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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.05.1903
- Erscheinungsdatum
- 1903-05-17
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-190305178
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-19030517
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-19030517
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Bemerkung
- S. 3590-3591 fehlen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-05
- Tag1903-05-17
- Monat1903-05
- Jahr1903
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.05.1903
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Reklamen unter dem Redaktton-strtch s4 gespalten) 75 vor den Familtennach- richten («gespalten) KO Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahme 25 H (excl. Porto). Ertra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschluk für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Bonnittag» 10 Uhr. Morgeu-AuSgabe: SiachmittagS 4 Uhr. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi» abends 7 Uhr. Druck and Verlag von E. Polz in Leipzig. Tonntag den 17. Mai 1903. 97. Jahrgang. Aus der Woche. Eine Romfahrt Kaiser Wilhelms ist bekanntlich durchaus nichts Neues. Dennoch aber beschäftigt diese eben beendete Reise die Gemüter oder, vielleicht besser gesagt, die Federn der Politiker nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und England auf das angelegentlichste. Nun, die Franzosen haben für ihre Erregung tatsächlich gute Gründe. Der LiebeSfrübling der neuen italienisch-französischen Beziehungen, vom früheren Minister Prine tti und dem Botschafter Barrsre herbeigeführt, hat sich kaum so recht entfaltet, da erscheint Kaiser Wilhelm in Rom und findet dort eine wahrhaft enthusiastische Aufnahme. Den Eng ländern dagegen ist an und für sicv jede Gelegenheit, bei der der deutsche Kaiser sich als Gegenstand von Ovationen zeigt, äußerst verhaßt aus allgemeiner Antipathie gegen die Deutschen. Wie viel mehr nun in diesem Falle, da König Eduard unmittelbar vorher zwar sehr freundlich, aber ohne allen Enthusiasmus in Rom begrüßt worden war. Eigentlich hätten sich die guten Engländer daS vorher denken können. Denn zunächst wird ein dem Dreibunde angebörrn- der Monarch in Italien, das dieser Allianz die wieder gewonnene Wellstellung verdankt, den Italienern stets wich tiger und werter sein, als der Herrscher jenes England, das zwar gelegentlich, — nämlich wenn eS die Italiener brauchen kanu, — recht charmant ist, auf das sich zu verlassen aber als unmöglich gelten muß. Dann aber ist in seinem ganzen Auftreten König Eduard mit seiner abgelebten Behäbigkeit so sehr wenig effektvoll, der Kaiser dagegen, von seinen prächtigen Söbnen und einer glänzenden Suite und den „langen Kerls" der Garde umgeben, wirkt auf das Auge des schaulustigen Italieners, er Hal für den Südländer etwa» Faszinierendes. Das siud gewiß Aeußei Nässesten; bei Volks- kundgebungen aber spielen sie «iue große Rolle und können die Quelle von Verstimmungen werden, die aus der höfisch dynastischen Sphäre hinüberspiclen auf daSGebiet der politischen Beziehungen. Hätte sich auf den Quirinal der Besuch des Kaisers be schränkt, so wäre von ihm in den deutschen Zeitungen wohl nicht so viel Aufhebens gemacht worden, wie jetzt wegen deS Einzugs in den Vatikan. Auch hier liegt kein Novum vor. Es muß daran erinnert werden, daß in die Bismarcksche Aera der erste vatikanische Besuch Kaiser Wilhelms II. gefallen ist und daß für die Begegnung mit dem Papste schon damals die Formen des Ceremvniell«, wie sie auch heute noch maßgebend sind, festgelegt wurden. Wissen wir doch auch, daß für den großen Kanzler Papst und Kurie zwar nie ein Gegenstand der Verehrung oder gar der Furcht gewesen sind, daß er sie aber ebensowenig als einautitk uszfligeadlö behandelt hat. „Die katholische Kirche ist", so sagte, um an die pointierteste Aeußerung zu erinnern, 1875 im preußischen Herrenhause Fürst Bismarck, „heute der Papst, und niemand weiter als der Papst, und wenn Sie von den Rechten der katholischen Kirche sprechen, so würden Sie sich zutreffender ausdrücken, wenn Sie sagen: die Rechte des Papstes." Wenn aber jetzt die Begegnung zwischen Kaiser und Papst so lebhafte Kom mentare hervorgerufen hat, so liegt auch daS zum Teil an den Franzosen. Man weiß, daß im Narrcnschiff ihrer Eitel keiten das sogenannte Protektorat über die Christenheit deS Orients einen hervcrragenben Platz einnimmt. Heute besteht infolge der KongregationS-Politik des französischen Kabinetts eine heftige Spannung zwischen Paris und Vatikan. Ram- polla, der bekanntlich sehr fein einzufädeln weiß, hat bis zur Stunde eS noch nickt zum offenen Brucye kommen lassen, der für die Erträge des PeterspfennigS recht traurige Folgen haben müßte. Aber sehr gelegen kam ihm der Anlaß, den Franzosen zu zeigen: ich kann auch anders; eS gibt auch sonst noch Großmächte, mit denen wir uns brillant stellen können. Sehr möglich, daß auch in der Er nennung deS Fürstbischofs Kopp zum Delegaten für die Metzer Domfeier eine vatikanische Bosheit gegen die Fran zosen liegt, die vielleicht einen roten Kopf bekommen, wenn sie den Papst sich für eine deutsch-lothringische Festlichkeit so ausnehmend interessieren sehen. Daß die Vatikanfahrt deS Kaisers in Pari» verschnupft bat, dafür spricht die Beflissen heit, mit der die französische Presse sich den Kopf deS König» von Italien zerbricht und eine Verstimmung des königlichen Italiens behauptet, das die Huldigung für den Papst als Unhöflichkeit empsunren haben soll. Selbstverständlich sind auch hier wieder verschiedene „Times"-Korrespondenten auf dem Plane, um zu allgemeiner Unzufriedenheit gegen die Deutschen zu Hetzen. Von rechtSwegen hätte sich die deutsche Publizistik außer halb dieser Diskussionen halten können. Der liberale und protestantische Politiker bei uns wird einem vatikanischen Besuche des Kaisers ziemlich leidenschaftslos gegenüberstehen. Ein solcher Akt der Höflichkeit kann ja an dem Stande der Dinge so viel nicht ändern. DaS Christen-Protektorat im Orient ist eine Frage, die unsre Gemüter nicht bewegen kann. DeS Kaiser« persönliche Bewunderung aber für Stätten und Kult der »ömischen Kirche kann für die Richtung ter deutschen Kircheopolitik nicht maßgebend wrrdrn. Die Organ« deS Zentrums aber haben den Vorgang dieses Mal ganz unerhört aufgebauscht. Obwohl Kaiser und König den Besuch in Montecassino nach Möglichkeit unter weltliche Gesichtspunkt« gestellt haben, versuchten ihn ultramontane Blätter bald gegen die französische Klöster-Verfolgung, bald für die badisch-klerikalen Klosterwünsche auszunützen. Von der Begegnung deS Kaisers aber mit dem Papste wurde eine Vorstellung erweckt, als habe sich das Oberhaupt des deutschen Reiches vor „Christi Stellvertreter" fast zu Boden gebeugt und dergleichen mehr. Hier galt eS selbstverständ lich, den deutschen Wähler für die Anschauung zu gewinnen, daß dem Papste, als dessen Schutztruppe sich da« Zentrum bekennt, von der weltlichen Macht ganz besondere Ehrfurcht und Bewunderung gezollt werde. DaS Manöver sollte aber bei der intelligenten Bevölkerung nicht verfangen, es müßte sich gegen daS Zentrum wenden, einerlei wie man den Vorgang beurteilt. Ist e» an dem, daß dem KlerikaliSmuS die Träger deS deutschen StaatSgedankenS über die Maßen huldigen, so muß der national empfindende Wähler mit dem Stimmzettel den Ausgleich zu ungunsten deS KlerikaliSmuS, also gegen daS Zentrum, zu schaffen suchen. Haben wir dagegen den Eindruck, daß zwar nicht übermäßig, wohl aber genügend den berechtigten An sprüchen der katholischen Kirche vom deutschen Reiche Rech nung getragen werbe, so erübrigt sich eine Verstärkung des Zentrums-Turmes vollends. Hal doch erst jetzt wieder Graf Ballestrem in einer Wahlrede die Existenz des Zentrums ge rechtfertigt mit dessen Aufgabe, die katholische Kirche zu ver- leidigen und die Rechte der Katholiken wahrzunehmen. Wir wollen aber kein Hehl daraus machen, daß wir unö Wohl bewußt sind, mit diesen Betrachtungen einen ciroulus zu be schreiben, den unsere ultramontanen Gegner vitiozus schelten werden. Die Wahrheit ist die, daß die Rücksickten der Welt, lichcn ^fNacht für die Kurie doch Wohl geringer wären, wenn nickt Zentrum sich zur ausschlaggebenden Partei empor- geschwt.: 'en hätte, zur „besten Stütze der Regierung", wie Graf Ballestrem fagt. Erleben wir doch schon, daß da« Hauptorgan dieser Partei, die „Germania", indem sie hoch- offiziös das Gerücht dementiert, man wünsche für den Bischof Benzler den KardinalShut, sich sogar über die Gedanken des Kaisers orientiert zeigt. Sie erklärt, der Kaiser habe nicht einmal einen solchen Gedanken gehegt. Das ist wieder einmal ein Zeichen der Zeit, dessen Beachtung wir dem national ge- sinnlcn Wähler dringend empfehlen, wie ja auch das Erscheinen eines päpstlichen Legaten im Zelte des Kaisers nicht allzu freudig stimmen kann. Seit jenem Legaten Cajetan, der eigen« in deutsche Lande entsendet wurde, um den bösen Luther womöglich zu vernichten, ist wenigstens für protestan- tische Deutsche ein solcher Titel keine Empfehlung für seinen Träger. Wir brauchen unter dem Eindrücke aller dieser Vor gänge durchaus nicht die Hände zu ringen. Aber sie seien unS Impulse zur Betätigung nationaler Pflichten. Eine wahr hast nationale Politik gegen den UltramontaniSmuS zu stärken und zu fördern, ist dort, wo wir es nicht unmittelbar mit diesem Gegner zu tun haben, auch der Kampf gegen die Sozialdemokratie geeignet, zu dem aufzurufen in Zeiten der Reichstagswahlen A und O der politischen Be trachtung sein muß. Der sozialdemokratische Konsumenten- ätandpunkt. In allen Zollfragen gibt es widerstreitende Interessen, nämlich da« Interesse deS Produzenten im Gegensatz zu dem deS Konsumenten und umgekehrt. Der Konsument will Waren kaufen zu billigen, der Produzent Waren verkaufen zu teuren Preisen. Ein Ausgleich so widerstreitender Inter essen wird am besten durch eine mittlere Zollböhe erreicht werden, wobei allerdings das Maß des Begriffs „mittlere" je nach den Zeitumstänben schwankend sein wird. Dieses Maß eigentlich nur ist eS, worüber die großen bürgerlichen Parteien im Streite liegen, je nachdem sie glauben, mehr Produzenten- oder Konsumenten-Interesse vertreten zu müssen. Die Sozialdemokratie hat sich auf den reinen Konsu mentenstandpunkt gestellt, als ob sie gar kein Produzenten interesse zu vertreten hätte. Mit Unrecht, denn die Sozial demokratie sollte von Recht« wegen, wenn sie praktische Arbeiterpolitik triebe, sehr umsangreiche Produzenteuinteressen vertreten. Ist denn der Arbeiter, der die Waren Herstellen Hilst, gerade in seiner sozialen Eigenschaft und Stellung al» „Arbeiter" nicht in erster Linie Produzent? Ganz gewiß — denn er Hilst doch die Waren produzieren! Nun wird ein geeichter „Genosse" einwenden: „DaS schon, aber der Arbeiter verkauft die Waren nicht, er setzt sie nicht ab, sie ge- hören ihm nicht, er steckt auch nicht den Preis dafür in die Tasche." — „Ganz recht, werter Genosse," antworten wir, „aber der Arbeiter bat darum ein sehr großes Interesse an hoben Verkaufspreisen, weil er nur bei hoben Preisen Hobe Löhne erzielen kann. Der ganze gewerkschaftliche Lohnkamps basiert seiner inneren Natur und seiner Möglichkeit nach auf dem Provuzenten-Interesse und dem Produzenten-Standpunkte de« Arbeiter»." Die einsichtigen und in volkswirtschaftlichen Dingen selbst, ständigen „Genossen" wißen da« auch und haben das, was sie wissen, auch ausgesprochen. Der Abgeordnete Calwer ickloß auf dem Mainzer Parteitage seine Rede mit den Worten: „Wir haben uns bisher in unseren Beschlüssen bezüglich der Handelspolitik immer aus den Standpunkt de« Arbeiter» al» Konsumenten gestellt; je weiter aber die Weltwirtschaft vorschreitet, desto notwendiger ist es, daß wir uns auf den Standpunkt stellen, daß der Arbeiter auch Produzent ist. Ich wünsche, daß bei der bevorstehenden Agitation in - Bezug auf die Handelsverträge unsere Losung nicht allein ist: gegen Lebens mittelverteuerung, sondern auch: für höhere Löhne. Denn haben die Arbeiter höhere Löhne, so können sie auch höhere Preise für Lebensmittel zahlen. Der deutsche Arbeiter soll von dem amerikanitcheu lernen: „viel verdienen, um viel ausgeben zu können!"" (S. 193 des Mainzer Parteitags. Protokolls.) Wir fragen nun: Warum — trotz besserer Einsicht — verharrt die sozialdemokratische Partei einseitig auf dem reinen Konsumenlen-Stanvpunlte? Die Antwort lassen wir durch einen „Genossen" selber geben. l)r. David erklärte in Mainz zu den Ausfüvrungen seines „Genossen" Calwer: „Wenn wir die Calweriche Parole: „höhere Löhne" für unsere Haltung in handelspolitischen Fragen acceptieren würden, dann würde die nationale Jnteresjenjolidarität der Arbeiter im Innersten getroffen werden. Denn die Schwierigkeiten liegen ja immer in der Frage, für welche Artikel ein Schutzzoll konzediert werden soll. Höhere Löhne sind doch für die Arbeiter jedes Zweigs durch die besondere Lage dieses ZweigS, nicht aber durch all gemein gleichmäßige Verhältnisse begründet. Wenn also einmal die Parole „höhere Löhne" ausgegeben würde, so würden die ver- schiedenen Arbeiterkategorien der verschiedenen Arbeitszweige zu verschiedener handelspolitischer Stellungnahme in jedem prak tischen Einzelfall gedrängt werden. Und wenn dann auch für die Landarbeiter die Parole höhere Löhne aus- gegeben wird, was dann? Höhere Löhne können doch auf diesem Wege nur durch höhere Preise erzielt werden, und damit billigen wir auch im Prinzip die Agrarzölle, höhere Zölle für landwirtschaftliche Produkte. Das aber scheint mir die Gefahr zu sein. Unsere letzten handelspolitischen Grundsätze waren aufgebaut aus dem Konsumenteninteresje, das generell gleich- mäßig ist, während das Produzenteninteress« auch innerhalb der Arbeiterschaft in direktem Gegensätze stehen könnte; mit der Anerkennung der Parole „höhere Löhne" stellen wir uns prinzipiell auf Len gleichen Standpunkt wie die Agrarier, und wir müßten dann auch praktisch direkt deren Politik im Reichstag unterstützen. Die „Kanitz-Perspektive" würde dann ohne weiteres zur Tatsache werden, denn etwas Wesentliches ließe sich nicht mehr dagegen sagen. Ich halte es zunächst einfach für eine historische Unmöglichkeit, daß unsere Partei in diesem Sinn in den Kampf um die neuen Handelsverträge ringriffe, daß wir diese nationale Sammelpolitik der agrarisch-feudalen und auch gewisser Kreise der Großindustriellen durch unsere Stellungnahme unter- stützen könnten." (S. 206 u. 207 d. Protokolls.) „Genosse" vr. David sagt es also klipp und klar: Das praktische Produzenlcn-Inieressc der Arbeiter-Kategorien ist verschieden, darum würbe die sozialdemokratische Einbeil in Stücke gehen, wenn wir „Genossen" diese praktischen Inter essen gerecht gegeneinander abwägen würden. Uud er jagt ferner: Stellen wir uns auf den praktischen Produzenten» Standpunkt, bann fällt für uns die Möglichkeit fort, die großen und herrschenden bürgerlichen Parteien zu bekämpfen: dann sind wir überflüssig geworben. Man siebt also aus den Ausführungen Calwer« und David«: Nicht das praktilche Arbeiterinteresse, sondern das reine Parteiinteresse, das Dasein der Partei ist es, was die Sozialdemokratie zu ihrem in Wahrheit arbelterschädlichen Standpunkte in der Zollpolitik veranlaßt. Deutsches Reich. -H- Berlin, 16. Mai. (Reichstagsabgeorüne- terunbOffizier.) Die „Freisinnige Zeitung" nennt die von den gemäßigten Parteien ausgestellte Kandidatur des Generalleutnants v. Liebert eine „Generalstandi- datur" und meint, daß Herr v. Liebert als General z. D. der Militärgerichtsbarkeit in vollem Umfange unterworfen sei, was hunderterlei Rücksichten mit sich bringe, die mitder Stellung eines Volksver- treters nicht vereinbar seien. Der größte Stolz des Reichstages mar Jahrzehnte hindurch Generalfeld marschall Moltke, der als aktiver Offizier auch der Militärgesetzgebung unterstand; aber wir glauben, daß es damals kaum einem Sozialdemokraten eingefallen ist, die Besorgnis auszlffprechen, daß dieser Umstand mit der Stellung Moltkes als Reichstagsabgeordneter nicht ver einbar sei. Schon im norddeutschen Reichstage von 1867 saßen mehrere der siegreichen Heerführer des deutschen Krieges; auch damals fiel es niemand ein, daß die Unter stellung dieser Männer unter das Militärgesey sich mit ihrer parlamentarischen Stellung nicht vereinigen lasse. Auch alle Reichstagsvbgeordneten, die gelegentlich zu einer militärischen Uebung eingezvgen werden oder noch die Kontrollversammlungen mitmachen müssen, unterstehen während dieser Zeit dem Militärgesetze. Auch wir hegen durchaus nicht den Wunsch, daß im Reichstage etwa Dutzende von verabschiedeten Generalen ihren Platz fin den; auf der anderen Sette aber halten wir es für wün schenswert, daß möglichst alle Berufsstände im Parlamente vertreten feien. Und daß darunter auch einige frühere höhere Offiziere sich befinden, kann nur um so wünschens- werter sein, als ja doch die Ausgaben für die Armee den wesentlichsten Teil der Ncichsausgaben ausmachen, sodaß das Militärbudget der wichtigste unter allen der Prüfung des Parlamentes unterstehenden Ausgabeposten ist. Und wenn ein Mann wie General v. Lisbert, der Jahr zehntelang in der Front gestanden hat und unseres Wissens bei der Truppe außerordentlich beliebt war, Gelegenheit hat, den alljährlich beim Milttäretat wisderkehrenden so- zialisttschen Hetzreden und Uebertreibungen entgegcnzu- treten, so wird das viel wirksamer sein, als wenn nur der Kricgsministcr, der es ja «x otkivio tun muß, den sozia- ltstischen Angriffen begegnet. So ist die Generalsstellung des Herrn v. Liebert in mancher Hinsicht nur vorteilhaft für seine Kandidatur. Auf der attdern Seite vermögen wir in seiner Unterstellung unter das Militärgesey keinen Nachteil zu erblicken, denn die „Freisinnige Zeitung" soll uns erst einmal einen Paragraphen des Militärstraf- gesetzes zeigen, wonach General v. Liebert bestraft werden könnte, falls er einmal gegen die Regierung stimmen sollte. z- Berlin, 16. Mai. (Bolksverhetzung in Bayern.) Wie maßlos das vatikanische Cere mo nie ll für den Empfang fremder Staats oberhäupter zur Verhetzung des bayerischen Volkes ausgeschlachtet wird, lehrt ein Artikel, der sich in der kleinen bayerischen Zentrumsvresse findet. Dieser Artikel führt den Umstand, daß die fremden Staatsoberhäupter sich nach dem Vatikan von dem neutralen Boden ihrer diplo matischen Vertretungen aus begeben, als Beweis für die Anerkennung des Unrechtes an, das dem Papste vor einem Menschenalter widerfahren sei. Damit aber nicht genug, wird in dem fraglichen Artikel die Einverleibung Roms in das Königreich Italien für „Raub", ja für „Dieb stahl" erklärt. Das ist die Sprach«, die deutsche Zen trumspublizisten wegen ihrer Befangenheit im eng herzigsten Konfefsionalismus gegenüber einem Ver bündeten des Deutschen Reiches führen. Hand in Hand hiermit geht die Verhetzung des bayerischen Volkes gegen die Freimaurer. Diesen wird, weil jetzt in Rom auch nichtkathvlische Kirchen erbaut werden dürfen, was zur Zeit der päpstlichen Herrschaft unmöglich war, der Borwurf gemacht, Rom „nun auch noch zu ent- katholisieren". Ist eine derartige Behauptung schon an und für sich vollkommen hinfällig, so erhält sie einen geradezu grotesken Anstrich durch die Gründe, die den Freimaurern für ihre teuflischen Absichten gegen Rom untergeschoben werden. „Diese Esel von Freimaurern", heißt es hierüber, „glauben eben, daß, wenn sie Rom ent- kathvlisiert haben würden, auch der ganze Erdkreis pro testantisch und calvinisch usw. werde." — Es steht auf der Höhe diefes Gesichtspunktes, wenn den Freimaurern schließlich nachgcsagt wird, sie würden an Stelle des Papstes nicht mit einem so harmlosen Ceremoniell für den Empfang fremder Staatsoberhäupter, „sonder« mit Blut und Eisen und Dynamit und Dolch geant wortet haben." — Der tugendsame Vater eines so aus gesprochen christlichen Gedankens scheint sich in die An schauungen des Papstes Gregor VII. vertieft zu haben. Denn ähnliche Vorwürfe, wie er sie gegen die Freimaurer schleudert, machte einst Gregor VII. den Königen dieser Welt, indem er ihnen die lange Reihe heiliger Papste ent gegenhielt und hinzufügte, daß sie, dieKönige, von Räubern und Mördern ab stammten. Der Berliner Historiker Wilhelm Wattenbach bemerkt in seiner „Geschichte des römischen Papsttums" in An knüpfung an das Wort Gregors trocken: „Eine solche Reihe von Bösewichten, wie diejenige ist, welche wir in verschiedenen Zeiträumen auf dem sogenannten Stuhle Petri finden, treffen mir doch auf keinem weltlichen Throne." — Nachdem der bayerische Zentrumspublizist die Freimaurer mit feinen ungeheuerlichen Verdächtigungen bedacht hat, muß er sich die Erinnerung an ihm unliebsame geschichtliche Tatsachen schon gefallen lassen. O. 8. Berlin, 1ö. Mai. (Anarchisten und Sozialdemokraten.) Die Anarchisten haben zum 19. Mai eine große öffentliche Wählerverfammlung, die erste dieser Art, eistberufen. um zu der Frage: „Wie stellen sich die Anarchisten uud freiheitlichen Sozialisten zu den bevorstehenden Reichstagswahlen?" Stellung zu nehmen. Als Referent ist für diese Versammlung Paul Pawlo witsch ausersehen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Anarchisten uud Sozialdemokraten jetzt ziemlich nahe aneinander gerückt sind; in der größten sozialistischen Gewerkschaft, derjenigen der Metallarbeiter, spielen ja die anarchistischen Führer wie Pawlowitsch und Wiesenthal die erste Geige. Wenn nun in der Versammlung am 19. Mai auch beschlossen werden sollte, daß die Anarchisten an den Reichstagswahlen sich nicht beteiligen, so darf man daraus doch nicht den Schluß ziehen, daß Anarchisten und Sozialisten einander feindselig gegenüberstehen werden, wie der „Vorwärts" und andere sozialdemokratische Blätter behaupten. „Man so tun", pflegt der Berliner zu sagen. Wo sind z. B. die mehreren tausend Mark herge kommen, die seiner Zeit der anarchistischen deutschen Luise Michel, der Schneidersfrau Agnes Reinhold, nach ihrer Entlassung aus dem Zuchthausc als Ehrengabe gespendet wurden? In sozialdemokratischen Kreisen ist offen zu gegeben worden, daß die „Genossen" sich rege an dieser Sammlung beteiligt haben. Es ist also gar nicht unwahr scheinlich, daß der zu erwartende Beschluß der Anarchisten, sich nicht an den Reichstagswahlcn zu beteiligen, nur -en Zweck hat, die „Genossen" nicht durch offene Unterstützung in den Augen der bürgerlichen Parteien zu kompromit tieren. (-) Berlin, 16. Mai. (Telegramm.) Heute vormittag fand im großen Sitzungssaale deS Reichstages die Haupt versammlung des Teutschen Zentralc-tnitss für Lungen heilstätten unter dem Boi sitze deS Staatssekretärs Graf v. PosadowSky statt. Ferner waren anwesend der preußische Handelsminister Möller, Ministerialdirektor Althoff, Vizeoberceremonienmeister v. d. Knesebeck u. a. Graf Posadowsky hielt eine BegrüßungSaniprache, in ver er auf die Ausgabe der Gemeinden hinwies, durch eine Besserung der WobnunaSverbältnisse der ärmeren Klassen die Tuberkulose ru bekämpfen, und die Delegierten aufsorderte, in ihrer Heimat für die Bekämpfung der Tuberkulose zu wirken; von dem Knesebeck überbrachte die Grüße der Protektorin, der Kaiserin, die die Versammlung bitte, ihre Aufmerksamkeit auf die Fürsorge für die Frauen und die Kinder zu richten. Nach dem Ge- schäftSbericht deS Professor« Paunwitz und der Rechnung«- legung des Schatzmeisters sprach Professor Leyden über die Wirksamkeit der Heilstätten für Lungenkranke. Im Heil- stäitenwescn habe Deutschland daS Höchste erreicht, wa« von allen Nationen anerkannt werde. Der Präsident de« Reichs- versicherungsauite« Gaebel gab emrn statistischen Ueberdlick über die Tuberkulose-Erkrankungen. Nach einem Schluß-
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