01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 27.08.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-08-27
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020827017
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902082701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902082701
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-08
- Tag1902-08-27
- Monat1902-08
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Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertrnannahme L5 L» (excl. Porto). Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung SO.—, mit Postbesörderung ^4 70.—» Annahmefchluß für Anzeigen: Abend-AnSgab«: vormittags 10 Uhr. Morgan-AnSgab«: Nachmittags 4 Uhr. Anzeige« find stets au di» Expedition ja richten. Die Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi- Abend» 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 96. Jahrgang. Das Cartell und sein Gegner in der „National-Zeitung." (Schluß.) Wenn der Schreiber, der seinen Standpunkt mit dem des Herrn Rechtsanwaltes vr. Zoeph el, welcher als Mitglied deS Landesvereins, nicht aber als Vorsitzender des jungnational liberalen Vereins zu der letzten Hauptversammlung Zutritt hatte, identificirt und über dessen Ausführungen so genau unterrichtet ist, so hätte er, wenn er ganz aufrichtig sein wollte, auch Vie Thatsacke melden müssen, daß bei der Schluß abstimmung über eine Betbeiligung an einem etwaigen Cartell Herr vr. Zoephel allein dagegen gestimmt hat. Diese einfache Mittheilung würde jedoch den ganzen Erfolg des Artikels von vornherein in Frage gestellt haben, weil Officiere ohne Soldaten keine Schlachten gewinnen. So kann auch der Verfasser singen: „Ich bin allein auf weiter Flur!" Die nationalliberale Landespartei hat sich mit 99 von 100 Stimmen auf der Hauptversammlung für den Abschluß eines CartellS mit Conservativen und Anti semiten entschieden, wenn diese die Verständigung auf der Grundlage des Besitzstände» und der Parteistärke ebenfalls wollen. Daß die Geneigtheit zu einem solchen Bündnisse auch auf conservativer Seite vorhanden war, konnte schon Anfang Mai festgestellt werben, und daß die Reformpartei sich ebenfalls bereit finden lassen würde, war nach Lage der Dinge ziemlich sicher. Zweifelhaft konnte nur sein, ob die gerade im Frühjahr bestehende Spannung zwischen Conser vativen und Antisemiten soweit überwunden werden könnte, um Beide unter einen Hut zu bringen. Nachdem national liberale und conservatw« Herren am Schlüsse des letzten Landtages sich zunächst nur vertraulich ausgesprochen haben, werden im September dieses ZahreS unter Hinzu ziehung antisemitischer Führer formelle Verhandlungen wegen eine- Wahlbündnisses stattfinden. Diese nackten Thatsachen muß man kennen, wenn man über das Cartell reden will. Wie erklärt sich der Berichterstatter der „National-Zeitung" nun diese Uebereinstimmung aller drei großen Ord nungsparteien Sachsens in dem Entschlüsse, sich dem oben angedeuteten Zwange eines CartellS zu unterwerfen? Wen» er schon annimmt, daß die confervative Partei, deren feste, energische und rücksichtslose Leitung so auffällig gepriesen wird, die übrigen Betheiligten über den Löffel barbieren werde — glaubt er denn das auch von der weniger zahl reichen Reformpartei, die zum ersten Male in das Cartell hineingezogen werden soll? Muß denn gerade die nationalliberale Partei so dumm sein, den anderen den Steigbügel zu halten, damit sie in den Sattel gelangen? Diese Voraussetzung der Inferiorität wird selbst Herr X. in seinem kühnsten Gedankenfluge nicht gemacht haben, eS sei denn, daß sein Haß gegen die eigene Parteileitung ihm alle Besinnung geraubt hat. ES muß also ein anderer Gesichts punkt maßgebend sein auf allen Seiten, und das ist der nationale. Hierin wollen alle drei Parteien doch gleichen Geistes sein, keine will sich von der anderen den Rang ab laufen lassen, so daß nur über das rechte Maß und die rechte Auslegung, was national ist, untergeordnete Differenzen be stehen. Ist es nun aber nickt national gedacht, daß die Parteien sich zu einer festen und großen Phalanx zusammen schließen, um die staatsfeindliche Socialdemokratie, die bereits die größere Hälfte aller sächsischen Mandate erobert hat, zurück zu drängen und womöglich ganz aus dem Felde zu schlagen? Man kann einwerfen: der Plan ist groß und schön, aber in seinem Erfolge wenig verbürgt. Wer so kleinmüthig denkt, der müßte doch zuvor bedenken, daß jede einzelne Partei in ihrer Isolirung erst recht diesem gewaltigen An sturm rücksichtsloser Gegner preisgegebrn ist und daß der Kampf Aller gegen Alle bei der jetzigen innerpolitischen Lage meist den Ordnungsparteien den Sieg entrisse» hat. Die Wahlstatistik aber lehrt, daß selbst in unseren: industriereichen Sachsen die Socialdemokratie den bürgerlichen Parteien nicht gewachsen ist. Im Jahre 1898 Hal jene 299 190 Stimmen aufgebracht, während diese zusammen 305 638 Stimmen zählten. Der Unterschied von etwa 6500 Stimmen ist allerdings nicht hoch, man muß aber bedenken, daß auf Seite der Ordnungsparteien die Zersplitterung und der Rückgang der Stimmen gerade durch Lauheit, Uneinigkeit und kleinliche Zänkereien herbeigeführt wurden. Wenn die Einigung eine vollständige ist, dann ist es wohl möglich, wie im Jahre 1887, wo der Cartellgedanke am reinsten leuchtete, wiederum 370 000 bürgerliche Stimmen zu sammeln. Und das ist daS Ziel, dem bei den nächsten Cartell- verhandlungen alle Parteien zustreben wolle», damit die in ihrer Wildheit und Stärke übersckäumenden socialdcmokra- tiscken Fluthen an diesem massigen Walle zerschellen. Nun werden solche Massen natürlich nicht ohne große Aufwendungen für die Agitation in Bewegung gesetzt. Wenn die Kosten ausgebracht sind, dann wollen sie auch richtig verwendet sein; jedenfalls werden in der Bekämpfung nahestehender Parteien und ihrer Candidaten die Mittel verzettelt. DaS ist zu dem nationalen ein ganz materieller Gesichtspunkt, der aber nicht zu unterschätzen ist. Wer dieses Ziel im Auge hat, der wird auch damit einverstanden sein, daß die einzelnen Wahlkreise an die am stärksten darin vertretene Partei zur besonderen Bearbeitung vertheilt werden; denn da» ist die nothwendige Voraus setzung des CartellS. Im Allgemeinen entsprach der Aus fall der Wahlen im Jahre 1898 dem Stärkeverhältniß. Den Conservativen waren 5, den Nationalliberalen 4 und den Antisemiten 3 Kreise zugesallen. Diese müssen den Parteien auch in Zukunft belassen werden, wenn anders das Cartell einen Zweck haben soll, und dazu sind die von den Socialdemokraten zurückzuerobernden Mandate an die stärkste Partei zu vergeben. So ist über Dresden-Neustadt zu Gunsten der Conservativen bereits verfügt, wo die Ordnungs parteien 1898 rund 19 500 gegen 18 000 socialdemokratisihe Stimmen aufbrachten, über Dresden-Altstadt zum Vortheile der Reformer, wo die Ordnungsparteien 18 855 Stimmen zählten, denen die Socialdemokraten nur 17 133 entgegenstellten. Wir nehmen hier absichtlich die Zahlen des ersten Wahl ganges zum Beispiel, weil diese in der Regel das wahre Verhältmß deutlicher erkennen lassen; denn bei Stichwahlen läßt bekanntlich in den Reihen der bürgerlichen Parteien Eifer und Interesse nach, während sie auf der Gegenseite stets wachsen. So müßte unseres Erachtens Zschopau- Marienberg, wo 1898 der Socialdemokrat in der Stichwahl bei 10 262 genau 100 Stimmen Vorsprung hatte, wiederum an die Conservativen fallen, während Stollberg-Schneeberg den Reformern zuznsichern wäre, lieber Dresden-Land bezw. Dippoldiswalde, wo die Socialvemokraten durch Ausgemcin- dungen verloren haben, könnten sich diese beiden Parteien des Weiteren verständigen, während sie den Nationalliberalen Zittau, wo der Socialdemokrat schließlich 500 Stimmen mehr erhielt, und Reichenbach, wo sie mit etwa 1500 Stimmen im Rückstände waren, zu überlassen hätten. Hier ist der Kampf gar nicht aussichtslos, wenn die Parteiorgani sationen überall ihre Schuldigkeit thun, mag auch die Social demokratie im Laufe der Jahre, wie wir recht gut wissen, zugenommen haben. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, ist dies wohl der ungefähre Rahmen, in dem die Verthcilung der Rollen vor sich gehen muß. Von einem trügerischen Optimismus wird jede Partei sich feruhalten uud deshalb auf verlorenen Plätzen Geld und Arbeit sparen. Aber der Satz, wer nicht wagt, der nickt gewinnt, gilt auch im politischen Leben. Gar mancher Husarenritt ist noch in letzter Stunde erfolgreich gewesen. Nun fragen wir den „nationalliberalen" Gegner des CartellS, ob er ernstlich glaubt, daß seine Parteileitung sich blindlings in Pläne bineinstürze, die ihm trotz ihrer Einfach- heil nicht möglich bezw. nicht glücklich erscheinen, gerade als wenn sie sich dazu drängte, für andere die Kastanien aus dem Feuer zu holen? Oder meint er nicht vielmehr, daß auch sie nur nothgedrungen in den Apfel beißt? Muß man doch den im Alter gereisten und im Kampfe erfahrenen Führern zutrauen, daß sie nur dem höheren Zwecke zu Liebe andere zurückstellen. Ein Verzicht auf die liberale Gesinnung ist damit nicht ver bunden. Man bedenke doch, daß der Nationalliberalismus von dem Radikalismus himmelweit verschieden ist, der nur in der einseitigen Betonung eines Princips seine Stärke suckt. Schon der Name unserer Partei zeigt, daß wir den gemäßigten Liberalismus vertreten. Der Schreiber in der „National-Zeitung" weiß recht gut, daß der Richter'sche Freisinn in Sachsen zu einer guautitö nözligoablo herabgesunken ist uud daß auch die Freisinnige Vereinigung hier trotz deS „Liberalen Vereins" in Leipzig keinen festen Fuß fassen kann. Wem will er da vorreden, daß der National liberalismus in älterer Zeit stets diesen Anstrich gehabt habe? Weiß er denn gar nichts von einer Fortschrittspartei mehr, die seinem Ideale offenbar näher steht, obgleich sie in den letzten Zügen liegt, als die jetzige nationalliberale Rich tung in Sachsen? Daß diese aber in Wirklichkeit immer dieselbe geblieben ist, insofern Schutzzoll- und Cartellpolitik dabei im Spiele sind, daS müßte selbst Herr X anerkennen, wenn er nicht in seine Idee verrannt wäre. Wie komisch ist es doch, wenn er als Argument gegen das Cartell auf die Wahl von 10 nationalliberalen NeichstagSabgeordneten im Jahre 1887 hinweist, wo doch das Cartell allein diesen großen Erfolg unserer Partei zugesührt hat! Wie darf er sich auch auf Bennigsen'S Widerspruch gegen einen 5 Mark-Getreidezoll berufen, wenn dieser 15 Jahre zurückliegt und wenn in diesem Zeitraum fast jeder Politiker vom Freibandelsdogmatiker bis zum stärksten Schutzzöllnec seine wirtbschaftSpolitischen An- l'chauungen einer mehrmaligen Nachprüfung hat unterziehen müssen? Ist ihm denn nicht bewußt, daß Bismarck sich s. Z. sogar einem Einmarkzoll auf Roggen widersetzt bat? Die Weltmarktslage ist cs doch, die unsere volkswirthschaftlichen Anschauungen fortgesetzt verändert. Wer also nicht auf dem Freibandelsstandpuncte der siebziger Jahre stehen geblieben ist oder nur den — übrigens im eigenen Lager von namhaften „Genossen" längst verlassenen und be kämpften — reinen Consumentenstandpunct der social demokratischen Häupter vertritt, der muß sich auch mit seinen wirtbschaftSpolitischen Ueberzeugungen den realen Verhält nissen anbequemen. Das hat unsere Partei durch Be tonung der Freiheit in wirthschaftlichen Dingen programmatisch ausgesprochen. Wenn Jemand nur noch einen Stand- punct, etwa den deS Handelsvertragsvereins mit seinem 3,50 -L-Satze, gelten läßt und davon sein Urtheil über die Partei leitung abhängig macht, der verstößt gegen einen so wichtigen Grundsatz des Programms, daß er kaum noch der Partei zugerechnet werden kann. Jedenfalls aber muß er sich der Majorität fügen, welche sowohl in der Gesammtpartei, als auch in dem Landesverein die herrschende ist. Sie vor den Gegnern bloßzustellen und zu verunglimpfen, dazu fehlt ihm jeder rechtliche und moralische Anhalt. Ist es denn gar so schwer, sich vorzustellen, daß als Folge des CartellS auch eine besonders vorsichtige Auswahl der Candidaten mit Rücksicht auf die übrigen Parteien gegeben ist? Wer das bezweifelt, der mag sich doch den Leipziger Candidaten der vereinigten Ordnungsparteien etwas näher ansehen und ihm die auch sonst versagte Gerechtigkeit zu Theil werden lassen, daß er, obne mit seiner eigenen Partei in Conflict zu kommen, die Interessen der Uebrigen erfolgreich mit vertritt. Dieser Vorzug macht ihn gerade zu dem einzig möglichen NeichstagSabgeordneten in Leipzig und läßt ihn immer wieder über die Socialdemokraten den Sieg davon tragen. Schon deren grimmiger Haß gegen diese Persönlichkeit hätte den Herrn X. darauf aufmerksam machen müssen, daß er fremde Aibeit besorgt, wenn er sich ausfällig gegen diesen wendet. Aber die Vorsicht der Parteien gegen etwaige Nachtheile des CartellS geht noch weiter, wie der Dresdner Ver trag, der ja für Niemanden mehr ein Geheimniß ist, beweist. Da ist die Mitwirkung der übrigen Parteien bei der Bestimmung deS Candidaten wenigstens in soweit sicher gestellt, daß sie ungeeignete Persönlichkeiten zurückweisen können. Und was in Leipzig praktisch, in Dresden rechtlich wirksam ist, soll daS nicht auch für die übrigen Wahlkreise erreichbar sein? ES ist zwar schwierig, immer den für die gegebenen Verhältnisse passenden Vertreter zu finden, aber unmöglich ist eS nicht. Wo ein Wille ist, da ist auch Erfolg. Kann sich nun der Schreiber der „National- Zeitung" nicht weiter vorstellen, baß die nationalliberale Parteileitung daS Bestreben hat, so weit wie möglich bei der Candidatenwahl im Sinne eines gemäßigten Schutz zolles, wie er den allgemeinenJnteressen des sächsischen Landes entspricht, einzuwirken? DieLandtagSverbandlungcn hat er aller dings nicht mit der genügenden Aufmerksamkeit verfolgt, sonst würde ihm daS Bemühen der Conservativen, die extremsten For derungen bündlerischer Heißsporne zu unterdrücken, nicht ent gangen sein, sonst würde bei ihm auch die nationalliberale LandtagSfraction die Anerkennung finden, daß sie nur auf einer mittleren Linie mit der Rechten in wirthschaftlichen Dingen gedeihlich Zusammenarbeiten will. Wenn eS auch denkbar ist, daß einzelne Mitglieder weniger nachgiebig sind, so bat die Fraktion dock stets den obigen Standpunkt nach außen hin beobachtet. DaS Alles soll nun nicht wahr und nicht im Interesse der Partei gelegen sein! Wo sind denn die Schaaren der Unzufriedenen in unseren eigenen Reihen, die bei einem Umschwung unserer WirthschaftSpolitik den Schaden auswiegen würden, der auf unserem rechten Flügel drohte? Sie bestehen zum größten Theil nur in der Phantasie deS Herrn X. Die wenigen, die er wirklich kennen kann, haben ihren Anschluß bei dem Handelsvertrags verein und dem Freisinn gefunden. Daß letzterer in Sachsen bedeutungslos ist, darüber giebt nicht nur die allgemeine Stimmung im Lande Ausschluß, darüber belehrt auch seine Wahlziffer im Jahre 1898 mit 15 413 Stimmen. Diesen nackzujagen, wie der Artikelschreiber offenbar wünscht, heißt größere Summen aufs Spiel setzen. Oder hofft Herr X. etwa gar, die Socialvemokraten in Massen zu gewinnen? Dann würden wir seinen Optimismus beklagen müssen. Der Weg von der Socialvemokratie zurück in die geöffneten Arme der Ordnungsparteien ist leider nur dünn besät. Die dies malige Wahlparole aber wird ihr mehr Wind in die Segel treiben, als entziehen. DaS kann auch der politische Neuling wohl erkennen. Darum kann auch für uns nur die Losung sein: Laß dich vom Linken nicht umgarnen. Mag auch der Freisinn in beiderlei Gestalt zahlreiche Be rührungspunkte mit uns gemein haben, in praktischer Be deutung für die Reichstagswahlen kann er das nicht aus wiegen, was auf der rechten Seite zu erhalten und zu ge winnen ist. Die Industriellen, welche früher politischen Anschluß bei den Conservativen gesucht, dann aber infolge Das Deutschthum in Brasilien. i. „Muß unbedingt ausgewandert werden, d. h. wenn der Ueberschuß der Bevölkerung in Deutschland keinen Raum mehr hat — WaS Mancher noch bezweifelt —, dann sei Bra silien vaS Ziel, sprciell Südbrasilien, denn eS giebt kein geeigneteres Land. Es ist ein gesegnetes, fruchtbares Stück Erde und den Deutschen in jeder Beziehung zuträglich. Eine Vorbedingung muß aber erst erfüllt sein; die brasi lianische Negierung hat sich bisher wenig der Aufgabe ge wachsen gezeigt, die Einwanderung in rechter Weise zu leiten. Es ist unbedingt nöthig, daß deutscher Unter nehmungsgeist die Sache in die Hand nimmt, daß mit deutscher Gewissenbaftigkeit geeignete Ländereien auögewählt, Eisenbahnen und Wege gebaut, kurz alle die mannigfachen nothwendige» Vorbedingungen geschaffen werden. Ferner sollte erstrebt werden, die Auswanderung nach einem Punkte hinzulenken. WaS nützt eS, wenn überall in der Well deutsche Niederlassungen entstehen? Sie sind den kleinen Inseln gleich, die, zu wenig widerstandsfähig, vom Strome hinweggerissen werde». An vielen Punkten Süd amerika» mag der Ansiedler sein Fortkommen finden, sei eS in Argentinien, in Chile oder anderwärts. Aber wäre e» nicht besser, sich in einem Lande zu sammeln, anstatt sich zu zersplittern? Und keinen besseren Stützpunkt giebt e» al» Südbrasilien, in dem sich schon circa 500 000 Deutsch« nieder gelassen haben. Ihr Einfluß ist schon heute nicht gering. Er würde noch bedeutender werden. Hier könnte ein kleine» Deutschland entstehen, da» im Stande wäre, deutsche Sprache und Art HU bewahren, da» Widerstandskraft genug hätte, allen feindlichen Strömungen erfolgreich zu widerstehen." E» ist ein Deutscher, ein ehemaliger evangelischer Diaspora geistlicher in Brasilien, W. Heeren, der in seinem von Karl Kaupisch in Leipzig hrrauSgegebrnen, außerordentlich instruetiven und lesenSwerthen Buche: „Deutsch-evangelische» Leben in Brasilien" so schreibt. Er kennt, da er acht Jahre lang im Auftrag de» Evangelischen Obrrkirchenrath» in Berlin einer ! deutsch-evangelischen Gemeinde in Brasilien in Kirche und Sckule gedient hat und vielfach mit allen BevölkerungS- sckichten in Berührung gekommen ist, die dortigen Verhält nisse wie kaum ein zweiter. Aber wenn sein treffliches Buch, das angelegentlichst zur Lectüre empfohlen sei, auch eingehend aus der Fremde be richtet, in die Fremde locken will eS nicht, auch nickt nach Südbrasilien. Er hofft, daß es dem Leser seiner Schilde rungen ergehen werde, wie eS noch jedem erging, der in der Fremde weilte: Mit offenem Sinn und dankbarem Herzen wird er alles Gute und Große schätzen, dessen wir uns trotz aller Nölhe und Schäden der Zeit im deutschen Vaterlande noch erfreuen können. Ein jeder, sagt Heeren, welcher der Heimath müde ist, überlege wohl, was er thun will. Es giebt nur ein deutsches Vaterland, eS giebt nur eine deutsche Heimath. „Jst'S gleich schön im fremden Lande, doch zur Heimath wird eS nie!" Seit der Neubegründung deS Reiches durch die glorreichen, weltgeschichtlichen Ereignisse von 1870/71 ist ja die Stellung der Deutschen in Braffilien eine unvergleichlich andere ge- worden, aber die tiefe Kluft zwischen ihnen und der einhei mischen Bevölkerung ist geblieben. Heirathen zwischen Brasi lianern und Deutschen sind selten. Wirthschastlichkeit und Sinn für gemüthliche Häuslichkeit geht deu Brasi lianerinnen ab. Sehr oft ist der Mann ein Packesel, muß sich schinden und plagen, muß bluten, falls er reich ist, um neben der Familie noch deren An hang zu ernähren. Die Kinder gehen der deutschen Sprache verlustig, und, sofern der Mann evangelisch ist, dem evan gelischen Glauben verloren. Mitunter lernt eine Brasilianerin aus Liebe zu ihrem Manne, oder durch Verhältnisse dazu ge zwungen, Deutsch, aber die Muttersprache der Kinder ist doch die portugiesische. Alle Erfahrungen lehren, daß ein Deutscher in Brasilien keine verhängnißvollere Thorheit begeben kann, als unter den Töchtern de« Landes zu wähle». Heirathet ein Brasilianer eine Deutsche , wa« sehr selten geschieht, so geht die Nachkommenschaft nicht minder dem Deutschthum verloren. Einen großen Gegensatz bildet in erster Linie unser deut sche» VolkSthum. Da» ungelenkere, ernst« und sittlich strengere deutsche Wesen ist nicht nach dem Geschmack de» Brasilianer». Unser» Sprache zu lernen, fällt ihm schwer, unsere Bücker können ihm nicht gefallen. Französische Leichtfertigkeit und Oberfläcklichkeit, des Franzosen Sprache und glitzernde, prickelnde Schreibweise entsprechen mehr seinem Geschmack und seinem Empfinden. Der Bezug der geistigen Nahrung auS Frankreich bat noch eine besonders für den Deutschen üble Folge. Alle Urtheile und Berichte über deutsche Verhältnisse liest der Brasilianer nur durch die französische Brille, und oft hält er sich an Be schreibungen, die der verständige Franzose sicher abweist. Schmähschriften über Deutschland finden aufmerksame Leser, und man glaubt es kaum, welch blühender Unsinn für baare Münze genommen wird. Deutschfcindlicke überseeische Nach richten , besonders der französischen Telegraphen-Agentur „Agence Havas", melden oft die tollsten Dinge, die gern ge glaubt werden. Ein kleiner Krawall in Berlin wird als großer Aufruhr und Straßcnkampf gekabelt. Im Jahre 1890 betrieb man laut Drahtnachricht „fieberhafte Rüstungen" in dem Arsenale von — Hamburgs!). Die alte Fabel von der Bestechung französiscker Generale durch die Deutschen wird von dem Durchschnitts-Brasilianer noch beute nachgesprochen. Der deutsche Soldat ist nach seiner Ansicht Wohl tüchtig und tapfer, aber steif und willen los, ohne eigenen Antrieb und eigene Gedanken. „Wie eine Schachfigur" läßt er sich bin und herschieben. Wo er steht, da stehl er. Der französische Soldat dagegen ist Feuer und Leben, denkend und rasch sich entschließend aus eigenem Trieb und Verstand. Des Verfassers brasilianischer Nachbar, bei dem er bis weilen eine Tasse The« trank, ein Postbeamter, erzählte ihm einst folgende Neuigkeit: „Wissen Sie däs Neueste, Herr Padre (Pfarrer)? Der französische Soldat ist jetzt so vollkommen ausgebildet, daß es der Deutsche unter keinen Umständen mehr mit ihm aufnedmen kann. Wenn der französische Infanterist dis an den Hal» im Wasser steht, so ist er trotzdem noch immer jedem auf dem Lande kämpfenden Deutschen überlegen." Pastor Heeren scküttelte den Kops zu dieser merkwürdigen Nachricht. „Ja wohl", fuhr der Brasilianer eifrig fort, „«» ist wahr. Ein bedeutender französischer Schriftsteller, rin Mann vom Fach, bat e» geschrieben. Ich habe eS eben ge lesen. E» ist di« reinste Wahrheit." Heeren batte, wie er erzählt, nicht Übel Lust zu fragen, ob der im Wasser schießende französische Soldat nicht seine Patronen hinter die Obren steckte, wie der Brasilianer die Cigarette oder den geliebten Zahnstocher. WaS den Brasilianer besonders gegen den Deutschen ein nimmt und ihn in Zukunst noch mehr einnehmen wird, ist dessen stilles, aber unaufhaltsames Vordringen. Im wirth- schastlichen Kampfe mit ihm ist jener weitaus der Schwächere. Er kommt nicht mit, er muß unterliegen. Arbeiten will er nicht und kann er auch nicht, weil er nickt dazu erzogen ist. So schwer der Deutsche sich darein finden kann, einen Menschen, der sich der geistigen Getränke enthält, nicht als Sonderling zn betrachten, so schwer vermag der Brasilianer sich daran zu gewöhnen, in der Arbeit nichts Unschickliches oder gar Entehrendes zu sehen. Beliebt ist die Rede der Brasilianer: „Wir brauchen nur Arbeitskräfte, Intelligenz haben wir genug". Der Brasi lianer ahnt dabei gar nicht, welche Kräfte in dem gering angesehenen, einfachen deutschen Einwanderer stecken. Dank der Schulkenntnisse, der Geschicklichkeit, der Sparsamkeit und dem Fleiße der Deutschen wird die „Arbeitskraft" oft zn einem Besitzer, Kaufmann, Fabrikanten, kurz zu etwas, was man nie vermuthet hätte und man zu seinem Schrecken einsieht. Hieraus geht klar hervor, daß der Brasilianer die Fremden, besonders die Deutschen, nur mit argwöhnischen Augen an sehen kann. Er sieht die Zeit kommen, wo er nicht mehr Herr im eigenen Hause rst uud an die Seite gedrückt wird. Die veränderte politische Stellung der Deutschen seit 1870 verschlimmert den Argwohn eher, als daß sie ibn mildert, und das muß schließlich zum Fremden-, specieü zum Deutschen haß führen. Fürst BiSmarck wurde, als er Deutschland wieder zu einem der ersten Nationalstaaten der Welt umgeschmiedet, bewundert und verehrt in Brasilien, aber auck gefürchtet, und Mancher konnte den heimlichen Argwohn nicht lo» werden, er könne mal «in Stück von Brasilien für das deutsche Reich wegnehmen, er käme wohl gar eines Tages zu dem Zwecke in eigener Person auf einem Kanonenboote angedampft, erzgepanzert, im blitzenden Kürassierhelm. Nein, mit den Deutschen ist nicht gut Kirschen essen. Man sieht sie lieber gehen, als kommen, und daS macht da» Wohnen unter den Brasilianern für sie zu allem Anderen als zu einer Annehmlichkeit. E» ist ungrmllthlich dort! (Schluß folgt.)
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