01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 31.05.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-05-31
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980531013
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898053101
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898053101
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-05
- Tag1898-05-31
- Monat1898-05
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Nrclamen unter demRrdactionSslrich (4a»» spalten) 50/H, vor den Familirnnachrichira (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Zifsernsap nach höherem Taris. Extra-Beilage« (gesalzt), nar mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Ännahmefchloß fiir Anzeigen: Abend-An-gab«: vormittag» 10 Uhr. Morgen- Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eint halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet» an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Pol- la Leipzig. 92. Jahrgang. Luther's Rückreise von Worms und seine Gefangen nahme bei Meristem im Thüringer Wald. Mitten im Herzen Thüringens, in unmittelbarer Nähe des Nord und Süd unseres Vaterlandes theilenden Rennstiegs, spielt sich der für das ganze Werk der deutschen Reformation hochbedeutsame, ja welthistorisch gewordene Act der Gefangen nahme Luther's ab. Am 26. April, genau acht Tage nach jener Reichstagssitzung zu Worms, die im Schlußworte Luther's: „Ich kann nicht anders, hier stehe ich, Gott helfe mir!" ihren Höhepunkt fand, war der Reformator in Begleitung einiger Freunde, unter denen sich Nicolaus Amsdorf befand, auS Worms abgereist. Zwanzig Tage freies Geleit war dem Gottesmann durch den kaiserlichen Kanzler zugesichert worden, doch mit der „ein gebundenen Verpflichtung", sich auf der Reise alles Predigens und Schreibens zu enthalten. Schon am 28. April schreibt Luther aus Frankfurt a. M. an seinen Freund, den Maler Lucas Kronach in Wittenberg: „Ich laß mich einthun und verbergen, weiß selb noch nicht, wo."*) „Es muß ein klein Zeit geschwiegen und gelitten sein: Ein wenig sehet ihr mich nicht; und aber ein wenig, so sehet ihr mich, spricht Christus (Joh. 16, 16). Ich hoff, es sol itzt auch so gehen." Die Reise ging anfangs glatt von Statten. In der Nacht vom 27. auf den 28. April übernachtet Luther in Frankfurt am Main. Am Abend desselben Tages — es war Sonntag Cantate — schreibt er aus Friedberg in Hessen an Kaiser Karl V. einen ebenso ehrerbietigen wie entschiedenen Abschieds brief: beim besten Willen, hätte er nicht widerrufen können — aus Gründen des Gewissens, nicht aus Ungehorsam. Da er eine Widerlegung seiner Schriften aus dem Worte Gottes keineswegs hätte erlangen können, so sei er genöthigt worden, ohne Erfolg und ohne Hoffnung auf solchen abzureisen. Gleich wohl spreche er der kaiserlichen Majestät für die Erhaltung des sichern Geleits zu Worms als auf der Heimreise seinen unter- thänigsten Dank aus. Auch jetzt sei er immer noch bereit, unter kaiserlichem Schuhe seine Lehre vor nicht beeinflußten, gelehrten und freien Richtern, geistlich oder weltlich, allein durch das Wort Gottes zu Vertheidigen. Darum wolle er den Kaiser flehcntlichst bitten, denn es handle sich nicht um seine Sache und um seinen Namen, sondern es sei eine Angelegenheit der ganzen Kirche und des Reiches Gottes auf Erden. Am Abend desselben Sonntags oder in der Nacht auf den folgenden Montag schreibt Luther, gleichfalls von Friedberg aus, rin deutsches Schreiben an die Kurfürsten, Fürsten und Stände *) De Wette, vr. Martin Luther's Briefe, u. a. m. Berlin 1825. Bd. I, p. 588f. des heil, römischen Reiches.*) Auch hier erklärt sich der Re formator zum) Widerruf bereit, sobald der Erweis aus der heiligen Schrift erbracht werden könne, daß er sich geirrt habe. „Sodann wollt ich all Jrrthum Widerruffen, werde der erst sehn, der meine Bücher wollt in das Feuer werfen und mit Füßen darauf treten." Am Schluß des Briefs bittet Luther auch die Kurfürsten um Schutz und Fürbitte beim Kaiser, „daß ihr Kais. Maj. über mein vielfältigs vorigs und itzigs unterthänigs und christlichs Erbieten mich durch mein Ab günstigen nicht wölle vergewaltigen, verfolgen noch verdammen lassen". Diese beiden Briefe schrieb Luther jedenfalls auf Veranlassung des Kurfürsten von Sachsen, welcher durch Vermittelung seines in Worms mit anwesenden Secretarius Georg Spalatin darum gebeten hatte. Am Morgen des 29. April wurden laut Luther's Vermerk im Begleitschreiben an Spalatin die Briefe nach Worms gesandt. AuS einem an Joachim und Ulrich von Pappenheim aufgetragenen Gruß geht hervor, daß die Abreise Luther's und Amsdorf's aus Worms schnell und ohne Abschied erfolgt sein muß. Am 29. April wurde die Reise bis Grimberg in Hessen fortgesetzt. Schon am folgenden Tage kam man im Hersfelder Kloster an. Der dortige Abt Adam Crato hatte Luther sehr freundlich ausgenommen. Er hatte ihm seinen Verwalter ein gutes Stück Weg entgegengesandt, empfing ihn beim Schlosse mit einem Reitergefolge und begleitete ihn sodann in die Stadt Hersfeld. Am Thore wurde Luther vom Stadtrath empfangen. Im Kloster wurde er sodann als Gast glänzend bewirthet und wurde gewürdigt, das Schlafzimmer des Abtes zu benutzen. Am Morgen des 1. Mai hielt Luther auf Bitten des Abtes früh 5 Uhr eine Predigt. Umsonst hatte sich Luther geweigert, das zu thun, weil der Gastfreund sich damit der Gefahr aussehe, alle Regalien zu verlieren, sobald es die Kaiserlichen erführen. Denn Luther war ja bei Strafe der Aufhebung des freien Gleits verboten worden, auf der Heimreise zu predigen. Am nächsten Tage geleitete der geistliche Würdenträger seinen geächteten Gast bis zur Waldesgrenze und ließ denselben sammt seinen Reisegefährten durch seinen Verwalter in Berka an der Werra zum Abschied köstlich bewirthen. Am Abend des 2. Mai zog Luther in Eisenach ein. Biele Eisenacher Bürger waren ihm auf dem Wege entgegengegangen. Freitag, den 3. Mai, bestieg Luther in Eisenach die Kanzel. Er vertheidigte in öffentlichem Protest seine Lehre. Die Stadt geistlichkeit war zugegen, doch hatte sie in allzu großer Aengst- lichkeit einen Notar und beglaubigte Zeugen beigezogen, trotz des Protestes Luther's; sie entschuldigte sich damit, sie müßte sich später vor ihren geistlichen Oberherren eventuell darüber verantworten. Jedenfalls nahm die gesammte gelehrte Welt Eisenachs an der Versammlung theil, in welcher Luther über den Verlauf der kürzlichen Reichstagsverhandlungen zu Worms Bericht erstattete. Auch der Schloßhauptmann der Wartburg Caspar Hans von Berlepsch muß zugegen gewesen sein, und auf *) Vergl. De Wette, a. a. O. I. Bd., p. 504 f. alle Fälle wurde bereits bei dieser Gelegenheit, natürlich ganz im Geheimen, der unfreiwillige Aufenthalt Luther's auf der Wartburg berathen. Nicht einmal Luther's anwesender Bruder sollte etwas von dem geplanten Ueberfall und von der Gefangen nahme Luther's wissen, für welche der Schloßhauptmann jeden falls Instruction und Befehl vom Kurfürsten aus Worms recht zeitig erhalten hatte. In aller Frühe des folgenden Tages, am 4. Mai, einem Sonnabend, waren Luther's bisherige Begleiter, Hieronymus Schürf, Justus Jonas und Peter von Suaven, in der Richtung nach Gotha aufgebrochen. In derselben Morgenstunde reiste Luther in Begleitung des Nicolaus von Amsdorf und seines Bruders, trans silvam" über den Wald — über Marksuhl oder Etterwinden — zu seiner Verwandtschaft und Freundschaft nach Möhra. Von hier stammten Luther's Eltern. Hier in Möhra soll nun der Reformator am Vormittag des vierten Mai auf öffentlichem Platze unter der Linde vor der Kirche, welche sich als zu klein erwies, das herbeigeströmte Volk zu fassen, eine Predigt gehalten haben. Am Nachmittag brach Luther aus Möhra auf. Ein zwei rädriger Wagen sollte ihn über Gumpelstadt, Schweina, Stein bach, Glaßbach, durch den Emsegrund und Langenhain vorüber nach Waltershausen bringen, — auf der sog. alten Fahrstraße, die sich heute noch auf Schritt und Tritt verfolgen läßt. Gegen 5 Uhr Nachmittags passirte Luther den Ort Schweina. Der damalige Geistliche in Schweina, Pfarrer Hattenbach, vermerkte Folgendes im Kirchenbuch: ,,^o. 1521, Sonnabend nach Cantate, den 4. Maij, Nachmittag zwischen 4 und 5 Uhr ist der Herr vr. Martin Luther allhier zu Schweina durchgefahren, da er von Worms kommen, und Meil, Lberm Altenstein bei dem Brunnen auf Landstraße nach Waltershausen gefangen und auf Wartburg geliefert worden." Dieser Vermerk ist indeß offenbar weit später, als Luther's Aufenthalt auf Wartburg bekannt geworden war, nieder geschrieben worden. Luther selbst beschreibt in einem Briefe vom 14. Mai 1521 an Spalatin den ganzen Hergang des Ueberfalls folgendermaßen: . . . Ddi aä VValtsrsdnuson tenüimus, pauIo post proxs arcem ^.Itenstein cnptus xum, ^msckorüo iä nesLssario scionte, ms v88o nlicui eapivnäuw, seü Issum ixnorat eusto- üiüs msae. Krater msug equitss in tempore viäsns a curra 86 sud- traxit, et insalutatus ^Vaitersimussn peäo3tris ve8psri venisso äicitur. Ita 8um dis exutu8 vesttdus msis et eguestribus iuäutus, comkm st dardsm uutrieus, ut tu ms ckiltioilo US88S8, cum ip8s ms .jum ckuäum uou noverim . . . . „Als wir auf Waltershausen zureisen, bin ich eine kurze Strecke hinter der Burg Altenstein gefangen genommen worden. Ams dorf wußte ja darum, daß ich gefangen genommen werden müßte, aber wo mein Gefängniß ist, das weiß er nicht. Mein Bruder macht sich im Augenblick, da er die fremden Reiter sieht, vom Wagen weg aus dem Staube, ohne von mir Abschied zu nehmen. Er soll zu Fuß am Abend in Waltershausen ange kommen sein." Was aus Amsdorf an jenem Nachmittag geworden ist, wissen wir nicht zu sagen. Vielleicht blieb er in Steinbach, einem Orte am Fuße des Altenstein, zur Nacht, um am folgenden Tage Gotha oder Erfurt zu erreichen. Jedenfalls aber beunruhigte ihn die Wegführung des Freundes nicht: er wußte ihn in sicherer Hut. Luther schreibt Amsdorf unterm 12. Mai, acht Lage nach dem Ereigniß, „aus der Gegend der Luft": iu rsgisns nsrls, — also immer noch unter Geheimhaltung seines Aufenthalte»: Lgo ciiv, qun a te avuisus km, longo itiusrs novus egues, ksssus, dora ferm» unäeciwa ack wausionsm noctis pervvni in tsnsdris. „Ich bin an demselben Tage, als ich von Dir getrennt wurde, nach langer Reise durch dunklen Wald deS Reitens ungewohnt und müde, Nachts 11 Uhr in meine Behausung gekommen." Der Schloßhauptmann der Wartburg, Hans von Berlepsch, hatte Luther's Aufhebung bewirkt, auf Geheiß seines kurfürst lichen Herrn, auf alle Fälle im Einverständniß und mit Vorwissen Luther's. Schon in Worms mag vom Kurfürsten und seinem vertrauten Spalatin die Nothwendigkeit erwogen worden sein, den kühnen Mann vor kaiserlicher Acht und Bann zu sichern. Am 15. Mai lief die 20tägige Frist freien Geleit» ab. Am 26. Mai, datirt vom 8. Mai, erschien das kaiserliche Decret, durch welches Luther in die Neichsacht erklärt wurde. Um Luther zu retten, that Eile dringend noth. Man hielt es in der engsten Umgebung des Kurfürsten für daSBeste: Luther verschwand auf längere Zeit vom Schauplatze der aufgeregten TageSgeschichte, unbekannt wohin. Luther mußte „eingethan und verborgen werden". Und hier, mitten in den Wäldern Thüringens, war die günstigste Gelegenheit dazu. Daß Luther gerade auf der Wartburg versteckt gehalten werden sollte, daran dachte zunächst Niemand. Denn die Wartburg war damals ein Waldschloh, wie Dutzend andere Schlösser Thüringens und Frankens, weder an Festigkeit noch an Größe andere überragend. Ist doch die Wart burg durch Luther's Aufenthalt erst zumeist im eigentlichen Sinn historisch und weltgroß geworden. Man konnte vielmehr nach der Art des Ueberfalles das Ge rücht für richtig halten, welches nach Luther's Mittheilung an Spalatin durch Stadt und Land schwirrte: Luther sei von seinen fränkischen Freunden gefangen genommen worden. Noch wochenlang blieb der Aufenthalt des Gottesmannes der großen Welt verborgen. Kaum konnte Luther die Erlaubniß erlangen, Briefe an die Freunde zu senden, — so sehr wollte man seinen Aufenthalt verheimlicht wissen. Erst nach und nach wußten es die intimsten Freunde, zuerst Spalatin und Amsdorf. Die Stelle des Ueberfalles, am Brunnen tm Luthergrund, eine halbe Stunde über Steinbach, zwanzig Minuten unter Altenstein, nach dem Rennsteig zu, ist heute noch von welt historischer Berühmtheit. Die Lutherbuche, unter deren Ge zweig sich der kühne Held am Nachmittag des vierten Mai, um ein wenig auszuruhen, gelagert haben soll, ist ja gefallen im Sturme der Zeit. Auch die Straße über den Kamm deS Ge birges, die einst Luther gezogen, liegt nun wüst und verlassen. Um so freundlicher winkt dem Wanderer zur Sommerszeit da helle, einfache Denkmal, welches treue protestantische Fürstenliebe dem Geisteshelden Deutschlands, dem größten Enkelkinde Thüringens gesetzt hat zu bleibendem Gedcichtniß. Die Poesie Fenilleton. Eine Rundreise. Novellette von Emile Zola. Deutsch von Max Stein. Nachdruck verboten. r. Seit acht Tagen sind Lucien BSrard und Hortense Lari- diSre verheirathet. Die Mutter der jungen Frau, die Wittwe LariviSre, betreibt seit dreißig Jahren einen Spielwaarenhandel in der Chaussee d'Antin. Es ist dies eine unfreundliche und zänkische Frau von despotischem Charakter, die ihre Tochter Lucien dem einzigen Sohne eines Kurzwaarenhändlers des Viertels nicht verweigern konnte, die aber den jungen Haushalt scharf zu überwachen weiß. Im Ehecontract hat sie den Laden an Hortense abgetreten, wobei sie sich ein Zimmer in der dazu gehörigen Wohnung vorbehielt; und in Wirklichkeit ist sie es, die fortfährt, das Geschäft zu führen, unter dem Vorwande, die Kinder in die Verkaufsgeheimnisse einzuweihen. Man ist mitten im Juli, die Hitze ist unerträglich, die Ge schäfte gehen schlecht. Madame LariviSre ist denn auch sauer töpfischer als je. Sie duldet nicht, daß Lucien sich einen Augen blick bei Hortense vergißt. Hat sie sie nicht eines Morgens über rascht, als sie eben im Begriffe waren, sich im Laden zu um armen! Und das acht Tage nach der Hochzeit! Saubere Ge schichten das, die ein Haus gleich in schlechten Ruf bringen! Niemals hat sie Herrn LariviSre gestattet, sie im Laden auch nur mit den Spitzen seiner Finger zu berühren. Er dachte übrigens auch gar nicht daran. Und auf diese Weise hatten sie ihr Ge schäft gegründet. Lucien, der es noch nicht wagt, sich aufzulehnen, wirft seiner Frau Kußhände zu, wenn seine Schwiegermutter den Rücken ge wendet hat. Eines Tages dennoch erlaubt er sich, daran zu er innern, daß ihre Familien versprochen haben, ihnen für ihren Honigmond eine Reise zu bezahlen. Madame LariviSre spitzt ihre dünnen Lippen: „Nun gut!" sagt sie, „geht einen Nachmittag im Bois de Boulogne spazieren." Die jungen Eheleute betrachteten sich gegenseitig mit be stürzter Miene. Hortens« fängt an, ihre Mutter wahrhaft lächerlich zu finden. DaS ist nicht zum Aushalten. Lucien zählt alle Geschäfts leute deS Viertel» auf, die sich kleine Reisen gestatten, während Verwandte oder verläßlich« Angestellte die Läden versehen. Der Handschuhhändler gerade gegenüber ist in Dieppe und der Gold arbeiter oben an der Ecke hat seine Frau gar in die Schweiz geführt. Alle anständigen Leute, die sich's Halbweg» leisten können, gehen jetzt einige Wochen aufs Land. „Das ist der Ruin de» Handels, mein Herr, verstehen Sie mich!" schreit Madame LariviSre Wir gingen in» Boi» de Bologne, ein Mal des Jahres, am Ostermontag; und wir befanden uns deswegen nicht schlechter . . . Soll ich Ihnen «tva» sagen- Nun denn! Sie werden da» Geschäft -u Grund» richten mit ihrer fixen Idee, in der Welt herumzufahren. Ja wohl, das Geschäft ist verloren!" „Es war indessen verabredet, daß wir eine Reise machen würden", wagte Hortense zu sagen; „erinnere Dich, Mama, Du hattest eingewilligt." „Mag sein, aber das war vor der Hochzeit . . . Bor der Hochzeit sagt man allerhand solche Dummheiten .... Wie? seien wir jetzt ernsthaft!" Lucien ist ausgegangen, um einen Streit zu vermeiden. Er fühlt eine grimmige Lust, seine Schwiegermutter zu erwürgen. Aber als er nach Verlauf von zwei Stunden wieder zurückkehrt, ist er wie umgewandelt. Er spricht beinahe zärtlich zu Madame LariviSre, mit einem kleinen Lächeln in den Mundwinkeln. Am Abend fragt er seine Frau: „Kennst Du die Normandie?" „Nein", antwortete Hortense, „Du weißt ja, ich bin nie über das Bois de Bologne hinausgekommen." Am anderen Nachmittag dröhnt ein Donnerschlag durch den Spielwaarenladen. Der Vater Lucien's — der Vater BSrard, wie man ihn im Viertel nennt, wo er als ein jovialer Mann bekannt ist, der seine Geschäfte rundweg erledigt, — ladet sich zum Essen ein. Beim Kaffee ruft er aus: „Ich bringe unseren Kindern ein Geschenk!" Und er zieht triumphirend zwei Eisenbahnbillets aus der Tasche. „Was ist das?" fragte die Schwiegrmutter mit erstickter Stimme. „Das, das sind zwei Plätze erster Classe für eine Rundreise in der Normandie . . . WaS? Kinderchen, ein Monat in gesunder Luft! . . . Ihr werdet zurückkommen, frisch, wie die Rosen." Madame LariviSre ist wie vernichtet. Sie will protestiren, aber im Grunde genommen verspürt sie nur wenig Lust zu einem Streit mit dem Vater BSrard, der immer das letzte Wort behält. Was sie aber noch völlig niederschmettert, das ist, daß der Kurzwaarenhändler davon spricht, die Reisenden sogleich nach dem Bahnhof zu bringen. Er wird ihnen nicht mehr von der Seite gehen, bevor er sie nicht im Waggon sieht. „Es ist gut", erklärt sie mit zornbebender Stimme, „ent reißen Sie mir meine Tochter; es ist mir übrigens lieber so: wenigstens werden sie sich nicht im Laden umarmen, und ich werde über die Ehre des HauseS wachen." II. Endlich sind die jungen Leute auf dem Bahnhofe in Be gleitung des Schwiegervaters, der ihnen nur gerade so viel Zeit gelassen hat, um ein wenig Wäsche und einige Kleidungsstücke in einen Koffer zu werfen. Er drückt ihnen schallende Küsse auf die Wangen, indem er ihnen noch einschärft, sich ja Alles gut zu betrachten, damit sie ihm hernach erzählen könnten, was sie gesehen hätten. Das wird ihm Vergnügen machen. Auf dem Einsteige-Perron laufen Lucien und Hortense den ganzen Zug ab, auf der Suche nach einem leeren Coups. Sie haben das Glück, ein solches zu finden, sie stürzen sich hinein und treffen bereits alle Anstalten zu einem iSte-L-tSte, als sic zu ihrer sckmerzlichen Ueberraschunq einen Herrn mit einer Brille einsteigen sehen, der sie, sobald er sich niedergelassen, mit strenger Miene beobachtet. Der Zug setzte sich in Bewegung; Hortense wendet betrübt den Kopf und thut, als betrachte sie die Land schaft; Thränen treten in ihre Augen, sie sieht nicht einmal die Bäume. Lucien zerbricht sich den Kopf, wie er sich des alten Herrn auf eine sinnreiche Art entledigen könnte, und findet nur allzu energische Auskunftsmittel. Einen Augenblick glaubt er, daß ihr Reisegefährte unterwegs aussteigen werde. Vergebliche Hoffnung, der Herr fährt bis nach Havre. Erbittert entschließt er sich darauf, die Hand seiner Frau zu nehmen. Bei alledem sind sie ja verheirathet und können ihre Zuneigung sehr wohl eingestehen. Aber die Blicke des alten Herrn werden immer strenger und strenger, und cs ist so augenscheinlich, daß er diese Zärtlichkeitsbezeugung ganz und gar mißbilligt, daß die junge Frau erröthend ihre Hand zurückzicht. Der Rest der Reise erfolgt in einem verlegenen Schweigen; zum Glück kommt man in Rouen an. Auf dem Bahnhofe in Paris hat Lucien einen „Führer" ge kauft. Sie steigen in einem besonders empfohlenen Hotel ab und sind alsbald die Beute der Kellner. Bei der l'abls Z'KSts wagen sie kaum ein Wort zu wechseln vor all' diesen Leuten, die sie beobachten. Sie ziehen sich zeitig auf ihre Zimmer zurück. Aber die Wände sind so dünn, daß ihre Nachbarn rechts und links nicht eine Bewegung machen können, ohne daß sie es hören. Daraufhin wagen sie sich nicht mehr zu rühren, ja selbst nicht zu husten. „Sehen wir uns die Stadt an", sagt Lucien am Morgen, „und reisen wir dann schnell nach Havre ab." Den ganzen Tag sind sie auf den Füßen. Sie besehen sich die Kathedrale, wo man ihnen den Butterthurm zeigt, einen Thurm, der von dem Ertrage einer Steuer erbaut wurde, mit welcher der Adel die Butter der Gegend belegt hatte. Sie be suchen den alten Palast der normannischen Herzöge, die Museen, die Kirchen, den Friedhof. Es ist wie eine Aufgabe, die sie erfüllen; sie schenken sich nicht ein historisches Gebäude. Hortense besonders langweilt sich zum Sterben und ist so müde, daß sie am anderen Morgen noch auf der Eisenbahn schläft . . . In Havre erwartet sie eine andere Widerwärtigkeit. Die Betten des Hotels, wo sie absteigen, sind abscheulich kurz und hart. Hortense bricht in Thränen aus. Lucien muß sie trösten, indem er ihr schwört, daß sie nur die Zeit in Havre bleiben werden, die zur Besichtigung der Stadt erforderlich ist. Und die tollen Laufereien beginnen von Neuem. Dann verlassen sie Havre und halten sich so einige Tage in jeder bemerkenswerthen Stadt auf, die in ihrem Reisebuch ver zeichnet ist. Nirgends finden sie ein Plätzchen des Friedens und des Glückes, wo sie sich ungestört umarmen können. Es ist schon so weit gekommen, daß sie sich nicht mehr ansehen, und daß sie ihre Reise gleichgiltig fortsetzen, wie eine lästige Pflicht, von der sie sich nicht zu befreien wissen. Da sie nun einmal abgereist sind, müssen sie ja wohl auch zurückkommen. Eines Abend» in Cherbourg that Lucien den bedenklichen Ausspruch: „Ich glaube, ich ziehe Deine Mutter vor!" Am anderen Morgen reisen sie nach Granville ab. Aber Lucien bliebt verdrießlich und wirft grimmige Blicke auf die Landschaft, deren Felder sich fächerartig zu beiden Seiten de» Gleist» auSbreitrn. Plötzlich, al» der Zug auf einer kleinen Station hält, deren Name nicht bis an ihr Ohr dringt, einem reizenden kleinen Nest, ganz im Grün der Bäume verloren, springt Lucien auf. „Steigen wir aus, Hortense, steigen wir schnell au»I" „Aer diese Station ist nicht im „Führer", sagte Hortense verblüfft. „Der „Führer!" der „Führer!" . . . erwiderte er. „Du wirst sehen, was ich damit mache, mit dem „Führer!" Also rasch, steig aus!" „Aber unser Gepäck?" „Ich frage den Kuckuck danach . . . nach unserem Gepäck!" Und Hortense steigt aus, der Zug fährt davon und läßt die Beiden in dem reizenden Nest zurück. Sie treten aus dem kleinen Bahnhof und befinden sich mitten auf dem Lande. Nirgends ein Geräusch. Vögel singen in den Bäumen, ein klarer Bach fließt in der Tiefe eines anmuthigen kleinen Thales. Lucien's erste Sorge ist, den „Führer" in eine Lache im Straßen graben zu schleudern. Einige hundert Schritte entfernt, liegt eine einsame Her berge, deren Wirthin ihnen ein großes, sonniges, weißgetünchtes Zimmer zur Verfügung stellt. Die Mauern haben einen Meter Dicke. Uebrigens befindet sich kein einziger Reisender in dieser Herberge, und nur die Hennen betrachten sie mit etwas ver wunderten Augen. „Unsere Billets sind noch für acht Tage giltig", sagt Lucien. „Weißt Du was? Wir wollen unsere acht Tage hier ver bringen!" IU. Was für eine köstliche Woche war das! Sie fliegen des Morgens aus, auf verlorenen Pfaden, sie vertiefen sich in einen Wald auf dem Abhange eines Hügels, und verleben dort ihre Tage. Ein anderes Mal wieder folgen sie dem Bache; Hortense läuft wie ein llbermüthiges Schul mädchen, zieht sich die Schuhe aus und nimmt Fußbäder, während Lucien ihr kleine Schreie entlockt, indem er ihr jähe Küsse auf den Nacken drückt. Sie sind entzückt, so ganz verlassen zu sein, in einer Einöde, wo sie Niemand vermuthet. Am siebenten Tage sind sie bestürzt und trostlos, daß Alles so rasch vorbei sein soll. Und sie reisen ob, ohne selbst den Namen des Ortes kennen zu wollen, wo sie so glücklich gewesen sind. Wenigstens haben sie ein Viertel ihre» Honigmonds ge nossen. Erst in Paris holen sie ihr Gepäck wieder ein. Als Vater BSrard sie befragt, verwickeln sie sich; sie haben das Meer in Caen gesehen und versetzen den Butterthurm nach Havre. „Ei was!" . . . schreit der Kurzwaarenhändler verwundert. „Und Ihr sprecht mir gar nicht von Cherbourg . . . vom Ar senal!" „Oh, ein ganz kleines Arsenal", antwortet Lucien mit aller Seelenruhe; „viel zu wenig Bäume." Daraufhin zuckt Madame LariviSre geringschätzig die Achseln, indem sie murmelt: „Wenn das der Mühe werth ist, zu reisen! Sie kennen nicht einmal die Denkmäler . . . Vorwärts, Hortense, jetzt ist'» genug mit den Thorheiten, setz' Dich an di» Lasse."
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