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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.09.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-09-19
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030919028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903091902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903091902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-09
- Tag1903-09-19
- Monat1903-09
- Jahr1903
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Reklamen unter dem RedakttonSstrich (4 gespalten) 75 H, vor den Familienaach- richten (6 gespalten) 50 Tabellarischer und Ziffernsatz endsprechend höher. — Gebühren sür Nachweisungen und Lffertenannahme 25 H (excl. Porto). Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Anuahmeschluk für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4 Uhr. Anzeigen sind stet- an die Expedition zu richten. Die Expeditton ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi- abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Nr. 478. Sonnabend den 19. September 1903. 97. Jahrgang. politische Tagesschau. * Leipzig, 19. September. Sozialdemokratie und Bürgertum. Nun hat auch Bebel sein Fett! Wie grob und weg werfend er auch von den Revisionisten gesprochen, diese haben ihm redlich heimgezahlt, was er an ihnen getan. Seine Herrschsucht, seine Intoleranz, sein Aufbauschen untergeord neter Meinungsverschiedenheiten zu Attentaten auf die Partei, seine rücksichtslose (Grobheit, alles ist ihm vorgerückt worden, um so wirksamer, je ruhiger Vollmar seine Borwürfe be gründete. Selbst grimmen Spott hat der Diktator erdulden müssen, als ihm Auer unter schallendem Gelächter der Ver sammelten zurief: „Was ist kenn dem guten August iu den Kopf gestiegen? Dem muß eine Laus über die Leber gelaufen sein! Wir können doch aber nichts dafür, daß August eine so kitzlige Leber hat!" Aber der alte Umstürzler wird fick das nickt sehr zu Herzen nehmen. Und wenn die „Bourgeoisie" aus den Scenen, die sich auf dem Dresdner Parteitage ab gespielt haben, den Schluß zieht, die Freundschaft der „Ge nossen" gründe fick auf gegenseitige Verachtung, was ver schlägt das dem Diktator? Er denkt wie Singer: Wasckt nur Eure dreckige Wäscke vor aller Welt! Andere Parteien haben nur nicht den Mut dazu. Und es liegt tatsächlich etwas ungemein Imponierendes darin, daß die „Genossen" sich bewußt sind, eine solche Mohrenwäsche offen vor aller Augen vornehmen zu dürfen, ohne der Partei wesentlich oder überhaupt zu sckaden. Was glaubt man innerhalb der anderen Parteien alles vertuschen zu müssen, um nickt Gefahr zu laufen, eine empfindliche Einbuße zu erleiden! Bebel fürchtet nicht einmal für sich eine Verminderung seines Ansehens in der Partei durch die von ihm und auf ihn geschleuderten Vorwürfe. Er bat vorgestern unter stürmischem Beifall aller seiner Zuhörer verkündet: „Ick will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staats ordnung bleiben, sso lange ich lebe und existiere, um sic in ihren Existenzbedingungen zu unter graben und sie, wenn ich kann, zu beseitigen." Unb die ihm für diese Erklärung von allen Seiten bekundete Zustimmung sagt ibm, daß er das Partcihaupt ist und bleibt, trotz aller Widcrwilligkcit, mit der ein Teil der Genossen seine Herrschsucht, seine Intoleranz, seine rücksichtslose Grobheit erträgt. Es denkt auch keiner der „Revisionisten" daran, ibm jetzt die Herrschaft zu entreißen; mit keiner Silbe hat auch nur einer der von ihm mit Worten Verprügelten an gedeutet, baß er August Bebel vom Parteithrone stoßen wolle. Nur von einigen „Schönheitsfehlern" möchte man ihn befreien und gemütlicher mit ihm reden und streiten können. Und da ein solcher Erfolg bei seinem Alter und seinen durch die Ge nossen selbst großgezogcncn, eingefleischten Gewohnheiten kaum;» erwarten ist, so wird man weiter mit ihm auszukommen suchen, wie er mit seinen Prügelknaben. Sie und er wollen vor allem die Macht, um die bürgerliche Gesellschaft und die be stehende Staatsordnung zerstören und ihre Existenzbedingungen untergraben zu können. Und das ist der Kitt, dersie znsammcnhält, trotz alledem und alledem. Heftigster, giftigster Streit und gröb lichste gegenseitige Vermöbelung wirken nur wie luftreinigende Gewitter, die nach grellen Blitzen und rollendenDonnerschlägen > das gemeinsame Ziel klarer in der entwölkten Ferne zeigen. I Und das ist auch der Grund, aus dem die bürgerliche I Presse dem Dresdener Parteitage eine so eingehende Bericht erstattung widmet. Dieser Parteitag ist noch lehrreicher als der letzte sog. Katholikentag. Durch nichts konnte das die gesamte sozialdemokratische Partei durchdringende, alle Gegcn- jätze überbrückende Streben nach der Macht zur Unter grabung der Existenzbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft und der Staatsordnung so klar erwiesen werden, als durch den bisherigen Verlauf dieses Parteitages. Vor diesem Streben verschwindet alles andere; cS ist so groß, so all gemein, daß ihm das wüsteste Gezänk eher als Folie, denn als Verdunkelung dient. Und nur dieser Machthunger, der den schlichtesten wie den intelligentesten, den geführten wie den führenden, den unentwegten wie den „revisionistischen" Genossen durchdringt, macht die Wahlerfolge der sozialdemo kratischen Partei erklärlich. Jeder rote Stimmzettel wird als Mittel zum Zwecke der Machtentwickclung abgegeben; wessen Hände dann die erkämpfte Macht ausüben, ob diese mehr nach der einen oder mehr nach der anderen Richtung verwendet wird, ist vor der Hand gleich gültig. Darüber läßt sich streiten, wenn'S sein mutz, auch schimpfen. Nur erst gemeinsam siegen! Wie unsäglich kläglich erscheint diesem Bilde der Einigkeit im Streben nach Macht und Einfluß auch im wüstesten Kampfe um persönliche und taktische Fragen gegenüber das Bild, das die bürgerlich en Parteien bei den letzten Reichs tagswahlen geboten haben und bei den Vorbereitungen zu den Landtagswahlen in den Einzelstaaten noch bieten. Fast nirgends das Bewußtsein, daß ein furchtbarer gemeinsamer Gegner schon übermächtig ist und die Hand noch weiter und weiter nach der Macht ausstreckt. Ueberall denken Gruppen undGrüppchcn an weiter nichts, als ihr eignesTöpfchen möglichst nahe an die Feuerstelle zu schieben und das eigene Süppchen möglichst rasch zu kochen. Ueberall ein Ringen dieser Gruppen und Grüppchen um den Vorrang. Keine denkt an die Möglichkeit, daß Bebelianer und Vollmarianer, die soeben bewiesen haben, daß mau trotz der schärfsten per sönlichen und taktischen Gegensätze über die gemeinsamen Ziele ein Herz und eine Seele sein kann, mit mächtigen Fäusten auf den Herd schlagen, daß alle die kleinen bürger lichen Töpfchen und Süppchen in die Asche fliegen! Tie Monarchie nnd v. Naumann. In der neuesten Nummer der „Hilfe" setzt sich 0. Nau mann mit dem „neuen Bekenntnis" auseinander, das sein bisheriger nationalsozialer Gesinnungsgenosse l)r. Mauren brech er, der jetzige Sozialdemokrat, in der „Magdeburger Volksstimme" veröffentlicht hat. vr. Manrcnbrecher bezeichnet in diesem Bekenntnis die „möglichste Einschränkung der monarchischen Gewalt" als die einzig mögliche und naturgemäße Formel für die Arbeiterpolitik auf absehbare Zeit. In Bezug hierauf schreibt jetzt Naumann wörtlich: „Die Parole Mauren brechers ist nur dann berechtigt, wenn man an einen möglichen Sieg einer Proletarischen Revolution glaubt, durch den das Kaisertum gezwungen werden kann, jeine wesentlichsten politischen Vorrechte aufzugeben. Wer, wie ich, nicht an den Sieg dieser Revolution glaubt, für den ist es moralisch geboten, den Arbeitern zu sagen, daß sie unbeschadet ihres theoretischen Protestes praktisch mit der Mo narchie rechnen müssen, wie sie ist." — Glaubte also Naumann an die Mögliclckeit des Sieges einer proletarischen Revolution über die Monarchie, dann würde er mit dem „Genossen" I vr. Maurenbrecher die „möglichste Einschränkung der mon- I archischen Gewalt" als einzig mögliche und naturgemäße Formel für die Arbeiterpolitik ansehen. Ein derartiger Standpunkt beweist, daß Naumanns politische Auffassung der Monarchie nichts weniger als in sich gefestigt ist. Was hieraus für die Bedeutung sich ergibt, die Naumann als Stütze des monarchischen Gedankens zukommt, ist leicht zu ermessen. Tn neue Rcichsschatzsekrclär und die RcichSfinanzrcform. Ueber seine Stellung zur Frage der Reichsfinanzreform hat der neue Reichsschatzsekretär einem Gewährsmanne der „Münchener Neuesten Nachr." einige Mitteilungen gemacht, über die dieser, wie unS ein Münchener Privattelegramm meldet, folgendermaßen berichtet: „Die Frage der Erschließung neuer Einnahmequellen für das Reich ist aus dem Stadium der persönlichen Er wägungen noch nicht herausgekommen. Es hat bislang, ganz abgesehen von einer Beschlußfassung, weder eine Beratung der zuständigen Stellen stattgefunden, noch hat insonderheit der neue Staatssekretär des Reichsschatzamtes zu dieser Frage irgendivie Stellung genommen. Fürs Erste dürfte zu erwarten sein, welches Erträgnis der neue Zolltarif und die auf dieser Grundlage abzuschließenden Handelsverträge der Reichskasse zusühren. Erst dann kann die Frage nach neuen Reichs steuern in den Kreis ernsthafter Erörterungen gezogen werden. Und aus diesem Grunde ist es auch durchaus verfrüht, wenn in den letzten Tagen von verschiedenen Seiten versucht worden ist, Freiherrn von Stengel eine bestimmte Marschrichtung auf dem Gebiete der Reichs- finauzreform vorzuschreiben. Freiherr von Stengel hat, wie er uns ausdrücklich versichert, weder zu dem Problem der Wehr- steuer, noch zu den Plänen einer Reichserbschaftssteuer noch zu anderen Steuerplänen Stellung genommen. Erweist es sich später als unvermeidbar, die Einnahmen des Reiches durch nerre Steuern zu erhöhen, so werden alle diese Vorschläge zu prüfen sein. Die Gewißheit, daß der neue Leiter der Reichsfinanzen den Licht- und Schattenseiten vorurteilsfrei gegenübersteht, dürfte die Gewähr dafür bieten, daß eine Reichsfinanzreform, soweit sie sich auf Vermehrung der Stcuerquellen erstreckt, nur nach reiflicher Ab wägung aller Momente den gesetzgebenden Körperschaften vorgelegt werden wird. Wenn übrigens in der Presse die Finanzreform in einem Atemzuge mit der Vorlage eines großen Steuerbuketts genannt wird, so ist darauf hinzuweiscn, daß beide keineswegs eine untrennbare Einheit bilden. Eine Reichsfinanzreform ist auch ohne neue Steuern an sich sehr wohl denkbar und würde sich in diesem Falle einstweilen auf die Beseitigung von Uebelständen beschränken, die sich im Laufe der Jahre für jeden Sehenden herausgestellt haben. Die erste Maßnahme des „neuen Herrn" im Reichsschatzamte wird, wie wir zuverlässig versichern können, eine Betätigung in dieser Richtung sein." Wichtig ist an dieser Meldung nur, daß Frhr. v. Stengel gleich uns „die Beseitigung von Uebelständen" auch ohne die gleichzeitige Vorlage eines großen Steuerbuketts für möglich und wünschenswerterachtet. Es fragt sich nur, welche Uebel- stände es sind, deren Beseitigung er zunächst ins Auge gefaßt hat und ob diese Beseitigung die Einzelstaaten wesentlich, unabhängiger von der jewemgen Finanzlage des Reiches macht. Hoffentlich läßt die erste Maßnahme des „neuen Herrn" nicht lange auf sich warten. Ter Rücktritt Chamberlains. So zweifellos Chamberlains Rücktritt ein Zurückweichen im Kampf um die Zölle, also das Gegenteil von Sieg über die Vertreter der Freihandelspartei bedeutet, so verkehrt wäre es, mit deu Londoner „Daily News" anzunebmen, seine Lauf bahn sei beendet. Chamberlain rechnet wohl damit, daß die liberalen Freihändler bei den nächsten Wahlen Oberwasser gewinnen können, aber man ist vielfach der Ansicht, daß ihr Regiment nickt lange dauern wird. Sollten sie tatsächlich unter Rozeberys Führung bald wieder abwirtschaften, dann hält Chamberlain seine Zeit erst für gekommen. Allerdings ist Cbamberlain jetzt 67 Jahre alt, allein Gladstone zähltet Jahre, alsersein letzteSMinisterium bildete,und Chamberlaingibtseinem ehemaligen Kollegen und Kabinettschef in politischer KampfeS- freudigkeit und Ehrgeiz nichts nach. Es ist durchaus nicht unmöglich, daß er schließlich auf den Posten deS Premier ministers zu gelangen hofft und auch gelangt, wenn er den Massen Zugeständnisse bezüglich der Lebensmittelbesteuerung macht. Chamberlain hat ja so viele Wandlungen durchge macht — als ausgesprochener Radikaler sing er seine poli tische Laufbahn an —, daß ihm das schließlich nicht schwer fallen wird. Alles wird daraus ankommen, wie die Libe ralen die Lage auszunutzen verstehen, und ob Rosebery der Mann ist, sie auf Jahre hinaus unter einer Fahne festzuhalten. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem offiziellen Leiter des Kabinetts und dem bisher stärksten Mitgliede desselben sind durch die Broschüre BalfourS und das Schreiben Chamberlains klar gemacht worden. Jener hat sich, um dies nochmals klarzustellen, für die Möglichkeit und Rätlichkeit von Vergeltungszöllen ausgesprochen, dieser hält solche Maßregeln nicht für genügend, sondern verlangt auch Zölle ans Nahrungsmittel. In seiner ersten, seinen Plan ankündigenden Rede in Bir mingham, sowie im Unterbaust und im Constitutional Club hat Chamberlain wiederholt versichert, daß seiner Ansicht nach „ein System von Vorzugstarifen das einzige System ist, durch welches das Reich zusammengehalten werden kann", und er erklärte zugleich, daß solche Vorzugstarife auf Zölle auf Nahrungsmittel gestützt werden müßten, und daß da durch die Löhne gesteigert und die Einführung einer Alters versicherung ermöglicht werden würden. Als man dann be zweifelte, daß eine Erhöhung der Löhne eintreten werke, nieinte Chamberlain, daß ein Ausgleich für die Verteuerung der Nahrungsmittel in der Verbilligung anderer Stoffe, wie Tabak, gefunden werden könne. Spater noch gab er zu verstehen, daß Rohmaterialien nicht berührt werden dürften und daß man Retorsionszölle gegen fremde Fabrikate er greifen könne, wobei Produkte der Kolonien aus dem Spiele bleiben müßten. Frankreich und Italien. Ein Artikel des „Journal deS DöbatS" über den bevorstehenden Besuch deS italienischen Königspaares in Paris verdient wegen der Beziehungen Beachtung, die das genannte Pariser Blatt zum Ouai d'Orsay unterhält. Es entspricht den tatsächlichen Verhältnissen, wenn das „Journal des DöbatS" die Anwesenheit des Königspaares in der fran zösischen Hauptstadt bei aller symvathischen Würdigung ohne Ucberschwang kommentiert und gelassen darauf binweist, daß Feuilleton. isi Ingeborgs Linder. Roman von Margarete Böhme. Äian ccuct verboten. „Ach, Anna, ich furchte, du hast etwas sehr Ueber- eiltes und Törichtes getan. Du weißt doch von Bahne ..." „Der wird schauen! Keine Ahnung hat er. Ich gehe heute noch zu ihm " „Du .... du weißt doch, daß Bahne verlobt ist?" Sie erschrak vor Annas verfärbtem Gesicht. Eino Weile verging, bevor das Mädchen Worte fand. „Mach' keine Witze!" „Aber, Anna! Er mich es dir hbch geschrieben haben Gewiß hat Bahne sich verlobt — mit einer reichen jungen Dame aus der hiesigen Gesellschaft. Ich setzte voraus, daß du davon wüßtest. Nimm es nicht schwer, Anna. Wenn er dich hinterging, ist er es wirklich nicht wert, daß du ihm nachtrancrst. Hat er dir denn kein Wort davon geschrieben ?" Anna strich sich die krausen, verworrenen Haare aus der Stirn. In ihrem hübschen Gesicht kam nnd ging die Farbe. Ihre Züge machten ein krampfhaftes Ringen nach scheinbarer Gelassenheit bemerkbar. „Bor vier Wochen holte ich inir seinen letzten Brief von der Post. Eine gelungene Epistel .... von „schmerzlicher Entsagung" und „blutendem Herzen" und „bitterem Scheiden und Meiden" stand etwas drin. Ich lzabe den duseligen Wisch nicht einmal zn Ende gelesen. Er machte ja bisweilen solche Töne. . .. Schon früher tat er das. ... Ich habe mir gedacht, er ist betrunken gewesen " Sic wandte das Gesicht rasch ab nnd schluckte ein paar Malenergischanei-nem störenden, ansquellendenEtwas, das ihr in der Kehle saß. Als sic sich wieder umdrehte, sal) sie wieder ganz vergnügt nnd zuversichtlich aus. „Wenn es wahr ist; ich sage, wenn es wahr ist, haben sie ihn gekapert. Er ist ja ein einfältiger Kerl, nnd wo er so viel Geld hat. . .'. ." „Liebe Anna! Ich bitte dich! Bilde dir doch nicht solche Sachen ein. Was ist denn Bahne Lüpsen hier! Ein bürgerlicher Offizier mit einem nach bürgerlichen Maß stab recht ansehnlichen Vermögen — aber unter der Menge seiner Kameraden mit hochtönenden Titeln, und den furchtbar reichen Herren, die mit Hnndcrttausenden rechnen, wie gewöhnliche Sterbliche mit Zehnmarkstücken, doch nur ein recht bescheidenes Lichtchen. Im Gegenteil macht er nach allgemeiner Ansicht mit Else von Wiese eine brillante Partie." „Für solche Sachen gibt cs auch Retourkutschen." „Daran ist nicht zu danken. Das wäre gleichbedeutend mit der Ausgabe seiner Earriere. Die Verlobung mit einer vornehmen jungen Dame, die überdies die einzige Tochter eines hohen Vorgesetzten von ihm ist, läßt sich nicht so einfach rückgängig machen. Schlag ihn dir aus dem Sinn, Anna! Entweder hat er dich überhaupt nie lieb gehabt oder er ist ein ganz ordinärer Streber, dem! Geld und Titel und Aeußcrlichkeiten mehr als die wahre Neigung eines warmherzigen Mädchens gelten. . . ." »Ich sage dir, die Sache geht zurück! Er soll mich kennen lernen! Ich werde mit ihm reden. Auge in Auge soll er mir Rede stehen. Ich will . . . Ich werde . .. Gleich geh' ich zu ihm!" Sie sprang ans und riß ihre Jacke vom Garderobe ständer. Thyra suchte sie zu beschwichtigen und sie zum Verweilen zu bewegen, aber Anna ließ sich nicht halten. „Vielleicht kannst du mir einen Gasthof nachweisen, wo ich bleiben kann " Thyra besann sich ein Weilchen; dann fiel ihr ein, daß in der Köthener Straße ein Heim für Mädchen und Frauen gebildeter Stände war. Dorthin wollte sie Anna bringen. Äas Gepäck wurde heruntergeschafft, eine Droschke her- beigerufen, und dann fuhren beide der Köthener Straße zu. Anna sprach kein Wort; eine gewaltige Erregung hatte sich augenscheinlich ihrer bemächtigt. Hin und wieder rang sich ein pfeifender, keuchender Atemzug durch ihre fcstgeschlvssenen Lippen. Sic litt an einem chronischen Bronchialkatarrh, der zeitweilig, wenn sic erkältet war, oder sich aufgeregt hatte, beängstigende asthmatische Zu fälle hervorrief. Auch jetzt; unter der etwas engen, blauen Donblejackc arbeitete die Brust wie eine Dampfmaschine, die nicht mit genügender Ventilation versehen ist, und deren verschlossene Kraft nach gewaltsamem Ausbruch drängt Thnra hatte nicht viel Sympathien für die ehemalige Gespielin; Annas vulgäre Tenkungsweisc stieß sie ab, aber trotzdem suhlte sie ein inniges Mitleid mit dem augen scheinlich leidenden Mädchen. Dennoch wußte sie keinen Ausweg, und auch keinen Trost, der die bittere Ent täuschung der Armen lindern und ihr den harten Stachel nehmen konnte. Anna mußte mit sich selber fertig werden. Im „Heim" fand Anna bereitwillige Aufnahme. Für ganz geringen Pensionspreis erhielt sie ein hübsches, ge räumiges Zimmer, das allerdings noch zwei junge Mäd chen mit ihr teilten. Thyras Vorschlag, vorläufig bet ihr zu bleiben, wurde von Anna mit fast verletzender Schroff heit zurückgewiesen. „Tu mir den einen Gefallen ujnd mach' dich fort. Ich bin hundemüde und lege mich gleich nieder." „Versprich mir, daß du heute nichts Unternimmst, Anna! Schlaf erst mal ordentlich aus, und morgen wollen wir weiter überlegen. — Versprich mir " „Alles, was du willst. Sei nur still. Ich gehe jetzt gleich zu Bett." „Kommst du morgen zu mir?" ,Hch seh' mich morgen gleich nach einer Stelle um. Geh' doch nur." Thyra war keineswegs überzeugt, daß Anna nicht doch noch irgend eine Dummheit beging; aber schließlich konnte sie dem Mädchen ebensowenig ihre Ratschläge wie ihre Gegenwart aufdrängen. Annas unhöfliche Art nahm sie ihr nicht übel. „Tu kommst also?" „Ja, ja. Morgen oder übermorgen." „Dann adieu, Anna!" „Adieu!" In Wirklichkeit dachte Anna nicht daran, ihrem durch die lange Eisenbahnfahrt, die schlaflose Nacht und die Auf regung vollständig erschöpften Körper irgendwelche Kon zessionen zu machen. Als Thyra fort war, ging sie eifrig daran, Toilette zu machen. An Stelle des Reisekleides zog sic einen schwarzen Nock und eine hellrote Bluse an; vor dem Spiegel brauste sie sich die Stirnlöckchen, steckte das Haar sorgfältig ans, tupfte mit einem Wattebänschchcn etwas Neisvuder auf ihr erhitztes Gesicht. Darauf nahm sie einen mit Federn und Band geschmückten Hut und ein neues Winterkape aus dem Reisekorb, legte die Sachen an und verließ das Haus. An der nächsten Ecke nahm sie eine Droschke. Nach einer zehn Minuten langen Fahrt hielt der Wagen am Ziel; vor dem Hause, in dessen zweitem Stock Bahne Lüpsen wohnte. Sehr langsam, »in nicht wehr außer Atem zu kommen, stieg sie Stufe für Stufe die Treppen hinan. An der Tür -er Etagcnwohnung blieb sie einen Augenblick stehen, bevor sie kräftig auf den Schellenknopf drückte. Eine Weile verging, dann wurde die Tür von innen ein Stück geöffnet. Bor der Schwelle erschien des Leut- nants Bursche. ,;Sie wünschen, Fräulein?" „Machen Sie auf. Ich will zum Herrn Leutnant", sagte Anna kurz, und suchte hineinzudringen, was ihr — da die Kette von innen vorlag — aber nicht gelang. „Man sachte, Fräuleinchen?" grinste der junge Mensch. ,Herr Leutnant sind nicht zu Hause." „Wo ist er denn? Ich mutz ihn sprechen. Zum Deibel, machen Sie doch auf, Sie Maulaffe! Ich werde Sie nicht fressen. Ich will auf den Leutnant warten!" „Pst ... Pst! Würde Ihnen die Zeit lang werden, schönes Fräulein. Herr Leutnant sind bei der gnädigen Fräulein Braut und Ercellcnz Schwiegervater zu Tisch. Kommt sobald nicht zurück." „Wo ist das?" ,Zöo? Bei General von Wiese, Wilhelmstratze. Wollten Fräulein etwa den Herrn Leutnant besuchen?" Anna gab statt der Antwort der Tür einen Fußtritt, daß sie krachend ins Schloß fiel. Also bei der Braut. ... So fo. Sie wußte nicht, wie sie die Treppe hinabkam; eine ungeheure Witt kochte in ihr. Vielleicht eine Stunde lang irrte sie planlos durch die Straßen. Das ungewohnte, laute, bunte, wogende Leben der grotzen Stadt machte ihr nicht den geringsten Eindruck und schließlich merkte sie es kaum, daß der Menschenstrom an ihr vorüber verrann Md sie plötzlich in den einsamen Wegen des Tiergartens wanderte. Warum hatte Bahne ihr daS angetan! Soweit ihre oberflächliche Natur überhaupt eines tieferen Gefühls fähig war, lieble sie den Jugendfreund aufrichtig. Erst in zweiter Linie kam der ^Gedanke an die glänzende Zu- kunft, die sic sich an seiner Seite, als seine Gattin, erträumt hatte. Und damit sollte nun plötzlich alles aus und vorbei sein, bloß, weil sich ein fremdes Mädchen zwischen Bahne und sie gedrängt batte, und nun ihre Stelle, di- ihr von Gott und Rechtswegen gehört«, einnehmen wollte? War das reckt? War da» eine Ordnung? Seitdem Bahne au- Altstad» fort war, hatte sie ja über die Heirat nicht mehr gesprochen, weil die dock, noch in weitem Felde lag. Aber das war doch selbstverständlich. Oder weshalb sonst schreibt man einem anständigen Mädel Liebesbriefe, be- stellt ihm Stelldicheins, verkützt es und hält es lieb. .. .?
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