01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 26.05.1899
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-05-26
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990526012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899052601
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899052601
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-05
- Tag1899-05-26
- Monat1899-05
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Tabellarischer und Ziffernjatz nach höherem Tarif. bijtra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderuug ./t 60.—, mit Postbesörderung Xl 70.—. Anzeiger. Amts blatt des Königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, -es Mathes und Polizei-Amtes der Ltadt Leipzig. Annahmeschluß für Anzeigen-. Abend-AuSgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eins halbe Stunde früher. Alljkigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Freitag den 26. Mai 1899. 93. Jahrgang. Canal- und Wahlfrage in Preußen. LL In Preußen bereiten sich neue Kämpfe zu dem durch die Canalvorlage herbeigcsührtcn vor. Dein Landtage ist ein Gesetzentwurf Uber die Reform deö Gemeindewahl- rechiS zugegangen, der folgendermaßen lautet: Wir Wilhelm v. G. Gn. rc. 8 1. In den Stadt» und Landgemeinden, in welchen die Bildung der Wählerabtheilungen für die Wahlen zur Gemeinde vertretung nach dem Maßstabe directer Steuern stattfindet, werden die Wühler nach Maßgabe der von ihnen zu entrichtenden directcn Staats», Gemeinde-, Kreis-, Bezirks- und Provinzial-Stcuern in drei Abtheilungen getheilt, und zwar in der Art, daß auf jede Ab- theilung rin Drittheil der Gesammtsumme der Steuerbeträge aller Wähler fällt. Für jede nicht zur Etaatseinkommensteuer veranlagte Person ist an Stelle dieser Steuer ein Betrag von drei Mark zum Ansatz zu bringen. 8 2. Stimmberechtigte, deren für die Bildung der Wähler abtheilungen maßgebender Steuerbctrag den im Durchschnitt auf einen Wähler in der Gemeinde entfallenden Steuerbelrag über steigt, sind stets der zweiten und ersten Abtheilung zuzuweisen; im Uebrigen wählen Personen, welche vom Staate zu einer Steuer nicht veranlagt sind, stets in der dritten Abtheilung. Erhöht oder verringert sich in Folge dessen die auf die erste und zweite Abtheilung entfallende Gesammtsteuersumme, so findet die Bildung dieser Abtheilungen in der Art statt, daß von jener Summe auf die erste und die zweite Abtheilung je die Hälfte entfällt. Eine höhere Abtheilung darf niemals mehr Wähler zählen als eine niedere. 8 3. Steuern, die für Grundbesitz oder Gewerbebetrieb in einer vnderen Gemeinde entrichtet werden, sowie die Steuern für die im Umherziehen betriebenen Gewerbe sind bei Bildung der Abthei lungen nicht anzurechnen. Wo directe Gemeindesteuern nicht erhoben werden, tritt an deren Stelle die vom Staate veranlagte Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer. 8 4. Der 8 5 des Gesetzes, betreffend Abänderung des Wahl verfahrens vom 29. Juni 1893 (Gcsctz-Sammlung Seite 103), wird aufgehoben. Die bestehenden gesetzlichen Vorschriften über das Ge- meindewahlrecht bleiben im Uebrigen unberührt. Schon vor der Veröffentlichung dieses Entwurfes hatte die Negierung durch die „Bert. Corr." mittheilen lassen, die Vorlage bezwecke, die durch die große Steuerreform von 1891 eingetretenen Verschiebungen des Wahlrechts, soweit sie noch nicht beseitigt seien, auszugleichen. ES solle dies dadurch erreicht werden, daß unter Beibehaltung des Drciclassen- systemS Wählern der dritten Classe, deren Steuerbetrag über ein bestimmtes Mittelmaß hinauSgebe, ein Wahlrecht in einer höheren, in der Regel selbstverständlich iu der zweiten Classe gewährt werde. „Als jenes Mittelmaß gilt der rechnerische Durchschnitt, der auS dem gesummten, der Abtheilungsbildung zu Grunde liegenden Steuerbeträge auf den einzelnen Gemeindewähler entfällt. Die Tragweite der Neuerung erhellt aus folgendem Beispiel. In Berlin schloß bei den Novemberwahlen des Jahres 1897 die zweite Ab- theilung nach unten mit einer Steuerleistung von 943,60 ab, während der Durchschniltssatz für alle Gemeindewähler sich auf nur 160,60 bezifferte. Wähler, deren Steuer leistung über letztere Ziffer hinauSreicht, würden demnach bei Geltung der neuen Vorlage, unter sonst gleichgeblicbenen Verhältnissen, den oberen Classen zuzuweisen sein.... Die Ab grenzung nach dem Durchschnitt greift nur zwischen der zweiten und dritten Classe Platz. Die beiden oberen Classen unter sich werden wiederum, wie bisher üblich, nach der Quote der Steuersumme geschieden." Diese „Reform" verursacht also in der ersten Classe nur eine geringe Vermehrung der Wähler, während sie einen sehr erheblichen Thcil der dritten Classe in die zweite schiebt. Die Wirkung der Veränderung wird natürlich in den ver schiedenen preußischen Gebietstbeilen eine sehr verschiedene sein, sie läßt sich ohne statistische Unterlagen im Allgemeinen nicht beurtheilen, aber Eines scheint gewiß zu sein: daß Cent rum wird in den Städten des Westens einen gewaltigen Macht zuwachs erfahren. Die „Köln. Ztg." schreibt: „Wenn dieser Gesetzentwurf Gesetzeskraft erlangt, so bedeutet daß eine volle Ausantwortung aller rheinischen Städte an die Mehr heits-Herrschaft der Ultramontanen, und weiter ergiebt sich aus der dadurch bewirkten künstlichen Schwächung der dritten Wählerclasse eine offenkundige Aufforderung an die Social demokratie, jetzt auch, insbesondere in den Fabrikstädten, den Kampf um die Gemeindewahlen aufzunchmen." Die „Köln. Ztg." besitzt ein sehr lebhaftes Temperament, sie hat außerdem noch einen besonderen Grund, die Wirkungen des Entwurfs als sehr einschneidende zu schildern, denn von ihr sind schon vor einiger Zeit die Com- munal - Wahlreformpläne „dcS Herrn von Miquel" als überaus schwarze geschildert worden. Wahrscheinlich behält sie aber diesmal Recht, und ist dem so, so steht Preußen vor einer Cultur- resp. Uuculturfrage ersten Ranges. Denn eine Herrschaft des Ultramontanismus über die Städte des Westens wird sich vor Allem im Schulwesen und in sonstigen Bilduugsangelegenheiten auf vcrhängnißvolle Weise be merkbar machen. In der Sache liegt für die Regierung kci-e Nöthigung, eine solche Entwickelung resp. Ruckentwickelung anzubahnen. Die Unzukömmlichkeiten, die mit dem Gemeindewahlrecht seit der Steuerreform ohne Frage verbunden sind, ließen sich auf anderem Wege entsprechend den Geboten der Gerechtigkeit und, beiläufig bemerkt, auf weniger künstliche, um nicht zu sagen verzwickte Art ausgleichen. Um die Sache, nämlich um die obbemeldete Gerechtigkeit, wird es sich aber, so steht zu befürchten, in dieser Angelegenheit gar nicht handeln, sondern um die Politik. Und die politische Situation der Gegenwart erhält in Preußen ihre Signatur von der — Canalfrage. Damit ist gleichzeitig gesagt, daß sie für daS Centrum eine überaus günstige ist. Das führende Blatt dieser Partei hat schon vor der Veröffentlichung des Wabl- gesetzentwurfS die Stellung eines vermuthlich ausschlag gebenden TheileS der klerikalen LandtagSfraction zur Canal frage in Worten charakterisirt, die man, ein Bismarck'scheS Scherzwort variirend, kurz dahin zusammensassen kann: ueseio, guiä Ulis magis karctmoutum osso passet — Mittel landcanal oder kein Mittellandcanal. Wörtlich heißt eS in dem Artikel: „Es giebt so Manches, was man thun und auch lassen kann, ohne in dem einen oder dem andern Falle sein Gewissen zu beschweren. Und eS giebt Regierungsvorlagen, für deren Ablehnung cS so gute Gründe giebt, wie für deren Annahme. Ob Jemand sich für das Eine oder daS Andere entscheidet, das hängt oft von Kleinigkeiten und Zufälligkeiten, von persönlichen Momenten und von „Stimmungen" ab. Zu diesen Vorlagen kann für einen Theil der Lentrumsmitglieder auch das Canal gesetz gerechnet werden. Mancher weiß bis jetzt noch nicht, wie er stimmen wird. Er gehört vielleicht einem LandeStheile an, der an dem Canale gar nicht interrssirt ist; weder die Gründe für noch gegen den Canal haben auf ihn unbedingt überzeugend ge- wirkt. Da wird doch selbstverständlich irgend ein Neben umstand den Ausschlag geben." Dann aber hatte das klerikale Blatt gerade heraus ge sagt, daß diese Nichtinteressirten von den Seinen ohne politische Compensationen nicht zu haben sein würden. Weniger deutlich, aber für die Negierung wohl ausreichend, waren die Wendungen, in denen die Unterstützung zugesagt war, wenn politisch compensirt würde. Und als Gegen leistung war vor Allem die „Reform" des Gemeinde wahlrechts bezeichnet: „Darum braucht die Negierung die Fraktion aber nicht zu ver stimmen durch Vorenthaltung oder lässig« Vertretung der Com- munalwahlrechtSreform. Im Gegentheil, je weniger Stimmen den Ausschlag geben, um so mehr müßte die Regierung darauf be- dacht sein, Niemand im Centrum vor den Kopf zu stoßen. Tie Communalwahlreform ist überdies eine Forderung der Gerechtigkeit und von der Regierung längst versprochen worden. Sie hat die Pflicht, sie einzubringen, unbekümmert um di« Haltung des Centrums gegenüber dieser oder jener Vorlage." Die Marktlage ist also angenbeißend klar, was natürlich auch in den Organen der anderen Parteien zum Ausdruck kommt. Bei den einen durch ausdrückliche Hervorhebung des Zusammenhanges zwischen Canal und Klerikalisirung der westlichen Stadtgemeinden, bei den anderen durch eine Verdutztheit, über die man lachen könnte, wenn es sich nicht um so gar nicht heitere Dinge handelte. Das Centrum ist Herr auch im preußischen Abgeordnetenhause geworden und daS hat mit ihrem Brüllen die Canalprefse gelban, die lin ks li bera le Presse, die schon seit Monaten der Schrecken aller Derjenigen ist, die zwar den Mittellandcanal als eine wirtschaftliche Einrichtung dringend wollen, aber nicht so einfältig sind, dieses Wasserstraßenproject für den archimedischen Punct anzusehen, von dem aus die — notabene nahezu die Mehrheit des Abgeordneten hauses bildenden — beiden konservativen Fractiouen aus den Angeln gehoben werden könnten und sollten. Man bat nun, wonach man schrie; Herr vr. v. Miquel setzt „Alles" daran, um den Canal durchzubrinaen, und wenn man ihn, wie die „Köln. Ztg." schon thut, an gesichts deS Gemeindewahlrechtsentwurfes an seine liberale Vergangenheit erinnert, so kann sich der Minister mit bestem Recht« auf die Pression berufen, die in dem immer wiederholten Satze gipfelte: „Allein kann die Canal vorlage nicht fallen, die Negierung muß mit." Die preußische Regierung hat gehört und sieht von dem ihr so dringend widerrathenen Selbstmorde ab. DaS Beste oder vielmehr das Schlimmste an der Sache aber ist, daß jene Pression unnöthig, daß die Verdächtigung deö „CanalernsteS deS Herrn von Miquel" grundlos gewesen ist und daß man einer klerikalisirenden Negierung ohne alle Roth den Vorwand geliefert hat, in Erfüllung eines dringen den Verlangens des Liberalismus ihren ceutrumSfreundlichcu Neigungen zu fröhnen. Der Jahresbericht der Deutschen Cotonialgesellschaft. Die Deutsche Colonialgesellschaft, die Ende dieser Woche in Berlin ihre diesjährige Hauptversammlung abhält, hat für das Jahr 1898 ihren Jahresbericht erstattet. Er ist diesmal insofern besonders bedeutsam, als mit dem Jahre 1898 die Deutsche Colonialgesellschaft daS erste Jahr zehnt ihrer Wirksamkeit abschließt und in diesem Jahre zugleich einen Mitgliederzuwachs verzeichnen konnte wie nie zuvor. Mehr als 7000 Mitglieder hat dies eine Jahr der Deutschen Colonialgesellschaft neu zugeführt, fast ein Viertel ihres gesummten Bestandes, der zu Anfang 1899 die Zahl 30 000 überschritten hat. Von besonderem Interesse sind in dem ofsiciellen Bericht die Mittheilungen über zwei Richtungen, die innerhalb der Colonialgesellschaft seit Jahren mit einander gerungen haben. Die eine wollte alle verfügbaren Mittel der Gesellschaft unmittelbar für wirthschaftliche und kulturelle Arbeit in den Colonien selbst verwendet wissen; die andere sah ihre Hauptaufgabe in der Werbethätigkeit, den colonialen Gedanken immer tiefer und unverwischbarer in die Seele dcS deutschen Volkes einzuprägen. Der Bericht sagt darüber: „Hatte die Gesellschaft noch bis vor einigen Jahren im All- gemeinen einen Mittelweg einzuschlagen sich bemüht, so ist seitdem eine entschiedene Schwenkung zu Gunsten der Werbethätigkeit ein getreten. Dies erhellt aus Len dafür geleisteten Ausgaben. Zeigt der Voranschlag für das Jahr 1896 noch eine Summe von 10 000 ./L für Werbung, Veranstaltung von Vorträgen und Vortragsreisen und von 23 000 für die Deutsche Colonialzeitung als diejenigen Posten, die in erster Linie der direkten Werbung zu dienen haben, so erscheinen im folgenden Jahre für dieselben Zwecke bereits 18 000 ^!l beziehungsweise 27 380 und im Berichtsjahre 27 500 beziehungsweise 48 340 ./L Die Hauptausgaben für die werbende Thätigkeit der Gesellschaft haben sich also in kurzer Zeit mehr als verdoppelt, und es zeigt sich eine ausgesprochene Neigung in den maßgebenden Körperschaften der Gesellschaft, vorerst auf diesem Wege weiter sortzuschreiten und die unmittelbare Be- theiligung an wirthschastlichen Unternehmungen in den Colonien mehr und mehr auf Fälle von großer Dringlichkeit oder weit greifender Bedeutung zu beschränken. Sicherlich ist nicht zu be zweifeln, daß beispielsweise die Einleitung eine? colonialen Muster unternehmens, wie es öfter von der Gesellschaft gefordert worden, von außerordentlichem Einfluß auf die Entwickelung der deutschen Colonialbewegung fein könnte; aber die bei der Deutschen Colonial- gesellschast so wenig wie tei jedem andern Unternehmer aus geschlossene Möglichkeit eines Mißerfolges und die von einem unglücklichen Ausgange zu befürchtenden Folgen für den Bestand der Gesellschaft und die colonialen Bestrebungen überhaupt lassen die weitere Verfolgung solcher Ideen als unrathsam erscheinen." In welcher Weise die Colonialgesellschaft im Laufe des Jahres ihr Interesse an der colonialen Sache auf allen Ge- Feuslletsit. Äug der Geschichte des deutschen Männergesnugee. Eine Skizze zum Eassclcr Gesangswettstreitc, 27—29. Mai. Von Cyrtak Fischer. Nachdruck dnkoten. „Der 'Chorgesang ist das Eine, allgemein mögliche Volks leben im Reiche der höheren Kunst." Also hat der wackere schweizer Landsmann, hat Hans Georg Nägeli mit Recht ge sagt, der zuerst bei uns die Eigenheit, die künstlerische Be rechtigung und den großen Werth des Männerchorgesanges er kannt und ihn nach allen Seiten hin mächtig gefördert hat. Vor ihm gab es auf diesem Gebiet« der Musik nur Anfänge (Anfänge, auf die wir noch zu sprechen kommen werden); aber auch sie reichen über das 19. Jahrhundert nicht hinaus. So ist der deutsche Männergesang so recht eine Schöpfung unseres in künstlerischer Beziehung so vielgescholtenen Jahrhunderts; diese Schöpfung, hervorgegangen auS dem Kerne des Volks lebens selbst, hat sich das ganze Volk erobert, ist ein köstliches Kleinod unserer heimischen Tonkunst und unseres ganzen Musik lebens geworden und hat den Ruhm des deutschen Liedes über die ganze Erde getragen. Wie zur Bekräftigung seiner Werke darf jetzt der deutsche Männergesang, der Hundertjährige, das Kind des Volkes, in der Sonne der Fürstengunst ein glänzendes Jubelfest begehen. Da mag eS erwünscht sein, sich seine Schicksale in kurzen Zügen zu vergegenwärtigen. Wenn auch der Minne- und der spätere Meistergesang als die Vorläufer unserer Kunstgattung bezeichnet werden können, so haben sie doch mit dem volksthümlichen Männergesang als solchem noch wenig zu thun. Erst das 17. Jahrhundert zeigt uns ganz vereinzelte Gründungen von Männergesangvereinen. So finden wir zu Greiffenberg in Pommern seit 1673 eine „Gott singende Gesellschaft", zu CoSwig in Anhalt den vielleicht bis in die Reformationszeit zurückgehenden Adjuvantenverein, die sich indeß beide auf den geistlichen Gesang beschränkten. Auch die 1620 entstandene und noch heute fkorirende ehrwürdige „Tinggesellschaft zum Antlitz in St. Gallen" ist in diesem Zusammenhänge zu nennen. Der eigentliche Männergesang in unserem Sinne aber konnte in diesen Gesellschaften gar nicht gepflegt werden, weil — er noch nicht bestand. Denn als den Vater des vierstimmigen Mannerliedes können wir erst Michael Haydn (1737—1806), den Bruder Josef Haydn's, ansehen, der gelegentlich, al- er einmal für einige geistlich« Freunde Terzette schrieb, den drei Stimmen noch einer vierte hinzufügie, und nun, nachdem er die dadurch erzielte Rundung und Vollendung der Harmonie erkannt hatte, an dieser neuen Kunstform festhielt. Einige andere Meister haben neben ihm schon zeitig der Chor literatur werthvolle Beiträge geschenkt; im Ganzen aber fanden die neu entstehenden Vereinigungen zur Pflege des deutschen Männergesanges Noch ein recht dürftiges Material vor. Den denkwürdigen Anfang zu diesen Bereinsgründungen hat die auf dem Kunstgebiete sonst selten führende Stadt Berlin gemacht, und zwar knüpft sich die Entstehung der Berliner Liedertafel an den Namen von Goethe's bekanntem Freunde, an den kernigen Zelter. Ihr Geburtstag ist der 28. December 1808, die Veranlassung ein Abschiedsessen, das dem aus Berlin scheidenden Sänger Otto Grell seine Freunde gaben und wobei eine Anzahl Mitglieder der Singakademie sich mit Gesängen betheiligten. Diese neu begründete Zelter'sche „Liedertafel" (er hatte bei dem Worte an Artus' mythische Tafel runde gedacht) trug aber einen ganz geschlossenen Charakter. Die Zahl ihrer Mitglieder durfte 24 (später 30) nicht über steigen; die Theilnehmer mußten Dichter, Sänger oder Com- ponisten sein, und sie lieferten der Vereinigung selbst das Ge sangsmaterial, dessen Kenntnißnahme und Beurtheilung den Hauptgegenstand der Zusammenkünfte bildete. Auf diese Weise wurde zugleich der Mangel einer ausreichenden Chorliteratur überwunden. Das war also noch ein gar bescheidener Anfang, der der heutigen stolzen Entwickelung wenig mehr ähnlich sieht; aber der Männergesang hatte damit doch jedenfalls zum ersten Male eine Stätte und Pflege gefunden, und seine markigen Weisen mögen gerade in jener schweren Zeit der Zwingherrschaft manch zagend Herz erbaut und erhoben haben. Goethe's prächtige Gesellschaftslieder, wie „Herr Urian", „Gencralbeichte", das feierlich-schöne „Bundeslied", sowie auch „Freude, schöner Götter funken" bildeten die Lieblingsstücke der Liedertafel. Bald fand sie Nachahmung. Zunächst folgte Frankfurt a. O., dann 1815 Leipzig. In Magdeburg entstand 1818, in Ham burg in den 20er Jahren, in Dessau 1821, in Königsberg 1824 eine Liedertafel. Und bald folgte auch die Befreiung aus den strengen und geschlossenen Formen. Nicht Dichter, Komponisten und Sänger nur durften es sein — nein, Jeder, dem Gesang gegeben, mußte das Männerlied im Freundeschor pflegen. So sang schon das (Jahn'sche) 3. Bataillon der Lützower im Chore; so stiftete Bernhard Klein 1819 zu Berlin die jüngere Liedertafel, in der sich alle Gesangsfreudigen mit voller Begeisterung zu sammenfanden. Diesem Fortschritt im Norden kam ein gleicher im Süden ent gegen. Hier war es der bereits eingangs erwähnte H. G. Nägeli, der nicht allein pädagogisch und organisatorisch den Männerchor gesang förderte, sondern vor Allem ein bisher noch unbeachtete» Moment darin in seiner vollen Bedeutung erkannte: seinen volksthümlichen Charakter, seinen unermeßlichen Werth für volksthümliche Kunstbildung. Er beschränkte die Vereine und Hebungen nicht auf die Könner und Nenner, er rief das ganze Volt heran, seine Stimmen zum mächtigen ergreifenden Chore zu vereinigen. Und wie dies schöne Ziel dem Schweizer Chor gesang zu Grunde gelegt wurde, so schlossen sich auch die Süd deutschen an Nägeli's Gedanken an. In Stuttgart entstand 1824 die erste Vereinigung, für die der Hofrath Andree das Wort „Liederkranz" erfand, München folgte 1826. Bald blühten in Sllddeutschland die Liederkränze so lustig, wie in Norddeutsch land die Liedertafeln. Ein Gegensatz oder vielmehr ein Unter schied zwischen ihnen war von Anfang an durch ihre Geschichte gegeben. Die Liederkränze trugen einen voltsthümlicheren, die Tafeln einen geschlossenen Charakter. Vor Allem aber: die Tafeln sangen zwar auch im Chor, nur selten aber den Chor, den mehrstimmigen. Das war eben Nägeli's Werk, das sich denn bald auch den Norden eroberte. Es war Nägeli's Werk, — auch insofern, als er eigentlich auch die ganze Literaturgattung neu schuf. Zu den bisherigen spärlichen Arbeiten fügte er eine große Reihe schöner Männer chöre hinzu, schöne Kernlieder darunter, wie: „Wir fühlen uns zu jedem Thun entflammt", „Wir glauben all' an einen Gott" u. s. w.; ihre Stärke liegt im Einfachen, Volksthümlichen, wenn auch nicht geleugnet werden kann, daß er hier und da bis zur Dürftigkeit geht und zuweilen etwas Zopfiges hat. Aber er hat jedenfalls die Bahn gebrochen und ein reiches fröhliches Schaffen auf dem Gebiete des Männerchors begann. Da schenkte Meister Weber den Deutschen seine begeisterten und begeisternden Werke, unter denen die hinreißende Komposition von „LUtzow's wilder 'Jagd" volksthümlich geworden ist und eine reiche Fülle mächtiger und lieblicher Schöpfungen sich befinden. Spohr ge sellte sich in seinen herrlichen Chören würdig ihm zu, und Schubert, der Götterliebling, hob die ganze Gattung auf den höchsten Gipfel der Kunst, ihr eine erstaunliche Tiefe, eine be zaubernde, oft fast geheimnißvolle Schönheit^ eine schier un endliche Mannigfaltigkeit verleihend, und sie mehr und mehr vom Quartette zum Chore überführend. Nimmt man hinzu, was Kreutzer, Silcher, Schneider und viele Andere geschaffen, so erkennt man wohl, wie die in Nord und Süd mächtig erblühten Männergesangs-Vereine die künstlerische Production kraftvoll und gesund anregten. Doch noch blieb ein Schritt zu thun. Der Männergesang drängte von Natur zur Maflenwirkung; erst wenn sie sich zu einem einzigen, gewaltigen Strome vereinigten, konnten die Stimmen voll zur Geltung kommen. Darauf hatte scharfblickend schon Nägeli hingewiesen, und so mußte Concentrirung des Verein-Wesens da» natürliche Ziel werden. Die- wurde nun schrittweise erreicht. Zuerst vereinigten sich im Süden wie im Norden die benachbarten Vereine, dann ganze Gaue und Provinzen zu gemeinsamen Säugerfesten; aus einem solchen schleswig-holsteinischen Feste zu Schleswig im Jahre 1844 er klang zuerst das historische „Schleswig-Holstein meer umschlungen". 1845 aber kamen zu Würzburg zum ersten Male alle deutschen Sänger zum Feste zusammen, und diese Feste wiederholten sich 1846 zu Köln, 1847 zu Lübeck, um dann, durch die 48er Ereignisse gestört, 1861 in Nürnberg, 1862 in Dresden wieder aufzustehen. Wie sie nun Herz zu Herzen führten, wie sie die deutsche Einheit im Liede vor der politischen bewirkten, das gehört der Geschichte an und ist von dem Historiker des deutschen Männergesangcs, vr. Otto Elben, schlicht und eindringlich ge schildert worden. Der deutsche Männergesang aber trat einen Siegeszug um die ganze Welt an. Schon 1841 errangen die Aachener in Brüssel einen schönen Sieg; die Kölner gewannen 1844 durch ihre Gesangskunst die vlämischen Brüder und feierten 1853 und 1854 in England wahre Triumphe; Oesterreich konnte sich dieses „Giftes aus Deutschland" nicht mehr erwehren, seit vr. August Schmidt 1843 den Wiener Männergesangverein ins Leben gerufen hatte. Nnd wohin wir auch auf der Erde wandern, wir treffen den deutschen Männergesang an. Er er klingt in London und Milwaukee, in Lyon und Bukarest, in Melbourne und Riga, am La Plata und in Konstantinopel. Mendelssohn hat dem deutschen Männergcsange eine Reibe hochbedeutcnder Werk« geschenkt, Schumann ist mit höchst originellen Arbeiten gefolgt, Abt hat eine neue Aera des Ge fällig-Wirkungsvollen eingcleitet. Kaum ein Jahrhundert hat genügt, um auf diesem einst wüsten Gebiete eine kaum über sehbare Fülle von Blüthen zu reifen. Verkennen wir nicht: Auch Gefahren drohten und drohen dem deutschen Männergesang. Die Sorge, daß er sich ins Triviale oder Künstliche verliere, den gesunden Boden des Dolks- thümlichen preisgebe, die Werke der großen Meister, Schubert's voran, vernachlässige, war und ist leider nur zu oft begründet. Doch wir vertrauen auf die aesunde Kraft dieser echi volks thümlichen Kunst, die die natürlichen Empfindungen des Menschen, die Lebensfreude, die Vaterlandsliebe, den Natur genuß, die Andacht so hinreißend und wirkungsvoll zum Aus drucke zu bringen vermag, wie kaum eine andere Gattung der Musik, die eine echte Kunst für Alle, eine Volkskunst ist und die Freuden der Geselligkeit adelt. In diesem Sinne mögen unsere deutschen Sänger in Cassel ihres schönen Amtes walten und erneut Zeugniß ablegen von der Macht und dem Segen lebendiger Musik, die „gleichsam das Innerste des Herzens durch dringt, die Gcmüthsbewegungen erhebt, die Schwermuth und Traurigkeit vertreibt, die matten Glieder erlabet, die aus gemergelten Geister wiederum erquickt und also den ganzen Menschen gleichsam lebendig macht"
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