01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.05.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-05-29
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970529019
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897052901
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897052901
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-05
- Tag1897-05-29
- Monat1897-05
- Jahr1897
-
-
-
4010
-
4011
-
4012
-
4013
-
4014
-
4015
-
4016
-
4017
-
4018
-
4019
-
4020
-
4021
-
4022
-
4023
-
4024
- Links
-
Downloads
- Download single page (JPG)
-
Fulltext page (XML)
Dir Morgen-Ausgabe erscheint um V,7 Uhr. dir Abend-Au-gabe Wochentag- um 5 Uhr. Filialen: Pits Klemnl'S Lortim. (Alfred Hahn), Universitätsstraße 3 (PauUnum), LoniS Lösche, Natharinenstr. 14, part. und König-Platz 7. Ne-action und Lrve-ition: JohanneSgafie 8. Die Expedition ist Wochentag- ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi« Abend« 7 Uhr. Bezugs-Preis L» der Hauptexpedition oder den im Etadt» bezirk und dru Bororte» errichteten Au«» gabrstellen abgeholt: vierteljährlich ^««ckO, bei zweimaliger täglicher Zustellung in« Haus 5.50. Durch dir Post bezog«» für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Directe tägliche Kreuzbandsendung in« Ausland: monatlich 7.50. Morgen-Ausgabe. MpMcr TagMM Anzeiger. Amtsblatt des Aömglichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Aathes und Notizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Anzeigeu-PreiS bie sgespaltme Petitzeile 20 Psg. Reclamen unter dem Redactton-strich («ge spalten) bO/H, vor den Familirnnachrichtes (6 gespalten) 40 xj. Größere Schriften laut unserem Preis« vrrzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz «ich höherem Tarif. Ertra-Beilagen (gefalzt), nur mit drr Morgen«Ausgabe, ohne Postbeförderuag ßO.—, mrt Postbesörderung 70.—. Druck und Verlag von T. Pol» ta Leipzig. Annahmeschluß für Änzngeir: Abend-Ausgabe: vormittag« 70 Uhr. Margeu-Au-gabe: Nachmittag« «Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halb» Stunde früher. Anreisen sind stet« an die Expedition zu richten. Sonnabend den 29. Mai 1897. 270. SSSSMMSI z s. » . I l! I!. Die polnischen Zocialisten. (Unber. Nachdruck v«rboten.> 88- Eine eigenartige Stellung nimmt innerhalb der politischen Gruppirung im deutschen Reiche die kleine, aber rührige, leider viel zu wenig beachtete, selbstständige polnische Socialistenpartei ein. Sckon in ihrer national-internationalen Benennung tritt der innere Zwiespalt, da« Doppelspiel, zu Tage, die bezeichnend sind für da« Zweideutige ihrer ganzen Agitation. Während sie ganz nach socialdemokratischer Manier der alten revolutionairen Loosuug: „Ist ckieu, ui waitrel" folgt, die deutsche Vaterlandsliebe und die deutsche König-treue ebenso wie die bestehende Gesellschaftsordnung und ihre Errungenschaften bekämpft und verhöhnt, ist ihr alles Polnisch-Nationale ein Blümlein „Rührmichnichtan". Sie hütet sich ängstlich, das polnisch-patriotische Gefühl ihrer Landsleute zu verletzen und die nationale Fatamorgana einer Wiederauf richtung Polens zu zerstören. Im Gegentheil betont sie bei jeder Gelegenheit, daß ihre Anhänger gute Polen sind, und verkündet gegenüber ihren Connationalen, die sie deS „Ver- rathcs am polnischen Vaterland?" zeihen, daß nur aus dem Scbooße de« polnischen Proletariats da« einige und freie Polen wiedergeboren werden könne und eine allgemeine, die europäische Slaatenordnung in ihren Grundfesten erschütternde Umwälzung die unumgängliche Vorbedingung dieser Wieder geburt sei. Selbst dem unbefangenen Beobachter giebt es zu denken, daß die Centren der polnischen Propaganda im Aus lande, Paris, Zürich und vor allem London, gleichzeitig die Mittelpuncle der polnisch-socialistischen Bewegung bilden und die letzterwähnte Stadt der Sitz des internationalen polnisch- socialistischen Centralcomitös ist. Von hier aus empfangen die polnischen Socialisten Oesterreichs, Rußlands und nicht zuletzt des deutschen Reiches ihre Directiven, von da werden sie mit Flugschriften und sonstigem Agitationsmaterial und, was da« Wesentlichste ist, mit Geldmitteln versehen. Oeffent- lich machen die polnisch-socialistischen Führer allerdings vor der deutschen Socialdemokratie ihre Reverenz und stellen sich als Freischärler hin, die mit der regulären proletarischen Armee unter dem Commando des Dreigestirns Singer- Bebel-Liebknecht durchaus zusammenzuwirken bestrebt sind, sie nehmen die Hilfe der deutschen Gencssen bei ihrer Agitation in Anspruch und haben sogar nichts dagegen, wenn man ihnen auch von dieser Seite ab und zu materielle Unter stützung zur „Aufklärung" der polnischen Arbeiterschaft zu Theil werden läßt. Allein alle diese scheinbar sehr intimen FreundschaftSbeziebungen zur deutschen Socialdemokratie ver mögen die Thatsacke nicht aus der Welt zu schaffen, daß der proletarische Charakter der polnischen Socialisten hinter ihrem nationalen zurücktritt und die Feindschaft gegen das Deutschthum im Verein mit dem Classenhaß die Triebkräfte der ganzen Bewegung auSmacken. Mit fehr gemischten Gefühlen blicken denn auch selbst waschechte deutsche Socialdemokralen auf die polnischen Genossen und ihr wunderliches Gebabren. Mit sauersüßer Miene und bevrnklichem Schütteln deS KopfeS sehen die Leute, für welche jede patriotische und nationale Regung ein überwundener Standpunkt ist, wie ihre sonderbaren Freunde sick, bei allem kosmopolitischen Phrasrngeschwulst, ihre Nationalgötzen nicht nehmen lassen und neben Karl Marx ihren Kosciusko, neben Ferdinand Lassalle gar den alten Polenkönig Johann Sobieski feiern. Die socialdemokratischeu Führer wissen nur zu wohl, daß auch diese Socialistengruppe trotz ihrer nationalen An wandlungen doch letzten Ende« nur für den Umsturz arbeitet, und lassen sie deshalb gewähren. Sie bedürfen der pol nischen Socialisten als Bahnbrecher und Pfadfinder für das marxistische Evangelium in Gebieten, die der deutschen socialistischen Agitation für immer verschlossen bleiben mußten. Daß die polnischen Anhänger der Socialdemokraten sich vor etwa vier Jahren als „selbstständige Partei" constituirten, hat die deutschen Obergenossen arg oerschnupft und die Ver stimmung zwischen den Socialisten beider Nationalitäten ist seitdem ungeachtet mancher Vertuschungsversuche für die Dauer nicht zu beseitigen gewesen. Besonder« offenkundig trat sie aber in den letzten Jahren in der viel zu wenig gewürdigten Thatsache zu Tage, daß die polnischen Socialisten, entgegen ihrer bisherigen (Gepflogenheit, von einer Be schickung des Parteitages der deutschen Social demokratie Abstand nahmen. Daß hierbei nickt der Kostenpunkt, wie von polnischer Seite vorgeschützt wird, in Frage kam, beweist der Umstand, daß nach London zum inter nationalen Congresse sogar drei polnische Delegirte auS Deutschland entsandt wurden. Galt eS ja doch, mit den engeren Stammesgenossen, den Brüdern auS Galizien unv Russisch-Polen, über einen gemeinsamen Agitationsplan zu berathen, mit ihnen im Verein jenen, nachher in Massen verbreiteten „Aufruf an das polnische Proletariat" zu ver fassen, der in seiner Verquickung deS polnisch-nationalen mit dem socialrevolutionairen Elemente so recht deutlich zeigt, wessen man sich von dieser Spielart der Socialdemokratie zu versehen hat. Wenn auch die Erfolge der polnisch-socialistischen Propa ganda bisher in keinem Verhältnisse zu den aufgewandten Mitteln stehen, enthalten sie doch eine ernste Mahnung zur Vorsicht. Der Zuwachs an polnisch-socialistischen Stimmen bei den Wahlen erscheint allerdings, wenn man lediglich die von der Partei selbstständig aufgestellten Candidaten in Be tracht zieht, ziemlich geringfügig. Es darf aber dabei nicht vergessen werden, daß die polnischen Socialisten sich durch die Verhältnisse und schlaue Berechnung veranlaßt sehen, den Kampf nack zwei Fronten, bald als Hilfstruppen ihrer deutschen Gesinnungsgenossen, bald als trotz aller Gegner schaft gern gesehener SuccurS ihrer polnischen Stammes brüder, zu fuhren. Ein klassisches Beispiel bot die jüngst erfolgte Wahl in Schwetz, wo der Pole seinen Sieg nur dem Massenzuzug polnischer Arbeiter zu danken batte. Stark ins Gewicht fällt daneben auch die stete Aus breitung des Parteiorgans, der in Berlin erscheinenden „Gazeta Nobotnicza", sowie die Ausdehnung der Agitations touren, welche die Sendboten der polnischen Socialdemokraten im Auftrage deS Londoner Centralcomitss unternehmen. In allen Gegenden mit zahlreicherer polnischer Arbeiterbevölke rung ist die socialistische Verhetzung in vollem Gange. Was dabei an Schmähungen und Beleidigungen der Behörden, der Geistlichkeit und der höheren Beamten, namentlich in der polnisch-socialistischen Presse geleistet wird, ist geradezu unglaublich. Die „Gazeta Nobotnicza" kann es be züglich ihres Verbrauchs an verantwortlichen Redacteuren dreist mit anarchistischen Blättern aufnehmen. Die polnische Landbevölkerung verhält sich ebenso wie die Sachsengänger, zu deren Gewinn besondere Anstrengungen gemacht wurden, der socialistischen Agitation gegen über ziemlich ablehnend. Dagegen bilden die polnisch- socialistischen Arbeitervereine in den Großstädten Berlin und Hamburg Brenupuncte der Propaganda und wissen die zu wandernden polnischen Arbeiter in ihren Bannkreis zu ziehen. Die Wahlsiege der polniscken Socialisten in Galizien haben den Agitationseifer ihrer Parteigenossen in Deutschland neu entfacht, auf dem für Pfingsten d. I. nach Posen ein berufenen 3. polnisch-socialistischen Parteitage sollen Beschlüsse über eine neue Taktik gefaßt werden. Für die nächsten Reichstagswahlen werden ganz besondere Vorbereitungen ge troffen werden, die Zahl der von der Partei ausgestellten Candidaten foll erheblich vermehrt, die Agitation für die selben mit Nachdruck betrieben werden, wobei man auf die agitatorische, namentlich aber auch auf die finanzielle Unter stützung der galizischen Genossen rechnet. Hoffentlich erhalten dann die vereinigten polnischen Socialisten die Lehre, daß eS leichter ist „große Erfolge" in dem heimathlichen Schlach- zitzenlande, als auf deutschem Boden zn erzielen. Deutsches Reich. -c». Dresden, 27. Mai. Der Gesammtvorstand des hiesigen socialdemokratiscken Consumvereins „Vorwärts" ist mit seinem Aufsichtsrath und der Generalversammlung um schnöden Mammon in einen Streit geratben, der als ein neuer Beleg für die socialdemokratische Theorie und Praxis 91. Jahrgang. ein mehr wie locale« Interesse hat. Im Hinblick auf den Geschäftsumsatz, der in der Zeit vom l. Juli bi« 31. December 1896 sage und schreibe 1 764 715 betrug und einen Rein gewinn von 12l 322 ergab, und in Erinnerung an die anderen socialdemokratischen Parteigrößen und Redacteuren gezahlten „Entbehrungslöhne" von 6000 und mehr, hatte der Vorstand deS Consumvereins an den Aufsichtsratb das Ersuchen gestellt, durch die Generalversammlung die Fest setzung eines Maximalgehaltes, welche« nach zehn jähriger Dienstzeit erreicht werden sollte, be schließen zu lassen. Als Maximal-GehaltSgrenze nack zehnjähriger Thätigkeit wurden gefordert für den Ge- fchäftSführer 3200 und für die beiden anderen Vorstandsmitglieder je 3000 Gegenwärtig erhalten dieselben bei achtjähriger Tbätigkeit 2700, bei sieben jähriger 2500 und bei vierjähriger Thätigkeit 2000 De» Referent de« AufstchtSratheS erklärte seinerzeit in der Generalversammlung, daß der AufsicktSrath einstimmig eine Gehaltserhöhung abgelehnt habe und den Muts de« Vorstandes bewundere, bei einem derartigen Abschlüsse (!! vergl. die obigen Ziffern, mit einem halbjährigen Reingewinn von 121 322 eine solche Erhöhung nachzu suchen. Die Generalversammlung eignete sich die Auf fassung des AufsicktsratbeS an und lehnte den Antrag deS Vorstandes mit Majorität ab. Bei der hierauf stattsiudenden Wiederwahl des Gesammtvorstandes lehnte der Geschäfts führer die Annahme der Wabl ab, während die beiden anderen Mitglieder sich eine Erklärung vorbehielten. Schlicßlick wurde die ganze Wahl wegen eines Formfehlers für ungültig erklärt und einer neu zu berufenden Generalversammlung Vorbehalten. In einer inzwischen abzehaltenen Sitzung deS AufsichtSratbes gab der provisorisch weiter amtirende Vorstand auf Anfrage die Er klärung ab, daß er wieder candidiren würde, falls der Auf sichtsrath für die bescheidenen Gehaltserhöhungen eintreten und den Gesammtvorstand wieder in Vorschlag bringen würde. Die Antwort deS AufsichtSrathes lautete: „Wir können unS nicht lächerlich machen und deshalb nickt für die Forderung eintreten." Die Borstandsstellen werden zu sofortiger Besetzung anderweitig au«geschrieben und eine auf morgen, den 28. d. Mt«., einberufene General versammlung wird endgiltig zu entscheiden haben. Wenn die VorstanvSgenossen N. Postelt, Max Hoppe und Robert Fischer ihre für socialdemokratische Gemuther höchst verdächtige bürgerliche Begehrlichkeit nicht aufgeben, werden sie höchst wahrscheinlich trotz jahrelanger Dienste „hinausfliegen". In der Entlohnung für geleistete Arbeit gönnt näm lich ein Genosse dem anderen nichts, sobald eS sich um klingendes Geld und nicht um tönende Worte Han- FeurHetsn. Vom Vasko!« Von G. I. Horm an-kl. NaLdruck veriotm. Ueber den Raskol, einen Begriff, der dem Wortsinnn nach Absonderung, im Sinne des rechtgläubigen Russen die Ketzerei und in der Auffassung des leidenschaftsloseren BeurtheilcrS das russische Sectenwesen bedeutet, sind der deutschen Lesewelt öfters Mittbeilungen gemacht worden, ohne daß sie jedoch das Wesen und die Bedeutsamkeit dieser Erscheinung immer klar zum Verständniß gebracht hätten. Man neigt oft dazu, daS russische Volk und sein Geistesleben sich als eine Art wüsten Kirchboss vorzustellen; passender wäre das Bild einer rohen und unreifen, aber in steter Gährung und Um bildung befindlichen, stets unruhigen Masse. Vielleicht darf man aus die Möglichkeit, dem Westeuropäer den Raskol volks psychologisch begreiflich zu macken, erst rechnen, seitdem Leo Tolstoi'- meisterhafte „Volkserzählungen" auch außerhalb Rußland- bekannt geworden sind. Sie zeigen so reckt an schaulich, wie ganz ander«, wie viel naiver und weniger skeptisch der Russe zur Religion steht. Sie reicht ihm un mittelbar in alle Beziehungen deS täglichen Lebens hinein, sie ist ihm nickt eine Formel und die heiligen Geschichten sind ihm nicht Mythen oder Legenden, sondern unantastbare Wirklichkeit, so real, wir er, sein HauS und sein Weib. Der . Russe glaubt noch heute an daS Wunder, für ibn wandelt der Heiland noch heute im Leben, wie eS bei Tolstoi jener Schuster erfährt, dem sich der Herr im Traume angekündigt hat und der ihn schließlich in einem Bedürftigen, dem er geholfen, erkennt. Nimmt man zu diesen Empfindungen zenen dem ganzen Ruffcnvolke eigenen rastlosen Grübelsinn und die Neigung zu einer oft zerstörenden, rücksichtslosen Logik, so bat man etwa die hauptsächlichen psychologischen Elemente beisammen, die die EntstehungSbedmgungen deS RaSkol bilden. Ein Bauer, ein alter Soldat irgendwo grübelt über die heiligen Dinge nach. Die« und jenes in der Welt paßt zu seinen Vorstellungen nicht, er findet, eS müßte nach dem Evangelium anders sieben, er geht weiter und immer weiter und schließlich hat sich bei ihm ein keineswegs abgeschlossene« und vollendete«, aber doch in einigen einleuchtenden Haupt dingen feststehende« System gebildet. Nun beginnt er seine Ansichten de» für solche Gegenstände stets empfänglichen Nachbarn und Brüdern mitzutheilen. Seine Bildung ist gewiß gering und seine Fähigkeiten sind beschränkt; aber oft besitzen gerade diese Leute eine eigene hinreißende, fast unwider stehliche Berrdtsamkeit, zudem auch eine seltene Bibelkenntniß. So fand der bekannte Reisende Wallace bei einer Diücussion mit mehreren Molokanrn, daß die Leute ganze lange Stellen a«S der Bibel au- dem Gedächtnisse hrrzusagen im Stande waren. Luch macht sich oft selbst bei einfachen Bauern die dialektische Gewalt und die logische Schärfe, die dem russi- fchrn Geiste rigruthümlich ist, in Staunen erregender Weise bemerklich; etwa« von dem unermüdlichen unv spitzen Dis« putirgeiste der mittelalterlichen Scholastik lebt hier wieder auf. In der angrdrutrten Art entstehen und vergehen viele Treten; so manche nur local bedeutende mag selbst bestehen, ohne daß man sie kennt, denn es herrscht im Raskol ein unaufhörliches Auf und Ab. Dock sind einige der so ge gründeten Secten zu dauernder Verbreitung gelangt. Darunter »ehören z. B. die erwähnten Molokanen, deren Ideal eine Art Urchristenthum zu sein scheint. Sie erkennen keine Priester an, sie haben nur Gemeinde-Aelteste von beschränkter Gewalt, die Bibel ist ihre einzige Autorität, ein Jeder kann sie aus legen, und wenn er seine Ansicht durch die Schrift voll ständig beweist, so wird sie acceptirt. Dies sind noch heut fleißige, bescheidene, mäßige und freundliche Leute, deren Tendenzen weder staat-gefährlich noch moralwidrig sind Wäre aber der Ursprung und der Charakter der russischen Secten regelmäßig oder auch nur in der Mehrzahl der Fälle dieser Art, so wäre die Geschichte und die Lage des Raskol nicht von der wahrhaft unübersehbaren und verwirrenden Mannigfaltigkeit, die ihm zu eigen ist. In Wahrheit blickt man in ein richtiges Pandämonium menschlicher Leiden schaften, Empfindungen und Verirrungen, wenn man in die Verhältnisse des Raskol tiefer hineinsieht. Der fleckenloseste Idealismus steht da neben ganz gemeinem EgoiSmuS, innige Religiosität neben thierischen Lüsten, tiefes Sinnen neben crasser Unbildung und Eitelkeit. Ein amüsantes Beispiel für den letzterwähnten Fall ist der des Greises Abrossim, deS Gründers der Secte der Sbiwyje Pokoiniki (d. h. etwa der lebend zur Rübe Gelangten), der in einer ganz willkürlichen Auslegung der Schöpfungsgesckichte die Behauptung auf stellt, Gottes Ruhetag, der siebente SchöpfungStag, währe noch immer unv die Aufgabe der Menschen sei, damit daS Böse die Macht verliere, den achten SchöpfnngStag berbei- zuführen. Man ist nicht wenig erstaunt, von diesem wunder lichen Heiligen u. A. ein Buch „Consuela" angeführt zu finden, was offenbar nichts Andere- ist als der George« Sand weltberühmter und einst hochgefeierter Künstlerroman „Consuelo". Gerbel-Embach bat ganz gewiß mit der An nahme recht, daß irgend ein Spaßvogel den guten Alten mit diesem Buche mystificirt hat, und Abrossim in seiner Eitelkeit, ein neue- Buch für seine Ideen citiren zu können, darauf ein- aegangen ist. Höchst drollig bleibt aber jedenfalls die Fügung, daß die doch immerhin recht bedenkliche Dame Aurora Dudevant zum religiösen Orakel geworden ist. Spielt hier armselige Eitelkeit mit, so muß man bei dem „Skopzengotte", dem Bauer Kondrati Seliwanow, geistige Krankheit anncbmen. Er war nicht damit zufrieden, für seine Secte Gott-ChristuS zu verkörpern, sondern erklärte sich außeroem noch für den (ermordeten) Zaren Peter III., und redete darum, alS^siaul l. ihn zu sich kommen ließ, den Kaiser in diesem Charakter an. Drr Zar ließ ihn hierauf geradenwegs auS dem Palaste in ein Irrenbau« bringen, der Mann wurde aber zur Zeit Alexander'« I., al« der Spiritualismus und die Krüdener an ver Tagesordnung waren, bei dem „vornehmen" Publicum von St. Petersburg Mode, und eS drängte sich eine solche Schaar neugieriger Besucher zu ihm, daß er noch im hohen Alter nach dem Gouvernement Wladimir verschickt werden mußte, wo er erst 1832, angeblich 112 Jahre alt, starb. Ehe die einzelnen Secten de« RaSkol ausreichend bekannt waren, Warrn phantastische Vorstellungen über ihre Gebräuche im Schwange. Die genauere Untersuchung hat Viele« erklärt und in ein mildere« Licht gestellt; aber e- bleibt doch noch genug und übergenug deS Ungeheuerlichen übrig. So wissen wir auS den Mittheilungen, die u. A. durch Hahn über die Duchoborzen gemacht worden sind, daß diese Secte von einem entlassenen Unterofficier NamenS Kapustin begründet worden ist, der sich eine gradezu despotische Gewalt über seine An hänger erwarb, und seine Würde als Christus seinen Nach kommen vererbte. Diese umgaben sich dann mit einem Ralhe und fröhnten im Vereine mit dessen Mitgliedern den wüstesten Ausschweifungen und der rücksichtslosesten Selbstsucht. Gegen wärtig regiert über die Duckoborzen im Kaukasus die Gattin eines zu Grunde gegangenen „legitimen" Heiligen, eine wobl- conservirte Dame, die sehr gut weiß, wa« ihr frisches Gesicht kleidet, und mit ihrer Kaiserin Katharina eine zu große Vorliebe für daS männliche Geschleckt theilt, übrigens aber, um ihrer Klugheit willen, eine hochangesehene Göttin ist. Bei der Secte der Skopzen huldigen Männer wie Frauen der barbarischen Sitte der Selbstverstümmelung. Diese Secte zählt zu denen, bei denen der Paroxysmus und der sich selbst überreizende Fanatismus im Mittelpunkte steht. Unter ihnen sind die Cblysti besonders bekannt, die in „Schiffe" eingetheilt sind, auf deren jedem sich zahlreiche Christi, GotteSmütter und Propheten befinden, die eine solche Autorität ausüben sollen, daß sie jeden Cblysti ihres Schiffes zu jeder That oder TodeS- art veranlassen können. Bei ihren Festen drehen sie sich unter fortgesetzten Geißelungen und Kasteiungen stundenlang im Kreise, in der höchsten Ekstase haben sie dann ihre Visionen. Sie betrachten sich gegenseitig als Götter, streiten mit einander, wer am meisten Gnade und Macht besitze, und führen ein asketisches Leben; dessen ungeachtet kommen bei ihren Ver sammlungen in ihren Paroxysmen oft wüste Dinge vor. Bei den „Springern", deren Wesen ihr Name andeutet, sind wilde Ausschreitungen die Regel. Die ,Manderer" (Stranniki) haben all' und jede Beziehung zum Staate und zur Welt — principiell wenigstens — abgebrochen, sie kennen keine Ehe schließung, keinen kirchlichen oder gesetzlichen Act an, be trachten sich al« Pilger in diesem Leben und dürfen als solche nicht HauS noch Wohnung haben, sondern wandern unauf hörlich von Ort zu Ort, um dem Antichrist zu entfliehen. Wunderlich genug ist auch, daß eine allerdings wenig ver breitete Secte in Folge einer merkwürdigen Gedanken-Ver- bindung Napoleon I. als die Incarnation GottrS in mystischer Weise verehrt. Spiegelt sich in diesen Typen des RaSkol Verblendung, Entartung und Eigennutz in allen Formen, so ist eS interessant, daß die historisch verfolgbaren Hauptgruppen de« Raskol einem orthodoxen Aberglauben ihren Ursprung verdanken. Der große Schisma, auf das die Entstehung der Sectenbildung zurückzuführen ist, ereignete sich im 17. Jahrhundert, — man kann sagen, um ein Nicht«, um Fragen, wie die, ob der Name deS Heilands in den Ritualbüchern IsuS oder IissuS zu schreiben, ob daS Kreuz mit zwei oder mit drei Fingern zu schlagen, ob an einer gewissen Stelle daS Hallelujah zwei oder drei Mal zu singen sei. Im 17. Jahrhundert machte nämlich der große Patriarch Nikon den Versuch, die alten Bücher, in denen sich zahlreiche Schreibfehler und Flüchtigkeiten fanden, einheitlich cvrrigiren zu lassen, erregte aber hiermit einen Sturm von Entrüstung, und als der Plan dennoch durchgefüdrt wurde, den Raskol, die Absonderung Derer, denen die Staat-kirche von nun ab al- antichristlich und ketzerisch galt. Diesen Leuten schien e« gottlos, daß in dem Satze des nicänischen Symbols „Ge boren nickt geschaffen" da« Wörtchen r» (aber) fortab weg gelassen werden sollte, sie erlitten deshalb den Märtyrertod, sie gaben sich dafür der Feuertaufe preis, die oft Tausende zusammen in schwärmerischem Fanatismus -rlitten; und um dieses weggelassenen a und all jener Kleinigkeiten und Aeußer- lichkeiten willen, von denen einige oben erwähnt wurden, sind noch heutigen TagS Millionen von Menschen von der russischen Staatskirche getrennt. Es liegt im Charakter speciell des russischen Bauern, daß er gerade an Aeußerlich- keiten vielfach aufs Zäheste festhält; noch heute sehen viele Bauern den eigentlichen Kern deS orthodoxen Glaubens in der von vielen RaSkolniki verworfenen Verehrung der Heiligenbilder. Unter Denen aber, die an dem altgeheiligten u und dem Zweifingerkreuze um deS rechten Glaubens und ihrer Selig keit willen festhielten, sind im Laufe der Jahrhunderte wieder Spaltungen eingetreten. Die Einen waren der Ansicht, daß Priester, die die modernen Ketzereien des Nikon feierlich ab schworen, als wahre und echte Priester anzuseben seien; sie bildeten allmählich die Altritualisten (stLroobrsackri) und haben sich zu einer geschlossenen Kirche mit eigenen Bischöfen ent wickelt. Die Anderen hingegen, die „priesterlosen", glaubten, daß die wahre ortbodoxe Kirche unrettbar zu Grunde ge gangen, der Antichrist — als welchen viele den Zaren selbst ansehen — eingezogen sei und eS echte Priester überhaupt nicht mehr gebe und bis zu den Zeiten der GlaubenS-Er- neuerung auch nicht mehr geben könne. Sie haben daher unab lässig nach neuen Mitteln der Erlösung gesucht und in diesem Streben sich wieder in zahlreiche Secten gespalten. Unter ihnen finden sich die verschiedensten Schattirungen von Fana tismus. Im Allgemeinen sehen sick die Priesterlosen immer wieder genöthigt, mit den realen Verhältnissen, mit Staat und Kirche einen Pact zu schließen und sich in da- irdische Dasein zu finden. Aber noch beut giebt eS dock Leute, die alle Behörden und Beamte für unmittelbare Teufelsdiener ansehen, die Kliuke abnchmen und wegwerfen, die ein Ketzer — will sagen: Orthodoxrechtgläubiger — angesaßt hat, auf dem Markte keine Lebensmittel kauten, weil sie verunreinigt sind, und der freien Liebe huldigen, da eine echte giltige Ebe gegenwärtig nicht geschlossen werden könne. Die fanatischsten aber unter den Priesterlosen sind jene „Wanderer", die nicht einmal an einen bestimmten Ort dieser Erde sich heften. Das Staatsgefährliche dieser Secten, denen der Zar der Antichrist ist, liegt auf der Hand. So ist der russische RaSkol in der That eia Product der verschiedensten Ursachen und ein Conglomerat der heterogensten Bildungen. Und unausgesetzt ist er in weiterer Umformung begriffen, — in Umformung und in Ausbreitung, denn e« ist sicher, daß er allen staatlichen Maßregeln zum Trotze stet- um sich greift. Allein unter Alexander II. soll der RaSkol um 4 Millionen zugenommen haben, und heut schätzen die besten Kenner die Zahl der RaSkolniki im russischen Reiche auf etwa 14 Millionen.
- Current page (TXT)
- METS file (XML)
- IIIF manifest (JSON)
- Show double pages
- No fulltext in gridpage mode.
- Show single page
- Rotate Left Rotate Right Reset Rotation
- Zoom In Zoom Out Fullscreen Mode