreut; denn sie verfolgt den Zweck, den Frieden den Nationalitäten zu erhalten und die Politik ans einem Selbstverwaltnngskörper heraus zn lassen, in den sie nicht gehört. Das fühlten auch die deutschen Vertreter des Kreis tages, und sie haben da erklärt, daß sie einer solchen Auffassung gegenüber vollständig geneigt wären, mit den Polen in Kreis- und Provinzialangelegenheiten weiter zum Gedeihen dcr Provinz zu wirken. Nun, die Angelegenheit ans dem Kreistage zu Kosten ist zu Aller Zufriedenheit verlausen. ^,!be''ich? mit'^AnÄ dÜzu Kreistage zu Schrimm"der >6, 6 . «est wieder auf- gewesen, daß die, polnnchc Der Vorgang gebauscht und daß m der Pre, - ? tzen Ver war folgender: Deutsche KreislaMbgeordnete. ^„en sanimliingSraum llincmtraten, g' Gute» Tag zu heran, ihnen die Hand . . antwortete darauf: sagen. Ein polnifcher Gerung des Teutschthums suchen der andern Krelstagsabgcordneten, ch c>„h„lt vorher den Redner unterbrechen wollen, aus wiederholtes Bll y idi» inden leider die völlige Verlesung geilattet. Tiefes ,'L 'Lish daß'doch nich/alle Polen so friedllch deA w e hier dargcstcllk wird. Es lautete 'UMwhr- -.Wir Protest,rui^m das Mereiitschiedenste dagegen, da» Mitgliedern des rur Mörder»»» des Deutichtdnms NI den Oftmarken l^ltz uno Stimme im Kreisausschuß eingerüumt bleibt, und gebe» diesen H-rre unser ausdrücklichstes Mivtranensvotum, weil w r mit einiger Logik annehmcn können, daß die Mitglieder eines Vereins, Förderung eines Theiles der Einwohnerschaft an, ihr Panier ge Neben habe." mehr fähig sind, ihr dlmt obl-ct.v und zweck- mäßig zu verwalten." Das ist eine offene Kriegserklärung an die Herren, die in den Augen des vr. v. Zoltowski das Unglück haben, diesem Verein anzugehören. Das können wir dock n'ch billigen. Das Deutschthum in den Lstmarken^in«K >eder Deutsche fördern, der sei» Vaterland Uebt. (^Halter Beifall Unruhe im Centrum.) Wenn inan Jemand, der die deuliche Nationalität fördern will, der sür das Deutschthum e,n- treten will, den Krieg ansagt, ihm sagt: „Tu ln>t nicht mehr fähig, dein Amt unparteiisch zu verwalten. so „t daS e.n offensives Vorgehen, dem gegenüber ernsthafte Zurück weisung entschieden gefordert und geboten ist. lebhafter Beifall. Unruhe im Centrum.) Es thut mir leid, daß ich das so offen aussprechen muß, ober es i,t gut, wenn die Sache in dieser Weise voin Regierungstliche auS klargesteltt wird. Herr v. Jazdzewski hat sich dafür ausgesprochen, für den Frieden und die Einigkeit zwischen Tentschcn und Polen wirken zu wollen. Das ist voll und ganz der Standpunct der Staatsregierung. Tie beiden Nationen sollten gerade in heutiger Zeit lieber das suchen, was eint, als das, was entzweit. (Beifall.) Ich mache keiner der beiden Parteien eine» Vorwurf, daß sie angegriffen hat, aber die A,faire des Kreistages in Schrimm war ein ungerechtfertigter Angriff der Polen gegen das Deutjchthum. (Beifall) Wenn vom Regierungs- tisch erklärt wird, daß der eine Verein wie der andere nach dem bestehenden Recht behandelt wird und werden muß, so muß diese Aeußerung auch dazu dienen, daß wir wieder zu Frieden und Ein tracht kommen. Bereinigen Sie sich in Ihrer Kreis- und Provinzial Verwaltung in gemeinsamer Arbeit zum Segen der Provinz, wo Sie beide nun einmal wohnen und wohnen müssen." (Lebhafter Benall.) Diese „offene Aussprache" des Ministers, diese „Klar stellung vom Regierungstische aus", ist der dankbaren Be grüßung durch alle national gesinnten Deutschen sicher; denn sie giebt die beruhigende Gewißheit, daß mit der Polenpolitik des Grafen von Caprivi grundsätzlich gebrochen ist. Herr von Köller hat sehr versöhnlich gesprochen. Ging er doch soweit, den nationalpolnischen Auslassungen der polnischen Presse, die zweifellos als getreuerAusdruckder herrschenden Stimmungunter den Polen anzusehen sind, „wenig Werth" beilegen zu wollen. Aber gleichviel! Herr von Köller hat festgcstellt, daß die Polen es sind, die gegen die Deutschen mobil machten; er hat die Lauheit der Beamten, über die wieder holt und schwer geklagt werden mußte, unverblümt getadelt und im Gegensätze zn den schwachherzigen Vertretern der deutschen Staatsgewalt anerkannt, daß dem offensiven Vor- 88. Jahrgang. gehen der Polen gegenüber ernsthafte Zurückweisung ent schieden geboten ist. Bon dieser Erkrnntaiß aus gehend, gelangte Herr von Köller folgerichtig zu dem Schluffe, daß die Förderung des Deutschthum,? in den Ostmarkcn die Pflicht jedes patriotischen Deutschen sei. Wir hegen die Zuversicht, daß der neueste Curs diese Pflicht als eine bedingungslose auffaßt, als eine Pflicht, die eS der Regierung verbietet, um ein paar polnischer Stimmen im Reichstage willen Concessionen an das Polenthum zu machen, welche hohe vaterländische Interessen zu schädigen geeignet sind. Gegen den früheren italienischen Conseilpräsidenten Giolitti ist, wie gemeldet wurde, wegen verschiedener in der Documentcnangelegenheit gegen ihn vorgebrachten Ver leumdungsklagen eine Vorladung erlassen worden. Hervorgehoben wurde bereits, daß wegen der Beseitigung der Actenstückc im Processe der Banca Roma na nicht obne Weiteres gegen Giolitti gerichtlich eingeschritten werden kann, da er sich damals in leitender Staatsstellung befand, so daß zunächst die Genehmigung dcr Deputirten- kammer eingeholt werden müßte, worauf dann der Senat sich als Gerichtshof constituiren würde. Zn dem bevor stehenden Processe gegen die Polizeibeamten, welche die Beseitigung der Documcnte auSzeführt haben, werden die Angeklagten aber jedenfalls sich mit den vom damaligen Conseilpräsidcnten ertheilten Anordnungen zu rechtfertigen suchen. Wenn nunmehr gegen diesen auf einer anderen Grund lage gerichtlich vorgcgangen wird, so handelt eS sich um Vergeben, die in einer Zeit verübt worden sind, in der Giolitti sich nicht mehr an der Spitze der Regierung befand. Falls der frühere Conscilpräsident der Vorladung nicht Folge leisten sollte, so würde gegen ihn in con tumaciam vorgegangcn werden. Zugleich wird, wie schon telegraphisch mitgetheilt, versichert, daß die Vorladung, falls Giolitti nicht erscheint, demnächst in einen Haftbefehl nmgeändert werden würde. Daß Giolitti die Folgen seines Verhaltens selbst deutlich erkannt hat, erhellt aus seiner schleunigen Abreise auS Italien. Damals hieß es, daß er nur die Weihnachtsferien im Kreise seiner Familie in Char- lvttenburg zubringen würde. Nunmehr wird sich zeigen müssen, ob er bereit ist, sich dem ordentlichen Richter seines Landes zu stellen. Aus die parlamentarische Immunität kann er sich nicht berufen, da dcr römische Cassationskof bekannt lich in einem anderen Falle, demjenigen deS socialiftischen Abgeordneten Prampolini, in diesen Tagen entschieden hat, daß nach dem Schluffe der parlamentarischen Session jeder Abgeordnete dem gemeinen Rechte unterworfen ist. Als die schwächste Seite der französische» Colonial politik wurde bis jetzt allgemein die notorische Vernach lässigung ihrer Entwickelung nach der Handels-, wirthschafks- und verkehrspolitischen Seite betrachtet. Das soll nun, wohl unter dem Druck der Erkenntniß, daß es den Franzosen gar zu schlecht anstehen würde, sich von den jüngsten, in die Bahnen activer Colonialpolitik eingelenkten Völkern, dem deutschen und dem belgischen, überflügeln zu lassen, anders werden. Dieser Beweggrund dürfte auch bei der voriges Jahr erfolgten Begründung eines eigenen fran zösischen Colonialministeriums wesentlich mit ausschlaggebend gewirkt haben. Jetzt sind die Arbeiten dieses Ressorts soweit vorgeschritten, daß ein regelrechter Colonial-Nachrichtendienst ins Leben getreten ist, der auch sein eigenes Preßorgan, die „Revue coloniale", besitzt, welches alle amtlichen Akten stücke, welche auf die Gestaltung des Handelsregimes ver Colonien Bezug haben, bringt, sowie alles irgend wie wichtige informatorische Material über die inneren FerriHetsir. Ein Becher Lethe. Roman von R. Teilet. (Fortsetzung.) Nachdruck verboten. 3. Capitel. „Wie heißt der Doctor?" fragte ich. Stephan erzählte mir darauf, der Doctor heiße Falck, wohne dicht daneben und zähle, trotz seiner Zugend, zu den be deutendsten Aerzten der Stadt. „Aber", setzte er hinzu, „er ist sehr stolz." „Ich finde ihn sehr anmaßend", bemerkte ich. „Er versteht die Sache, Ener Gnaden — wir können nur vermuthen." Es war offenbar, daß Stephan von der Unfehlbarkeit Falck's ebenso überzeugt war als der Doctor selber. Mir vermochten beide diesen Glauben nicht beizubringen. Selbst jetzt noch verfolgte mich der Gedanke, daß das Mävchen, das wir in der Todtcnballe gelassen hatten, nicht todt sei. Augen blicklich jedoch ließ sich nichts mehr dabei thun. AuS Neu gierde erkundigte ich mich, wann die Beerdigung stattfinden sollte. ' „Morgen Mittag um 12", antwortete er. „Werden ihre Angehörigen anwesend sein?" „Soviel ich weiß, besitzt sie keine Angehörigen, Euer Gnaden. Sie war erst ein paar Tage hier, als sie starb." „Aber vermuthlich hat sie hier Freunde und Bekannte?" „Ich weiß nicht — ich weiß wirklich nicht", erwiderte der alte Mann mürrisch. Seine Bekanntschaft mit dem Tode reichte ihm vollkommen auS; er konnte eS nicht begreifen, welches Interesse man an einem einzelnen Falle nehmen konnte. „Alles, was ich weiß", setzte er hinzu, „ist, daß mir befohlen wurde morgen um 12 Uhr Alles bereit zu halten." Ich sah ein, daß ich keinen Grund hatte, noch länger zu bleiben und wandte mich zum Geben. Da siel mir ei», daß ich deS alte» Mannes Laterne zerbrochen batte. Ich fragte ihn, welche Entschädigung er dafür verlangte. Natürlich „überließ er das meinem Gutdünken", wie derartige Leute es immer zu thun pflegen. Worauf ich ihm ebenso natürlich das Dreifache ihres Wertheö bezahlte. Seine trüben Augen leuchteten einen Moment freudig auf, als er das Geldstück, das ich ihm in die Hand gedrückt hatte, betrachtete. „DaS ist zu viel", sagte er zögernd. Zn der Thür kam mir abermals ein Gedanke. „Ich werde morgen um 12 Uhr hier sein. Versprechen Sie mir, daß Sie den Sarg nicht, eher schließen, als bis ich da bin." „Ich schließe ihn überhaupt nicht mein Herr; daS ist nicht mein Amt. Aber wenn ich es hindern kann, soll er vor 12 Uhr nicht geschlossen werden. Ich hätte ihm gern ein festes Versprechen abgenommen, mußte mich aber einstweilen damit zufrieden geben. Dann wünschte ich ihm gute Nacht und machte mich auf den Heimweg. Ich bewohnte ein reizendes Logis, dicht am Ufer deS Flusses, der die Grenzstadt durchzieht. Es bestand aus einem Wohnzimmer, einem daranstoßenden Schlafzimmer und einem nach Norden gelegenen großen ^saale, den ich mir als Atelier eingerichtet batte. Meine Wirthin, Frau Dablmeiner, war eine dicke, freundliche Wittwe, die gern lachte und als die größte Optimistin und die beste Frau der Welt gelten konnte. Sie war so freundlich, ein großes und mich nur zu oft genirendes Interesse an mir zu nehmen, das jedoch — zu meinem Glücke — ein rein mütterliches war. Als ich an jenem denkwürdigen Abende nach Hause zurück- kehrtc, wäre ich gern Frau Dablmeiner aus dem Wege ge gangen, wenn daS möglich gewesen wäre. Aber eS war nicht möglich, daS wußte ich schon im Voraus. Kaum hatte ich mein Wohnzimmer betreten, als sie lächelnd in demselben erschien, um sich nach meinen Wünschen zu erkundigen. „Nun, was werden Sie heute zu Abend essen, Herr Lindley?" begann sie. (Sie war groß darin, einem daS Leben bequem und angenehm zu machen.) „Soll ich Ihnen eine Portion Braten holen? Oder wollen Sie im Club essen? Sie sind ja jetzt fast nie im Hause. Das bat gewiß seine Gründe, seine guten, Sie fesselnde Gründe", setzte sie be deutungsvoll hinzu. Bon der Stunde ab, da ich als ihr Miether einzog, hatte sie diesen vertraulichen Ton mir gegenüber angeschlagen, und ich hatte ihn mir lächelnd gefallen lassen. Erstens war sie alt genug, um meine Mutter sein zu können, zweitens war sic die Herzensgute selbst, drittens aber war sie die Wittwe eines Beamten, dessen gesellschaftliche Stellung allerdings nicht die höchste gewesen zu sein schien, der aber ohne Zweifel bei der Post angestellt gewesen war, bis er selber ein todter Brief wurde. Zn Folge der Stellung ihres verstorbenen Gatten wurde Frau Dahlmeiner von ihren Bekannten „Frau Secretairin" angeredet, und ich, ein zufällig durch Deutschland reisender Engländer, hatte allen Grund, mich durch die Freundlichkeit der Frau Secretairin hochgeehrt zu fühlen. Heute jedoch war mir dieselbe ein wenig lästig, und ich er widerte der guten Frau, was mich festeste, sei einzig und allein der Club. „Ach du lieber Gott", rief die Frau Secretairin. „Das ist ja nichts Ungewöhnliches. Ich sah es ja selber am letzten Sonntag, als sie auö der englischen Kirche kamen. Und das stebt fest, daß die Tochter des Gencralconsuls ein hübsches Mädchen ist." «Miß Greene ist in der That sehr hübsch", sagte ich, ein wenig ungeduldig. Miß Greene, die Tochter deS englischen Gencralconsuls in Grenzstadt, war mir ungefähr so viel — ode.r vielmehr nicht einmal so viel als Frau Dahlmeiner. Aber die Bemerkung der Frau batte mich nachdenklich gemacht. Zum ersten Male siel es mir auf, wie sonderbar eS sei, daß uh mit meinen 25 Jahren bisher noch nie der menschlichsten Leidenschaft zum Opfer gefallen war. Ich batte schon viele Miß Greene's gesehen — ich meine viele hübsche Mädchen — aber noch nie fühlte ich mich zu Einer durch jene Macht bin- gezogen, welche die Menschen Liebe nennen. Vielleicht mache ich als Künstler zu hohe Ansprüche an Frauenschönheit und laste mich deshalb schwer befriedigen, oder ich beanspruche als Mensch mehr Geist und Witz, als ich ihn bisher in den oberflächlichen Salons gesunden habe. Miß Greene war eine Salonschönheit — nichts mehr und nichts weniger. Aber mich konnte nckr ein Charakter fesseln, wenn mein Herz sich überhaupt je in Fesseln schlagen ließ. Frau Dahlmeiner stand noch eine Weile und schwatzte Ws ich endlich, um sie los zu werden, behauptete, ich hätte Hunger. Ich wußte, das genügte, um sie in Beweauna »u setzen. Sie hatte mit jedem Menschen Mitgefühl, aber das allermeiste dem menschlichen Magen gegenüber. Ihrer Ansicht ^ Wagens v„l schwerer zu ertragen als das Sehnen des Herzens. Das letztere war etwas un- gewiß Schattenhaftes, daS erstere «was Feststehendes. Die Cwiar""iür ^ Erwählten sind oft das Volk und können sich keine allgemeine Sympathie erwerben. Ander- ist eS mit dem Magen. ^ Seine Erfordernisse sind ,n der ganzen Welt die gleichen; seine Sprache „t Jedermann verständlich. ' ' Ta- Alles sagte die Frau Secretairin zwar nicht, aber ich bin fest überzeugt, daß sie eS dachte, denn sie verschwand sosort, nachdem ich ihr gesagt hatte, daß ich hungrig sei. Als sie fort war, wurde es mir erst klar, daß ich eine un absichtliche Lüge gesprochen hatte, denn ich fühlte nie in meinem Leben weniger Hunger als in jenem Momente. Es war jetzt neun Uhr und ich hatte seit Mittag nichts gegessen. Dabei war ich sehr viel gegangen und die Grenzstädter Luft pflegte mir sonst stets guten Appetit zu machen. Trotzdertt fühlte ich nicht die mindeste Schwäche. Ich befand mich in einem Zustande ungewöhnlicher Erregung, und dadurch war ich des Bedürfnisses nach Speise und Trank für den Moment völlig enthoben. Immer noch weilten meine Gedanken an dem Orte, von dem ich eben herkam, immer noch sah ich das Gesicht des jungen Mädchens vor mir. Welch' ein ideal schönes Gesicht war eö! Der Tod oder Scheintod hatte einen verklärenden Hauch darüber gebreitet Im lebenden Gesicht spiegeln sich ab und zu Eindrücke, die eine triviale Umgebung in unS er weckt, im todten dagegen ist die Vergangenheit eine abgeschlossene Urkunde und die Gegenwart der höchste Ernst. War das Gesicht schön, so ist seine Schönheit nicht mehr irdischer Natur, sie hat alles Irdische abgestreift und spiegelt die Verklärung einer höheren Welt wider. Zum ersten Male in meinem Leben hatte Frauenschönheit mächtigen Eindruck auf mich gemacht. Ich konnte da« Gesicht des Mädchens nicht vergessen. Jeder Zug hatte sich mir unauslöschlich eingeprägt — das feine Oval der Umrisse, die zarte Hautfarbe, daö dichte dunkle Haar, der schöne Mund, die langen auf den blassen Wangen rnhenden Wimpern, die gewölbten Brauen, die ernste Stirn —, alles schwebte mir vor Augen und sprach lebhafter zu meiner Phantasie, al» je ein lebendes Bild es gethan hatte. Es erfüllte mich mit Bewunderung und Mitleid, denn sie war ja todt. Alle Schön heit dieses Körpers (und sicherlich auch dieser Seele) war sür immer dahin. Aber war sie auch wirklich todt? DaS blieb die Frage' die unaufhörlich meinen Kopf durchzog. Waren die Lebens zeichen, die ich gesehen zu haben glaubte, nur Ausgeburten meiner erregten Phantasie gewesen? E» schien so. Der Arzt war fest von ihrem Tode überzeugt, der Todtengräber ebenfalls. Sie besaßen in dieser Beziehung Erfahrung, konnte ich mit ihnen streiten? Und doch — —I Ich mochte etwa eine halbe Stunde so gebrütet baben, als die Frau Secretairin mit meinem Abendbrote erschien.
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