02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 15.07.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-07-15
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020715025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902071502
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902071502
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
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Nicht als ob über allen Wipfeln kaum ein Hauch zu spüren wäre, in einer Zeit, wo der Telegraph die Bor kommnisse unter fast anderthalb Milliarden Menschen und hundert Böllern spielend überallhin erzählt, erscheint die Welt niemals vollkommen ruhig und die „Stoffnoth der Zeitungs schreiber" lebt nur noch in der Phantasie unkritischer Zeitungs leser, die natürlich die Minderheit bilden. Aber dieser den Morgenkaffee mit politischen Emotionen zu versüßen, ist die Presse zur Zeit allerdings nicht im Stande. Ueber das that säch liche Befinden König Eduard'S vermag sie nicht zu berichten, weil sie nichts Genaueres darüber weiß, der Rücktritt deö Lord Salisbury ist eine sehr interne Angelegenheit Englands und wird auch dort als ein lang erwartetes Ercigniß wenig Aufsehen erregen — Salisbury und Balfour, daö ist dieselbe Nummer desselben Fadens. Dem Grafen Bülow, der bekannt lich unter opulentester Verantwortlichkeit die Geschicke unseres Reiches und Preußens lenkt, hat die Glätte der politischen See erlaubt, sich auf ein Inselchen im wirklichen Meere zurück- zuziehen, die größeren Einzellandtage, die ihre regulären Arbeiten bis in den Sommer hinein fortsührten, haben soeben ihre Pforten geschlossen. Mit Ausnahme freilich des bayerischen und dort sind die Ultramontanen sogar am Werke, die hoch stehende Säule deS politischen Barometers auf Sturm zu stellen. Wir fürchten aber, die Daller, Heim und Orterer sind nicht Hexenmeister genug, um die Naturgesetze, dem das Quecksilber unterliegt, zu paralysiren. Das bayerische Centrum hat, was bei der Bildungsoerwandtschast eigentlich ein Wunder ist, das Haberseldtreiben, so ost cS sich darin „geübt", niemals auch nur annähernd so gut verstanden wie die Bauern im Bezirksamt Misbach, und es ist nament lich immer mit blutigen Köpfen heinigekehrt, wenn es sich um die höchste Person im Staate handelte. Der Kernpunkt der bayerischen TageSfrage liegt klar zu Tage und überaus günstig für die, denen es obliegt, den angekündigten „Patrioten"-Ansturm abzuschlagen. Die Ent lassung des Ministers v. Landmann wird in Bayern von allen Unbefangenen so beurtheilt, wie in unserer Zuschrift aus Franken geschehen ist. Die Klerikalen, die den Rücktritt des Eultusministers als Adoptirung des parla mentarischen Regieruugssystemes denunciren, werden sich in der Kammer, wenn die geballte Faust nicht überhaupt in ihrer Tasche bleibt, sagen lassen müssen, daß sic dem Regenten dies System ausoctroyiren wollen. Denn das Recht der Krone erstreckt sich ebenso gut aus die Entlassung wie auf die Be rufung des Ministers. Mit Wendungen, wie die der „Ger mania": „Wenn es so weiter geht, dann sieht sich in ab sehbarer Zeit das Haus Wittelsbach verlassen im eigenen Lande" dringt man beim bayerischen Hose nicht durch, erst recht nicht, wenn man gleichzeitig mit der — Verbreitung des „einhcitsstaatlichcn Gedankens im Volke" droht. Die bayerischen Kammerklerikalen werden jedenfalls die Sommerstille nicht zu stören vermögen, und von der für das deutsch-staatliche wie Culturleben so ungeheuer wichtigen freisinnigen Bvlkspartci ist auch nicht dergleichen zu be fürchten. Die ist vollkommen latent geworden, denn, wie die „Freis. Ztg." in ihrem politischen Thcile der Welt ver- kündet, Herr Richter ist nach der Schweiz gereist. Aber be vor er sich ausmachte, auf grünen Matten zu träumen, hat er Andere grausam aus einem Sommernachtstraume gerissen. Leute von der Freisinnigen Bereinigung nämlich, die für die nächsten allgemeinen Wahlen ein „Cartell der Linken" planten, die Bildung einer wahlpolitisch eisern geschlossenen Phalanx von Bartb bis Bebel, beide inclusive. Herr Richter sagte Nein und die Socialdemokraten desgleichen. Und als Herr Barth das Project auf den Vorschlag reducirte, die alten Parteien (die süddeutsche Volkspartei war natürlich auch in Rechnung gezogen) sollten wenigstens unter sich den gegenwärtigen par lamentarischen Besitzstand respectiren, da sagte Herr Richter abermals nein und der „Vorwärts" nahm die Anregung sogar zum Anlaß, von einem „ollen ehrlichen Barth" zu reden. Die Welt ist eben zu schlecht. Für die Freisinnige Vereinigung hätte die Garantirung des Besitzstandes einen vortrefflichen Zustand geschaffen. Sie wäre da durch wenigstens unter den Parteien der Linken das geworden, was die neutrale Schweiz unter den Staaten ist. Sie konnte nichts gewinnen und — an Socialdemokratie und Volkspartei — auch nichts verlieren, und das Letztere ist für die Freisinnige Bereinigung die Hauptsache. Cartcll- verhandlungen werden also die Ruhe auch nickt beeinträch tigen und die Zolltarifcommission, die trotz Juli arbeitet, wird wohl das einzige politische Gebilde bleiben, das die Aufmerksamkeit ans sich lenlt. DaS Organ des Central verbandes 'deutscher Industrieller bat zwar der Negierung gerathen, die Commission Commission sein zu lassen, Handels verträge zu vereinbaren und diese (mit einem autonomen Zolltarif als „Anhang") dem Reichstag mit der freundlichen Aufmunterung „friß oder stirb" vorzulegen. Aber auch dieser Juli-Einfall, der natürlich von den Freihändlern bejubelt wird, zeigt, daß das menschliche Gehirn mehr vom Kalender als der Temperatur abhängig ist. Der Begegnung Waldeck-Noussean's mit dem deutschen Kaiser schenkt man in Frankreich mehr Be achtung, als man sich merken läßt. Außer der „Patrie" ist sie auch noch der klerikal-orleanistischen „Gazette Le France", deren bonopartistischcn Gesinnungsgenossen, der „Autoritö" und als dritten im Bunde natürlich dem „Intransigeant" eine willkommene Veranlassung, um Zeter und Mordio über Waldeck - Rousseau zu schreien. Der „Radical" verhöhnt aber dies Geschrei, indem er die „Gazette de France" daran erinnert, daß cs im vorigen Jahre zuerst ihre eigenen aristokratischen Freunde gewesen seien, die in derselben Weise dem deutschen Kaiser auf der Hohenzollern ihre Aufwartung gemacht hätten und seine Gäste gewesen seien. In den Reihen der gemäßigt republikanischen Presse macht die Begegnung nur der „Nspubligue MölineS" pa triotische Kopfschmerzen. Sie vergleicht die Begegnung mit dem Besuch der französischen Flotte in Kiel bei der Einweihung des Kaiser-Wilhelm-CanalS. Während dieser aber für sie ein „unvermeidlicher Act internationaler Höflichkeit" gewesen ist, ist sie andererseits der Meinung, daß die Behauptung, die Begegnung in Oode habe sich nicht vermeiden lassen, sich schwerlich werbe aufrecht erhalten lassen können. Man darf bei diesem Vergleich aber nicht vergessen, daß Nibot, der Freund und engere Parteigenosse Möline's, es war, der die französische Flotte nach Kiel sandte. Wenn der Cougrcß der Vereinigten Staaten von Nord amerika schließt, beginnt der W a y l f c l d z n g, damit das Volk seine Spiele habe. Die hoffnungsfreudigen Demo kraten bieten sich mit unverwüstlichem Optimismus immer wieder dem Volke als Führer an, und immer machen die Republikaner wenigstens eine bange trübe Stunde durch, ehe sie sich Muth zum Siege holen. In Wirklichkeit sind ja die Republikaner längst zum Sturze reif, und ihre Zeit wäre schon im Jahre 1900 umgewesen, hättensich nur die Andern regierungsfähiger gezeigt. Inzwischen hat sich nichts ereignet, was den Demokraten ein höheres Ver trauen eingetragen hätte. Die Republikaner haben aber, so wird der „Köln. Ztg." geschrieben, in den zwei Jahren ihren Crcdit stark verbraucht, besonders seit Mac Kinley's Tode. Wie viel sie gegenüber ihren Gegnern noch wiegen, das wird die Volkswaage entscheiden. Während des Cvn- grcsses haben sich die Demokraten die besten Gelegenheiten, Eindruck auf das Land zu machen, jämmerlich entgehen lasten, sie werden immer schlapper, gteichgiltiger und haben sich offenbar darein gefunden, daß sie nie wieder durch ihr eigenes Verdienst zur Seligkeit der Regierungsgewalt ge langen können, sondern nur durch die noch größere Sünd haftigkeit derRepublikaner. Auf dieDemokraten imCongreß ist also kein Verlaß mehr. Dagegen regt es sich im Lande selbst, dafür ist der beste Beweis die immer giftiger werdende Bitterkeit Bryan's gegen die Harmonistcn. Dieser Fall Bruan's ist recht wunderlich: er verdankt, was ihm an Ansehen und Einfluß geblieben ist, in erster Linie den republikanischen Zeitungen, die seine Antike! ans dem „Commoner" verbreiten, weil sie damit Unfriede unter den Demokraten säen können. Bruan's eigene Macht ist un widerbringlich dahin, seine Parteiprogramme von Chicago und Kansas City, 1890 und 1900, werden nicht mehr aufcr- stehen, aber eben weil er dies wissen muß, wird der ur sprünglich ideal angelegte Mann immer mehr zum an maßenden Polterer, der mit seinen giftigen Tiraden gegen die alten Führer der Partei, die langsam wieder an die Spitze kommen, die Unvernünftigen und die Massen um sich hält und so die Gesundung und die Negierungsfähigkeit der Partei immer wieder zu Nichte macht. Der Kampf gegen ihn ist hart und schwer, aber er bringt sichere Früchte. Schon im Früh jahr 1901 mußte Bruan cs erleben, daß sich St. Louis trotz seiner taktlosen Einmischung einen Bürgermeister, Wells, nach eigenem Gutdünken wählte. Dann folgten im Sommer letzten Jahres die demokratischen Parteitage von Ohio, Pennsulvanien, Maryland und Virginicn, die alle das Programm von Kansas City zum alten Eisen warfen. Tammattyerhic!tLcwisNir'on,einenGoldmann,zumFührer, der freilich vor einigenWochen wieder abdankte, aber in der Nationalvrganisation der Demokraten einen wichtigen Platz übernahm. Im März d. Js. erwachten sogar die Politiker des Staates Mississippi und nahmen in ihrer Landtagslcgislatur einen Beschlußantrag McAllisler's an, der aus eine Verbrüderung mit den Interessen des Ostens, des Sitzes der Golddcmokraten, abzielte. Noch schlimmer kam es für Bryan in diesem Monat, wo Indiana wie Illinois auf ihren demokratischen Tagungen Bryan und sein Silber in die Grnbc legten. Bryan macht denn auch verzweifelte Anstrengungen, das Zepter zu halten. Als anfangs der eben zn Ende gehenden Eongreßtagung die New Borker Demokraten vom Tammanysbunde ver suchten, eine neue Parteierklärung durchzudrücken, ließ er ihnen durch die Demokraten aus Texas den Krieg aufs Messer ankündigen. Vor einigen Monaten, im Mürz glaube ich, wollte er selbst, allerdings ganz vergeblich, die Demokratie noch einmal nm ein neues Motto schaaren, und er machte viel unnützen Lärm mit seiner „Volkswahl der Senatoren", die eine ganz gute Sache ist, aber am Widerstande des Senats wiederholt und auch in dieser Tagung gescheitert ist. Doch hatte Bryan wenigstens die Freude, daß in den beiden letzten Monaten Kansas, Tennessee, Nebraska, Minnesota und Süddacota auf ihren Parteitagen das Programm von Kansas City heilig hielten, aber das sind meist unbedeutende Staaten, und in Tennessee haperte es obendrein gar sehr. Am wehesten thun dem „Führer ohne Gleichen" die Demokraten von New Jork, und gegen sie ist er auch am erbittertsten. Daß David B. Hill, früherer Gouverneur und früherer Sena tor, sich durch seine Beherrschung der New Aorker Demo kraten bisher zum stärksten Präsidentschaftscandidaten für 1904 entwickelt hat, ist Bryan's tiefster Kummer, und er sucht eifrig, ihm einen Anderen vorzuschicken, sei es den Bürgermeister und Millionär Johnson aus Cleveland, oder einen Tennessecr. Hill hat zwar Bryan vor zwei Jahren thatkräftig unterstützt, aber das hält den herrsch süchtigen Nebrasker nicht ab, ihn wie die Hölle zu hassen, weil Hill eben der gefährlichste Feind seines Partei programms ist; Hill und ein Anderer, der Einsiedler von Princeton, der fünf Jahre lang geschwiegen hat und erst vor einer Woche die politische Rednerbühne wieder be stieg, Cleveland. Clcveland erschien vor dem Tiltzen-Club in New Nork. Tilden war der rechtmäßig gewählte Prä sident, an dessen Stelle die Republikaner durch Gerichts- urthcil Hayes setzten, und Tilden war vielleicht der beste und größte Vertreter der Demokratie seit Jefferson, das beweist, daß dieser weitsichtige Mann zum ersten Mal seit 1890 die Hoffnung hegt, die Demokratie werde sich auf eine gesunde Grundlage stellen lassen. Cleveland hat seinen alten Zwist mit Hill begraben, denn dieser Zwist war nur persönlich, nicht sachlich, wie sein Kampf gegen Bryan. Clevcland's Auftreten war ein Ereigniß vom ersten Rang für die Parteigcschichte, und so sehen alle guten Demo kraten, nicht vielleicht den Wahlen dieses Herbstes, aber den größeren des Jahres 1904, mit Zuversicht entgegen. Deutsches Reich. Berlin, 14. Juli. (Preußische Domänen* Politik.) Nachdem Preußen im 19. Jahrhundert für mehr als 300 Millionen Mark Domänengrund« st ü ck c veräußert hat,wirft bekanntlich die sogenannte neue Polenvorlage 100 Millionen Mark zum Ankauf von Gütern für die Verwendung als Domänen oder Forsten ans. Während dieses Vorgehen insbesondere von frei sinniger Seite unter volkswirthschaftlichen Gesichtspunkten bekämpft worden ist, wird es gerade aus volkswirthschaftlichen Gründen von dem Breslauer Nationalökonomen Julius Wolf im neuesten Hefte seiner „Zeitschrift für Socialwissenschaft" wann ver- theidigt, wie aus folgendem, rein referirenden Auszüge ersichtlich ist. Als ersten Grund zu Gunsten der jetzigen Do- mänenpvlitik Preußens, deren nationalpolitischer Ur sprung hier außer Betracht bleibe, nennt Wolf den auf fälligen Unterschied zwischen der Entwickelung der Gc» trcidep reise einerseits und der der Pachtcrträge andererseits. Dem Rückgang des Weizen- und Roggen preises nm 30 bis 40 Proccnt, wie er in der Zeit von 1887 bis 1902 cintrat, steht bei den Pachtpreisen nur ein Rück gang von 8 bis 9 Procent gegenüber. Ein solches Vcr- hältniß kann selbstverständlich principiell nur für den Domäncnbesitz vcrwcrthct werden. Außerdem aber hat während der landwirthschastlichen Krisis der Werth der Domänen keine größere Einbuße erlitten: zahlenmäßige. Feuilleton. Mohmeiers Anyng. Von Anna Klie. Nachdruck verboten. „Geh' doch mal ein bischen hinauf nach Tante Betti Klaus!" To hieß es gewöhnlich bei Mohmeiers, so bald der Lärm in der Kinderstube zu arg wurde, weil eins von den drei Insassen dieses Raumes sich so besonders miß liebig machte, daß seine zeitweilige Entfernung im Inter esse des Völkcrfriedcns dringend wünschenswert!) wurde. Tante Bctti's sauberes, sonniges Erkerzimmer im oberen Stockwerke desselben Hauses, dessen Beletage der Amts richter Mohmcicr mit seiner Familie inne hatte, ver körperte mit den vielen Stickereien, Nippsachen und Blumentöpfen, die es schmückten, gleichsam ein stilles, blühendes Eiland, zu dem sich bald dieses, bald jenes Mit glied der Mohmeicr'schcn Kinderstube gleich Schiff brüchigen aus der Brandung cmporznrcttcn pflegte. Die Bewohnerin dieses Gefildes der Seligen, ein be häbiges, älteres Fräulein, war für die lebhafte Familie des Amtsrichters der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht. Sic ruhte in der That, und zwar auf ihren Lorbeeren, und sic hatte ein gutes Recht dazu. Ihre Vaterstadt hatte Fräulein Vetti Klaus in den wohlverdienten Ruhestand versetzt, nachdem diese vierzig Jahre hindurch die weibliche Schuljugend in der Kunst des Strickens, Nähens und aller anderen Zweige des Hand- arbcitönntcrrichtcs unterwiesen hatte. Vierzig Jahre sind eine lange Zeit. Wenn Fräulein Klans all' die Strümpfe, Hemden nnd anderen Erzeugnisse weiblichen Fleißes, die in diesem Zeiträume unter ihrer Leitung angefertigt worden, einmal aufgcschichtct hätte, erblicken können, wahrlich, sic hätte sich wundern dürfen über den statt lichen Berg aufgcthürmtcr Kunstproductc! Zur Feier ihres vierzigjährigen Amtsjubiläums hatten denn auch ihre Collegcn und Colleginnen ihr zu Ehren ein festliches Gastmahl veranstaltet. Die Jubilarin, an- gcthan mit einem neuen, schwarzscidenen Kleide, hatte an der Tafel einen bekränzten Ehrenplatz neben dem Schul director tnnegehabt. Ein dichtender College hatte ein Ttschlied ihr zu Ehren verfaßt, bas nach der Melodie: „O Tannebaum, o Tanucbamn" von den Festgenossen ge sungen wurde, ttild dessen erster Vers lautete: O Betti Klaus! O Bctti Klaus! Wie gern möcht' ich erblicken Mal all' die Strümpfe, weiß nnd gran, Schwarz, braun und gelb nnd dunkelblau, O Bctti Klaus! O Betti Klaus! Die man bei Dir thät stricken! Auch die Schülerinnen hatten durch ein Fcstgeschcuk ihre Dankbarkeit kundgcgeben. Weil sie aber bei dessen Auswahl selbstständig zu Werke gegangen waren, ohne den Rath von erfahrenen, ver ständigen Personen cinzuholcn, so war es ihnen durchaus nicht geglückt, den Geschmack der Beschenkten zu treffen. Sie hatten nämlich Büsten aus Elfcnbcinmasse, frei stehend auf hohen, schwarz polirtcn Säulen, gewühlt, und zwar Apoll und Diana. Da ziemlich viel Geld für den Zweck zusammcngekommcn war, so waren die Gottheiten recht stattlich ausgefallen, viel zu kolossal für das Erker stübchen der Jubilarin. „Eine goldene Brosche oder ein Armband wäre Bctti lieber gewesen!" pflegten die Colleginnen, die Betti's Ge fühle zu bcurthcilen wußten, zu sagen. „Aber dergleichen kann man sich ja leider nicht von Schülerinnen schenken lasten!" Die Büsten thronten also auf ihren Säulen und schwebten in beständiger Lebensgefahr. Betti Klaus konnte ihretwegen nie recht „zu Gute kommen", wie sie der Frau Amtsrichter klagend versicherte. Für die ihr zugesandtcn Sträflinge aus der Mohmeicr'schcn Kinderstube waren die Säulen natürlich Steine des Anstoßes. Der Aufwärterin des Fräuleins aber waren sie gerade zu ein Dorn im Auge. Frau Senf, so hieß diese Wackere, war vorübergehend als Scheuerfrau im Laden eines Kunsthändlers thätig gewesen. Dort hatte sic einmal einer Verhandlung zugchört, die zwischen dem Kunsthändler und einem Kunden stattgefnndcn, der den Kopf einer Aphrodite zu kaufen wünschte. Seitdem war Frau Senf der unumstößlichen Meinung, daß jede beliebige Figur ans Gyps, Elfcnbcinmasse oder Marmor, gleichviel, wenn sie nur bell anSsah, den Sammelnamen „Aphrodite" führen müsse. Daher war sic fortan nicht zu bcwcgcn, den Apoll und die Diana anders zu nennen, als „die beiden Afro- dittS". Frau Senf hatte es in den Stunden, wo Fräulein Bctti Klans ihre Dienste in Anspruch nahm, immer sehr eilig und war offenbar stets von dem Streben beseelt, so schleunig als möglich wieder nach Hause und dort an ihre eigen - Arbeit zu gelangen. Ecu Neffe der Handarbeitslehrerin, der Assessor Leine weber, hatte Fran Senf deshalb einmal sehr rrcffcnd mit einem Teckel verglichen, der beständig vor Eile mit den Hinterbeinen ausrulscht. Mohmeiers Kinder titulirten Frau Senf nur die eilige Frau und sangen ihr zu Ehren, so bald sic außer Hörweite war, nach der Melodie eines bekannten Couplets: „'Ne ganze, 'ne ganze, 'ne ganze eilige Frau!" In den Augen ihrer Herrin war Fran Senf fehlerlos. Betti Klans ging in ihrer Vorliebe für ihre „Perle", wie sie die Aufwärterin preisend in ihrem Kaffeekränzchen zu nennen pflegte, so weit, daß sic sogar die Angst, die sie bei jedem Reinemachen auszustchen hatte, wenn sie Frau Senf in fliegender Hast mit den beiden Asroditts in der Luft herum jonglircn sah, nicht etwa deren wagehalsigem Thun zurcchnctc, sondern den unliebsamen Göttern in die Schuhe schob, mit denen ihr leider die lieben Schülerinnen ein so unbequemes Andenken bcschccrt hatten. — „Wissen Sic's schon, Fräulein?" rief eines Morgens Fran Senf ihrer Gebieterin durch die halb offen stehende Stubcnthür aus der Küche zu, wo sie mit einer wahrhaft centrifugalcn Geschwindigkeit Kartoffeln schälte, während Fräulein Bctti drinnen im Zimmer auf ihrem Fenster throne hinter blühenden Hcrbstastcrn saß nnd gemächlich strickte. Stricken war die Lieblingsbeschäftigung des Fräu leins. Strickmaschinen verdammte sic als eine lüderliche Erfindung der Neuzeit und stellte deren Erzeugnisse in ihrer Wcrthschätzung auf gleiche Stufe mit dem Inhalte der Schundbazarc. Auch das überhand nehmende Häkeln verachtete sie dem Stricken als uncbcnbürtig, behauptete, es übe einen nachtheiligcu Einfluß auf die Menschheit auS nnd tadelte besonders die Kinderwärterinnen, die auf den Promenaden und Kinderspielplätzen häkelnd lange Streifen von Clardincnspitzc hinter sich hcrschkcistcn, und ihre Pfleglinge über dem Maschenzählcn vernachlässigten. Angenblicklich zählte Fräulein Klaus die Nc.thchen ihres Strumpfes, und der Zuruf ihrer „Perle" störte sic dabei. „Was denn, Fran Senf?" „Daß Mohmeiers gekündigt sind?" schallte es aus der Küche zur Antwort. Hauswirths Mine hat's mich im Vorbcijehen aus 'en Küchcnfcnster zujerufen. Ich wollte mir nur nich abmüssijen, sonst hätte ich noch 'mal nach- jefragt. Sv, Fräulein, de Kartoffeln wären nu jemacht! Js außerdem noch was? Sonst jehe ich jetzt!" Fräulein Betti Klaus saß einen Augenblick vor Ueber- raschung über die Nachricht von Mohmeiers Kündigung auf ihrem Throne, gleichsam erstarrt. Sprachlos verharrte sic hinter ihren Herbstblumen, und bevor sie sich noch er holt hatte, schlang sich Frau Senf mit der Routine einer Serpentintänzerin ein kaffeebraunes, dreieckiges Um- schlagctuch nm die Schultern, plätscherte noch schnell mit einem bewundcrungSwerthcn Kunstgriff, den sie leicht aus dem Haudgclcnk schlenkerte, die Kartoffeln unter der Wasserleitung ab, rief ein: „Na, dann adjö, Fräulein!" in's Zimmer hinein nnd verschwand, als ob eine Theater versenkung sie entführt habe. Ihre Herrin machte keinen Versuch, sic zurückzuhalten, sie wußte aus Erfahrung zur Genüge, daß dies ein hoff nungsloses Unterfangen gewesen war. Denn Fräulein Bctti hatte sich seit ihrer Pensivnirung, da sic alle Woche durchschnittlich drei Kaffees mit viel Kuchen und süßen Speisen mitmachte, behäbig angernndet, und die Perle kollerte stets die Treppe mit der Behendigkeit einer Katze hinunter. Ein Vicrtclstündchen nach dem Abgänge der Frau Sens erschien Fritzchen Mohmcicr, der jüngste Sprößling seiner Familie vor dem Throne der aufs Neue strickenden Tante und verkündete wichtig: „Du, Tante Bctti, wir ziehen Ostern in ein anderes Haus!" „So? Was sagen denn Deine Eltern dazu?" „Papa schilt nnd Mama weint. Und Jochen hätte beinah Prügel gekriegt, aber er hat die Hyacinthe», die Herr Meineckc im Vorgarten gepflanzt hat, gar nicht aus gerissen, sagt er. Die Bäckcrjungcns haben cs gcthan, wenn sic Morgens das Brod bringen, oder der Milch mann, oder die Zeitungsfrau ". „Oder der Postbote, oder der Schlachter", fuhr Tante Betti streng in der Auszählung fort, „oder vielleicht habe ich es gcthan — na, ich kenne Euren Jochen!" Dann wiegte sic sinnend ihr wohlfrisirtcS Haupt. „Vcrheirathet zu sein, ist doch nicht immer ein Glück! philosophirtc sic schweigend für sich, das hat nun die arme Mohmciern von ihren drei Rangen, daß der HauSwirth pe an die Luft setzt!"
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