02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 28.11.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-11-28
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961128020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896112802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896112802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-11
- Tag1896-11-28
- Monat1896-11
- Jahr1896
-
-
-
8722
-
8723
-
8724
-
8725
-
8726
-
8727
-
8728
- Links
-
Downloads
- Download single page (JPG)
-
Fulltext page (XML)
Bezugs-Preis A» t« tzauptexpedttion oder den km Stadt, bezirk und de« Vororten errichteten Au«, gabrstellen abgeholt: vierteljährlich^ 4.k>0, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Hau- üLO. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: viertellädrlich S.—. Direkte tägliche Kreuzbandiendung tu- Ausland: monatlich ^l 7.SO. Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,? Uhr. die Abend-Ausgabe Wochentag» um 5 Uhr. Redaktion und Expedition: JohanneSgasse 8. Die Lrpedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: ktto Klemm'S Sortim. kAlfrc- Hahn), Universitatsstrahe 3 (Paulinum), LoniS Lösche, Katharinenstr. 14, Part, und Königsplatz 7. Abend-Ausgabe. WpMr. Tageblatt Anzeiger. Ämlsblatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Rathes und Nokizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen-Prei- die 6gespaltme Petitzeile 2V Psjs. Reklamen unter dem Redactionsstrich ^ge spalten) üO^z, vor den Familieunachrichlen (6 gespalten) 40^. Größere Lchriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Ztffrrnsa- nach höherem Tarif. Extra-Beilage» (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—-, mit Postbesörderung 70.—. Annahrneschluk für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. M. Tonnabend den 28. November 1896. SO. Jahrgang: Politische Tagesschau. * Leipzig, 28. November. Je weiter die zweite Lesung der Justiznovelle im Reichstage vorrückt, um so unsicherer wird das Schicksal dcS ganzen ReformprvjectS. Auch gestern wieder wurden zwei Forderungen der Regierung abgelehnt. Mehr als 2 Stunden dauerte die Erörterung darüber, ob bei den Oberlandes gerichten als Berufungsinstanz die Verlesung der Zeugen Protokolle der ersten Instanz das persönliche Erscheinen der Zeugen überflüssig machen könnte. Man sah in diesem Falle die seltsamsten Bündnisse. Neben dem Conservativen v. Bucht» kämpften der Volksparteiler Haußmann und der Centrumsabgeordnete Lerno, während für die obligatorische Ladung der Zeugen der ersten Instanz neben dem immer kampfbereiten Abgeordneten Schmidt-Warburg die beiden Nationalliberalen von Cuny und von Marquardseu eintraten. Wenn wir auf die Seite der letztgenannten Gruppe, der auch der Sieg ver blieb, treten, so geschieht cs nickt so sehr wegen der principiellen Frage der Mündlichkeit, als vielmehr auS einem praktischen Grunde. Es wurde ganz mit Recht hervor gehoben , daß die Protokolle über die Zeugenaussagen in Strafsachen keineswegs derart seien, daß sie einem anderen erkennenden Gerichte ein wirkliches Bild von den Aussagen der Zeugen in der ersten Instanz geben könnten. Selbst der, übrigens im Laufe der Verhaue lung zurückgezogene, Eventualantrag deö Abg. Schmidt- Warburg, daß nur von den Zeugen in der ersten Instanz ausdrücklich genehmigte Protokolle in der zweiten Instanz zur Verlesung sollten gelangen dürfen, würde neben vielerlei Unzuträglichkeiten doch immer noch den Mangel gehabt haben, daß die erkennenden Richter ein anschauliches Bild von der Sachlage nicht erkalten hätten. Selbst ein steno graphisches Protokoll kann ein klares Bild von der Ver handlung nicht liefern, der Richter muß den Zeugen vor Augen haben, um seine Aussage richtig bewerthen zu können. Den weit ausgedehnten zweiten Abschnitt der Debatte füllte die Berathung über die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Entschädigung unschuldig Verurtheilter aus. Auch hier erlitt die Regierung eine Niederlage, da nicht, wie sie verlangte, nur der Beweis der Unschuld, sondern wie bei dem bisherigen Gesetze, die Anfüh rung von Thalsacken, die das Belastungsmaterial, das zur Verurtheilung geführt hat, entkräften, die Wiederauf nahme soll berbeisübren können. Ebenso sollen nicht nur, wie die Regierung eS wünscht, solche im Wiederaufnahme- Verfahren freigcsprochcnc Personen der Entschädigung thcil- haftig werden, deren Unschuld erwiesen ist, sondern auch solcye Personen, bei denen die Unschuld nicht ganz festgcslelll ist. Bei der Besprechung dieser Fragen beriefen sich die Socialdemokraten zum Beweise dafür, daß selbst das bis herige Wiederaufnahme Verfahren noch nicht zureichend sei, auf den bekannten Fall Ziethen und auf den Meineivs- proceß gegen den Bergmann Schröder. Besonders den letzten Proceß werden die Socialdemokraten anscheinend noch öfter im Reichstage zur Besprechung bringen. Es wäre dringend zu wünschen, daß hie zweite Be rathung der Instiznovelle im Reichstage endlich zu Ende käme, nicht blos, weil bei dieser Gelegenheit mit unfrucht baren Debatten bedauerlich viel Zeit verdorben wird, sondern auch, weil sie verhindert, daß es über die durch den Etat auf die Tagesordnung gesetzte Marincsrage zu völlig klärenden Erörterungen kommen. Es ist nun bald ein Jahr vergangen, seitdem das Schreckgespenst der „ufer losen. Flotlenpläne" heraufbeschworen wurde. Zuerst aus Anlaß der englisch-südafrikanischen Vorgänge, dann aber be sonders im Zusammenhänge mit der Kundgebung des Kaisers am 18. Januar war eine gewisse Bewegung für eine erhebliche Ver stärkung unserer Wehrkraft zur See in Gang gekommen. Hier und da wurde der Ruf nach einer Kriegsmarine ersten Ranges laut und in den parlamentarischen Kreisen munkelte man von einem bereits fertigen Plane, der allerdings in einem so riesenhaften Maßstabe gehalten sei, daß der Reichskanzler sich entschieden weigere, ihn zu vertreten. Nachher kamen die beschwichtigenden Erklärungen in der Budgetcvinmission, und als am Beginn des Sommers der CeulrumSfübrer Lieber seine berühmte Inspektionsreise nach Kiel gemacht hatte, da war man der festen Erwartung, die Neuforderungen der Marineverwaltung sich in einem Rahmen halten zu sehen, den die „ausschlaggebende Partei" zu bewilligen geneigt und in der Lage sein würde. Um so überraschender ist nunmehr die Wirkung, welche die Aufstellungen des Etatsenlwurfs für 1897/98 hervorgebrachl bat. In früheren Jahren war die klerikale Presse gewohnt, die Melodie, welche Richter's „Freisinnige Zeitung" beim Er scheinen des Etats anschlug, in fast sklavischer Nachahmung weiterzuspinnen. Seitdem das Centrum quasi Regierungs partei geworden ist, konnte man wohl eine etwas selbst ständigere Finanzpolitik von ihm erwarten. Aber bis jetzt siebt man in seiner Presse auch diesmal wieder daS alte Spiel. Richter hat dem neuen Marineetat sofort die Note „exorbitant" ausgestellt und die ultramontancu Blätter wiederholen das Lied in den anmuthigsten Variationen. So ruft die „Köln. Volksztg." aus, alle Gutmüthigkeit habe ihre Grenzen, und die Art, wie jetzt das Rcichsfaß angebohrt werden solle, gehe denn doch über die Hutschnur. Kurz, man er hebt rundweg die Anklage, daß die Marineverwaltung die „ufer losen Flottenpläne", welche sie im Frühjahr abgeleugnet habe,jetzt in der Thal zu verwirklichen trachte. Da ist eS denn hohe Zeit, daß über diese Angelegenheit durch die parlamentarische Debatte volles Licht verbreitet wird. Es ist richtig, daß die in dem neuen Marineetat geforderten einmaligen Ausgaben in Höbe von rund 70 Millionen alle früheren Forderungen übersteigen. Kein einziger Steuerzahler wird von dieser Aus sicht entzückt sein. Die Frage aber, um die es sich zunächst allein bandeln kayn, ist doch die, ob diese Ausgabe» durch das Wohl des Reichs geboten sind. Der Gesichtspunkt, unter dem diese Frage zu prüfen ist, läßt sich, wie der „Sckwäb. Mert." mit Recht betont, für den unbefangenen Beurtheiler leicht fcststellen. Wir sind durch unsere centrale Lage als Festlandsstaat zwischen großen Militärmächten gezwungen, ein so starkes Landheer zu unterhalten, daß wir uns bezüglich unserer Marine auf das Nvthwendigste beschränken müssen und weder irgendwelchen Liebbabereien, noch an sich wohl praktischen, aber über das Maß des durchaus Gebotenen binausgehenden Plänen Zugeständnisse machen dürfen. Eine Marine aber, die auch dem also beschränkten Zwecke zu genügen nicht im Stande wäre, würde eine sinnlose Ver schwendung sein. Um eine wirksame Verteidigung unserer Küsten zu verbürgen, muß unser Schiffsmaterial auf der höchsten Höhe der Leistungsfähigkeit stehen und des halb, soweit das nicht der Fall ist, erneuert werden. Für einen ausreichenden Schutz unserer stetig wachsenden und für unsere wirthschastliche Zukunft hochbedeutsamen überseeischen Interessen aber bedürfen wir einer erheblich stärkeren Kreuzerflotte als bisher. Das ist eine ganz klare Sachlage. Zweifelhaft ist nur, ob für diesen Zweck die einzelnen, im Etat geforderten Ausgaben unerläß lich sind. Das wird gewissenhaft zu prüfen sein. Was gespart werden kann, soll man sparen: für das schlechterdings Nolhwendige aber müssen die Mittel be schafft werden. So, wie gesagt, der Standpunkt LeS un befangenen Beurtheilers. Die klerikale Presse jedoch denkt anders. Nach ihrer Meinung ist es die oberste Aufgabe des CentrumS, sowohl neue Steuern wie neue Schulden im Reiche unter allen Umständen zu verhüten. Mehrfach ist das ge lungen, und das Centruin bildet sich nicht wenig darauf ein, der finanzpolitische Wohlthäter des deutschen Volkes geworden zu sein. Die Bewilligung der Marineforderungen würde es dieses Rubmes berauben, deshalb muß sie unterbleiben. Das ist wenigstens die Meinung der Presse des Centrums. Mau kann nun gespannt darauf sein, was man von den Rednern der Fraktion im Reichstage zu hören bekommt. Dabei wird mau auch die Aufmerksamkeit darauf richten müssen, wie weit etwa die vorläufige Sprödigkeit des Cen trums darauf berechnet ist, von der Regierung Zugeständ nisse auf einem andern Gebiete herauszuschlagen. Als ganz plötzlich der Ltrcik der Hamburger Hafenarbeiter begann, drängte sich di- Frage auf, was diese so günstig gegellten und wahrscheinlich gerade deshalb so mangelhaft orgauisirten Arbeiter bewogen haben könnte, zu einem so zweischneidigen Mittel zu greifen. Diese Frage ist jetzt gelöst. Der Streik ist von englischer Seite zu dem Zwecke »»gezettelt, den blühenden Handel Hamburgs zu schädigen. Noch hat kein englischer Hafenarbeiter gestreikt, wobl aber hat der englische Agitator Tom Man in Hamburg geweilt, nicht um Geld zu bringen, sondern um den Streik zu leiten. Wenn, wie den Arbeitern in Hamburg vorgeredet worben ist, der Streik ein internationaler hätte werden sollen, so hätte der englische Agitator daheim Arbeit in Fülle ge funden und hätte in Hamburg nichts zu suchen gehabt, wo es Arbeiterführer in Menge giebt und wo die socialdemo kratischen Abgeordneten Frobme, Molkenbubr, Legien, Metzger und Gerisch mindestens ebensoviel von den Lebensverbältnissen der Hafenarbeiter verstehen, wie Tom Man. Das Central- Streik-Comitö in Hamburg giebt in einem Aufrufe selbst zu, daß es wider Willen in den Streik bineingezogen worden ist, denn es heißt, wie man uns mittheilt, in diesem Ausrufe: „Es wird ersucht, neben moralischer Unterstützung auch sür finanzielle zu sorgen, da dieser Riesenstreik, der alle Tage noch weitere Dimensionen annimmt, auch uns überraschend kam." Damit wird zugleich eingestanden, daß kein Geld vorhanden ist. 'Wahricke.ncich gelingt »'s dem Central- comilS, kleine Summen flüssig zu machen, aber wenn am Montag nicht mindestens 100 000 vorhanden sind, um über 10 OOOStreikende und ihre Familien auch nur einige Tage vor völligem Mangel zu schützen, so ist der Streik verloren und die „internationalen" englischen Agitatoren, die auf den blühenden Hamburger Handel eben so neidisch sind, wie die englischen Ncchtsocialdemotraten, lachen über die leichtgläubigen deutschen Narren, die den „Brüdern" jenseits des Canals die Kastanien aus dem Feuer geholt und sich dabei die Finger verbrannt haben. Wann der Streik auch zu Ende geben mag, jedenfalls hat Hamburgs Wirthschaftsleben und Handels betrieb einen Schlag bekommen, der sich durch Zahlen gar nicht ausorücken läßt und nicht nur auf die Streikenden selbst, sondern auf alle Hamburger Arbeiter zurückwirken muß. Hoffentlich wird wenigstens die Lehre beherzigt, welche die Geschickte dieses Streiks predigt und die die „Hamb. Nachr." iu folgenden Sätzen zusammenfassen: „Die Hamburger Arbeiter können mit ihren Frauen und Kindern gerne hungern und frieren, wenn nur der englische Zweck erreicht wird, entweder Hamburg zu schädigen, oder die hiesigen Arbeiter den englischen Lohnkamps aus ihre Rechnung und Gefahr sichren zu lassen, während die englischen Interessenten in aller Gemüthlichkeil den Anstrengungen des deutschen Michels zu ihren Gunsten schmunzetnd zusehen. Wir bedauern, daß die Er- kenntmß dieses Zusammenhanges der Tinge in den Kreisen der hiesigen Streikenden nicht allgemein bekanut ist; wir hätten sonst zu dem gesunden Sinn mancher Hamburger Schauerleute das Ver trauen, daß sie sich weigern würben, ihre Familien zu Gunsten der Engländer, sowie zur Schädigung Hamburgs in Noth und Elend zu bringen. Mit Genugthuung verzeichnen wir die Nachricht, daß die hiesigen Behörden den zur Aufwiegelung der diesigen Arbeiter wieder- holt eingelroffenen englischen Agitator Tom Man sofort verhaftet und an Bord eines nach England gehenden Dampfers verbracht hat. Wir bedauern, daß nicht mit allen englischen Emissairen, die nach Deutschland gekommen sind, um deutsche Einflüsse auf Kosten der eigenen Interessen Deutschlands englischen Zwecken unter Erregung von Täuichung dienstbar zu machen, ebenso verfahren werden kann wie mit Herrn Man. Sind die hiesigen Hafenarbeiter nicht gesonnen, sich weiter von den Engländern mißbrauchen zu lassen, so werden sie wissen, was sie zu thun haben, wenn in ihren Kreisen weiter ver- sucht werden sollte, unter der Maske der Kameradschaft sie zu weiteren Schritten zu verleiten, die nicht in ihrem, sondern nur im englischen Interesse liegen und ihnen lediglich zum Schaden gereichen." Während die Botschafter in Konstantinopel in Bezug auf die Durchführung der Reformen auf Kreta sich zu einem festeren Auftreten geeinigt haben, sind hinsichtlich der wichtigen Frage der Sanirung der türkischen Finanzen zwischen Frankreich und Rußland Differenzen entstanden. Aus gehend vonder unbestreitbarenTbatsache,daß zu einerenergischen Inangriffnahme des Reformwerks bedeutende Geldmittel erforderlich (nach beiläufigen Berechnungen würde dasselbe etwa zehn Millionen Pfund kosten!) und der Türkei die Mittel fehlen, hatte Frankreich eine durchgreifende Reorgani sation der türkischen Finanzverwaltung vorgeschlagen, die der Türkei dann die Ausnahme einer ausgiebigen Anleihe ermöglichen sollte. Zu diesem Zwecke sollte der Ver- wallnngsratb der türkischen .,Oette publiqu«^, die bis jetzt nur eine ganz private Einrichtung ist, in eine internationale Institution umgewanvelt werden, welche unter die Control- der Großmächte zu stellen wäre. Daß Frankreich, dessen Capitalisten zwei Drittel der Türkenwerlhe besitzen und die auf diese Weise Aussicht batten, nach und nach zu ihrem Gelde zu gelangen, auf diesen Gedanken kam, ist leicht be greislich, ebenso erklärlich, wenn auch bedauerlich, ist es aber auch, daß die Türkei durchaus nicht geneigt ist, sich unter die finanzielle Curatel Europas zu stellen, und wenn Rußland dabei die Türkei gegen Frankreich unterstützt, so wird dies vielfach darauf zurückgefübrt, daß eine gründliche Sanirung der Finanzen des ottomanischen Reiches Rußlands Interessen insofern zuwioerlciuft, als dieses keineswegs auf eie Erbschaft des kranken Mannes verzichtet, sondern die Ueber- nahme derselben nur auf einen gelegene«» Termin hinaus geschoben hat. Bis dabin muß zwar Ruhe in der Türkei geschafft, aber auch dafür gesorgt werden, daß der Kranke nicht mehr auf die Füße kommt und in unmittelbarer Abhängigkeit von Rußland bleibt. Es klingt die Nachricht daher sehr wahrscheinlich, daß Graf Montebello in P-lerSburg mit dem der russischen Regierung vorgelegten französischen Reformplan k.'in Glück gehabt bat und seine Bemühungen insbesondere durch den energischen Einspruch, den sowohl der Bo.schaster v. Nelidoff, als der Finanzminister Witte gegen den Plan erhoben, gescheitert seien. Diese Meinungsverschiedenheit un mittelbar nach den Pariser Zarentagen, und zwar im Kernpunkt der orientalischen Krage, giebt zu denken, zumal wenn es sich be wahrheiten sollte, daß Herr v.Neldoff MinisterdesAuswärligen wird. Für englische Mache dagegen muß man cs ballen, wenn diese Differenz in einem aus Wien danrtcn Artikel der „Internat. Corresp." dahin erweitert wird, daß eine völlige Schwenkung der russischen Politik eingetreten und daß es neuerdings doch noch zu einer Sonververständigung zwischen Rußland und England und zwar mit Ueb er geb ung Frankreichs und auf Kosten der französischen Ansprüche aus Egypten gekommen sei. Nach diesem Abkommen soll England, nachdem ihm die encgiltige Okkupation Egyptens von Rußland gestattet ist, auf den Plan verzichten, der Türkei eine europäische Finanzverwaltung aufzudrängen, soll Feitrlletsn. 20s Hans Jürgen. Roman von Hedda v. Schmid. Nachdruck verboten. „DaS hast Dn getban", rief er ihr zu, „weißt Du auch, was Du dadurch verbrochen hast? Einem Verschmachtenden hast Du den Weg zur Quelle seines Glückes verschloßen, in eine Wüste hast Du ihn geschleudert. Und Du bettelst um mein Leben! . . . Ich soll es erhalten für Dich .... weißt Du nickt, daß mein Leben einer andern gehört hat, und daß meine Liebe ihr gehören wird bis in den Tod, weißt Du nicht, daß Irma . . ." Er hielt plötzlich inne, denn Hortense wankte und griff, nach einem Halt tastend, in die Luft. HanS Jürgen s Arm fing sie noch rechtzeitig auf, um sie vor dem Niederfallen zu bewahren sie war ohnmächtig geworden. Die Gemüthsbewegungen der letzten halben Stunde waren zu viel sür ihren schwachen Geist, sie war ihnen nicht gewachsen. HanS Jürgen bettete die Leblose auf den breiten orien talischen Divan und schellte dann heftig und laut. Seine Wutb war beim Anblick der bewußtlos Daliegenden verflogen. Konnte er denn rechten mit diesem armen, bcmitleidenswerthen Wesen? Vor allen Dingen mußte er sich selbst anklagen und nicht Hortense, die jetzt, nachdem auf sein Sturmläuten Ellen, die Kammerjungser, der Bediente, kurz das ganze Hauspersonal herbeigeeilt war, in Krämpfen valag. Man trug die Kranke auf ihr Zimmer und schickte nach dem Arzt. DaS ganze HauS gcrieth in Verwirrung, selbst die sonst so besonnene Ellen schien heute den Kopf verloren zu haben — sie stand wie in halber Betäubung mit todten- biassem Antlitz am Lager der Kranken und leistete dem Arzt, welcher um letztere bemüht war, gleichsam wie geistesabwesend hilfreiche Hand. Nach kurzer Zeit hörten die Krämpfe auf und Hortense schlummerte rin. Eine barmherzige Schwester, welche man berbeigeholt, löste Ellen von ihrem Posten am Kranken lager ab. * * * Als der Abend hereingebrochen war, hatten sich die Ver wirrung und das Durcheinander, welche seit Hortensens plötz licher Erkrankung im Hause geherrscht, gelegt. Alles schlich lautlos umher, um die Kranke nicht zu stören. Ellen saß, vor sich hinbrülend, in tiefen Gedanken auf ihrem Zimmer. Was war zwischen den Ehegatten vorgesallen ? Diese Frage beschäftigte sie lebhaft. Daß ein Duell zwischen Bruno und Hans Jürgen in Aussicht stehe und daß es Hortense nickt gelungen, dasselbe zu verhindern, davon war Ellen mehr denn je überzeugt. Hortensens fieberheißer Mund hatte in irren Phantasien ja immer wieder gestammelt: „Nicht sterben, Hans Jürgen, Du gehörst mir, blicke mich nicht so kalt an, Tu darfst nicht sterben, Du bist mein." Und in Ellen's Herzen schrie es ebenfalls verzweifelt: „nickt sterben!" Elleu'S Aufregung hatte ihren Höhepunkt erreicht — jeder Nerv in ihr fieberte, sie verließ ihr Zimmer und fragte den Bedienten, der im Speisezimmer mit dem Abräumen des Mittagsmahles beschäftigt war, welches heute Niemand, weder Ellen noch Hans Jürgen, eingenommen, ob der gnädige Herr in seinem Cabinet wäre. „Ja", lautete die Antwort, und Herr v. Lenningen wäre seit einer Viertelstunde ebenfalls dort. Die letztere Nachricht berührte Ellen wie eine kalte Welle. Alles in ihr verlangte darnach, den Empfindungen, welche in ihr zählten, vor HanS Jürgen freie Bahn zu geben, selbst aus die Gefahr kni, daß er das Mädchen, welches ihm so rückhaltlos seine Liebe offenbart, verachten würde. Und nun mußte sie ihren Vorsatz ausschieben, sie mußte draußen stehen in fiebernder Ungeduld, während drinnen in HanS Jürgen- Zimmer vielleicht schon die Stunde, in welcher dieses unselige Duell stattfinden sollte, bestimmt ward. Wenn sie doch wenigstens hören könnte, was HanS Jürgen und Lenningen miteinander besprachen. . . . Halt! da blitzte eine Idee in ihr auf. — Im Corridor zu stehen, um hinter der Thür auf jeden Laut in HauS Iürgen's Zimmer zu lauschen, das widerstrebte ihr, die Dienerschaft hätte sie auf diesem Lauscher posten ertappen können, aber auch Lenningen konnte rasch aus der Thür treten. Allein es gab einen andern Platz, auf welchem man, wie sie vermuthete, jedes Wort, das in HanS Iürgen's Cabinet gesprochen wurde, deutlich vernehmen konnte. An Hans Iürgen's Appartements schlossen sich die beiden Räume, welche Herr v. Saliday während seiner Anwesenheit in Reval zu bewoknen pflegte. Man halte die Verbindungsthür zwischen ihnen und Hans Iürgen's Cabinet geschlossen, ein schwerer Teppich war in Herrn von Saliday's Schlafgemach über dem braunen Holzgetäfel befestigt, zum Ueberfluß war noch ein Sckrank davorgestellt. Wenn es Ellen gelang, letzteren ein wenig von seinem Platz sortzurücken und hinter den Teppich zu schlüpfen, so hatte sie ohne Frage den bequemsten Lauscherposten gewonnen. Sie besann sich nicht lange und eilte, ihren Plan zur That umzugestalten. Es gelang ihr, den nickt sehr schweren Schrank so weit wie nothwendig vorzurücken, dann schlug sie vorsichtig .die Teppichdraperien zurück, drückte ihr Ohr sanft an das Holzgetäfel und vernahm nun ganz deutlich Lenningen's Stimme: „Aber, Herr v. Lommerd, Sie machen sich einen Schritt, den Tausende und Abertausende thun, zum Vorwurf. Sie haben eine Verbindung geschlossen, welche in den Augen der Welt sür sehr vernünftig gilt. Sie haben sich durch Ihre Heirath pekuniär arrangirt und Niemand mißdeutet Ihnen dieses." „Und wenn auck die ganze Welt mich deshalb nicht ver dammte", ries Hans Jürgen leidenschaftlich, „ein Herz, da« weiß ick, hat sich mir dennoch voll bitterster Verachtung noch mehr entfremdet. Vor einem Augenpaar stehe ick gebrand- markt da, weil ick mich an eine ungeliebte Frau gleichsam verkauft. Sie können mich nicht verstehen, Sie blicken mich erstaunt an, ick, der Lebemann, der tolle, flotte HanS Jürgen erscheint Ihnen in einem ganz neuen Licht." „Sie sind erregt, ich finde daS sehr begreiflich, am Vor abend eines Duells." „Nein, Sie irren — es ist nicht der Gedanke an das Duell, welches mein Blut in Wallung bringt. Doch, um auf meine vorhin angedculete Bitte zurückzukommen — die erste Hälfte der nächsten Nackt werde ich zum Briefschreiben be nutzen und zum Ordnen einiger Papiere. Wollte ick alle meine Abrechnungen, Bücher u. s. w. in Ordnung bringen, wie eS einem Menschen, der möglicher Weise mit seinem Leben abschließt, geziemt, so brauchte ich Wochen dazu, denn da ich mich um meine geschäftlichen Angelegenheiten ni- sonderlich gekümmert, so sind sie jedenfalls sehr verworren." „Herr v. Lommerd", sagte Lenningen ernst, „Sie sprechen von Ihrem Tode, als ahnten Sie ihn voraus, ich erinnere Sie an ihren Sohn, er ist das Band, welches Sie an daS Leben fesselt." „Mein Sohn, mein Liebling ist in den besten Händen. DaS Vermögen seiner Mutter und seiner Großeltern ge stattet es ihm, einmal LommerdSboff wieder zu Ebren zu dringen, seine Großmutter wird ibm Las Gut seiner Aknen, die Wiege seines Geschlechts erhalten. Gewiß ist es besser für ihn, wenn er niemals Gelegenheit haben wird, sich seinen Vater zum Vorbild zu nehmen. Doch nun zur Sache. Hier in dieses Fach meines Schreibtisches, links unten, welches von einem besonderen Schlüssel geschlossen wird, lege ick beute Abend einen Brief, wollen Sie mir fest versprechen, daß, sollte ich morgen fallen, Sie das Schreiben an seine Adresse befördern werden und zwar so, daß außer Ihnen und der Empfängerin dieser Zeilen Niemand etwas davon erfährt. Es gilt eine Rechtfertigung. Der Lebende verschmäht dieselbe, weil er zu stolz dazu ist, noch einmal da um Brod zu betteln, wo man ihm einen Stein geboten, der Todte aber wälzt einen schnöden Verdacht von seinem Andenken ab. Fragen Sie mich nicht, Lenningen, wenn Si- die Adresse deS Brieses lesen sollten, so werden Sie vielleicht Manches aknen und Manches, was Ihnen in meinen beutiZen Worten unklar crsckienen, wird dann verständlicher für Sie sein. ES ist das edelste, reinste weiblich- Herz, dem ich meinen letzten Gruß sende und dem mein letzter Gedanke gelten wird. Und nun genug davon — Sie haben heute einen Blick in mein Seelenleben getban, ja, ich bin in vieler Beziehung ein Anderer geworden seit dem letzten halben Jabr. Sehen Sie,
- Current page (TXT)
- METS file (XML)
- IIIF manifest (JSON)
- Show double pages
- No fulltext in gridpage mode.
- Show single page
- Rotate Left Rotate Right Reset Rotation
- Zoom In Zoom Out Fullscreen Mode