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Riesaer Tageblatt und Anzeiger : 10.10.1922
- Erscheinungsdatum
- 1922-10-10
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1666408611-192210108
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1666408611-19221010
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1666408611-19221010
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungRiesaer Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1922
- Monat1922-10
- Tag1922-10-10
- Monat1922-10
- Jahr1922
- Titel
- Riesaer Tageblatt und Anzeiger : 10.10.1922
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S87. Vettsge zum «iesaer Tageblatt. Dienstag, IV. Oktober IVA», aveuvs» ?s. Myrg. Schwierigkeit-« Der «Scktrttt Asyd Genr-e- wtrtz gefsrdert. Wie die Londoner Blätter melden, hat der National Joint Council, der gestern zusammengetreten ist, um die Krise im Nahen Osten zu besprechen, eine Entschließ»«« an genommen, in der der «nverzttgliche Rücktritt der Regierung und die Wahl eines neue« Parlaments gefordert wird. Der politische Berichterstatter des „Vbserver" schreibt, Lloyd Georges Ansehen im Aus- und Anland sei für den Augenblick vernichtet durch den endgültigen Fehlschlag in seiner Ostpolitik, die die Türkei und Rußland zur gleichen Zeit herauSforberte und von dem ganzen übrigen Europa im Stiche gelassen wurde. Wenn Lloyd George am Ruder bleiben würbe, so würde dies seine Macht beträchtlich ver mindern und er könnte nur eine untergeordnete Nolle spielen. Dies sei die Ansicht der großen Mehrheit des Landes, der Unionisten, der Arbeiterpartei und des größten Teil» der Liberalen. Unter den Unionisten aller Schattie rungen herrsche setzt der allgemeine Wunsch, die Koalition in der jetzigen Art zu beenden und von den Koalitions liberalen „getrennt zu marschieren", selbst wenn beschlossen werden sollte, „vereint zu schlagen". Die Unionisten wollten nicht, daß Lloyd George in irgendeiner Weise als ihr Führer erscheine. Niemand erwarte, daß Lloyd George nach den Neuwahlen Premierminister bleibe. Unter diesen Umständen würbe eS besser für den Premier selbst sein, wenn er jetzt gehe. Dem Berichterstatter zufolge wirb angenommen, daß, falls Lloyd George vor der Abhaltung der Neuwahlen zurücktreten sollte, Chamberlain aufgefordert werden würde, die Regierung zu übernehmen. Die Tatsache, baß der „Observer", der bisher zu den treuesten Anhängern des Premierministers gehörte, den Rücktritt Lloyd Georges fordert, wird in der übrigen Presse sehr beachtet. „Times" dagegen, die bisher die Politik der Regierung zum Teil in sehr scharfer Form bekämpfte, schreibt heute in einem Leitartikel, die kritische Lage, in die ein Fehler der Regierung als Ganzes das Land gebracht habe, berechtige noch nicht zu der Forderung eines unver züglichen Rücktritts einzelner Minister vom Amt. „Times" schreibt außerdem, von neuem habe Lord Curzon eine Mei nungsverschiedenheit zwischen der britischen und der fran zösischen Regierung in der Orientpolitik verhindert. Für diesen Erfolg gebühre ihm -er Dank der Nation und des Reichs. „Westminster Gazette" sagt, natürlich werde ein Tag der Abrechnung zwischen dem britischen Volke und seiner Regierung kommen. Inzwischen müßten erst die endgültigen Stadien der Krise durchgangen werben, und es sei die Neigung des britischen Volkes, so tief auch sein Miß trauen gegenüber der Regierung sei, diese endgültigen Stadien nicht noch schwiriger zu gestalten. Reuter meldet aus London: Montag vormittag wurde unter dem Vorsitz von Lloyd George eine Kabinettssitznng abgehalten. Lord Curzon erstattete Bericht über die letzte Konferenz in Paris betr. die Fragen des Nahen Ostens. Nach Ansicht der „Times" hat sich die Lage im Nahen Osten gebessert, desgleichen das Verhältnis zwischen London und Paris. Die Verhandlungen in Mudania. Die Agence Havas teilt offiziös mit, die vorgestrige neue Unterbrechung der von den alliierten Generalen in Mudania geführten Unterhandlungen sei darauf zurückzu führen, daß die ihnen gegebenen Weisungen hinsichtlich -er neutrale« Zone und der Stärke der türkischen Gendarmerie für Thrazien nicht bestimmt genug lauteten. Ueber diese Punkte sei aber Sonntag vormittag in Paris zwischen den Mitarbeitern Lord Curzons und ihren Kollegen am Quai d'Orsay verhandelt worden. Schließlich sei man überein gekommen, daß eine verkleinerte neutrale Zone eingerichtet werde. Diese solle Tschanak umfassen, wo die englischen Truppen bleiben würden, während die übrigen Punkte am astatischen Ufer der Meerengen, wo sich die türkischen Ab teilungen festgesetzt hätten, außerhalb der neutralen Zone blieben. Ferner sei man in Paris und London durchaus einer Meinung darüber, daß die Stärke der türkischen Gendarmerie, die nach Thrazien gelassen werden solle, dem Polizeicharakter ihrer Mission entsprechend beschränkt wer den solle. Es erscheine jedoch wegen der unsicheren Lage in Thrazien nötig, ihre Zahl schon jetzt festzusetzen, ohne die türkischen Behörden zu Rate zu ziehen. Diese bestimmten Vereinbarungen, fügt die Agence Havas hinzu, müßten -en alliierten Oberkommissaren in Konstantinopel bereits tele graphisch zugegangen sein, sodaß die Verhandlungen in Mudania Montag vormittag hätten wieder ausgenommen «erben können. Die Verletzung der neutrale« Zone. Reuter mel-et vom Sonntag: Die Türke« haben die neutrale Zone bet Jsmib verletzt. Eine Division hat die Iarembjikltnie überschritten und Karajacoej besetzt, wäh rend Kavallerie bis Schtle an -er Küste des Schwarzen Meere- vorgedrungen ist. Diese Truppenbewegungen sind ein Bruch des Versprechens, zwecks Vermeidung eines Zwischenfalls alle Bewegungen zu unterlassen. Di« fran zösischen und die italienischen Generale haben Ismet Pascha ein Schreiben des Generals Harrington überreicht, in dem auf den ernsten Charakter dieses Bruches des Versprechens Kemals und der positiven Zusage Ismets hingewiesen und erklärt wird, daß die Verantwortung für die Verletzung der neutralen Zone auf Seiten der Türken liege, baß die britischen Truppen größte Nachsicht an den Tag gelegt hätten und daß im übrigen die Mächte jetzt zugestimmt hätten, die Besetzung Thraziens durch die türkische Gendarmerie inner halb eines Monats zu gestatten, vorausgesetzt, daß sich die Türken auf die neutrale Zone zurückziehen. Infolgedessen ersuchte General Harrington Ismet, die türkischen Streit kräfte -urückzuztehen, da sonst die Folgen aus die Natio nalisten fallen würden. Der Agence HavaS zufolge verlautet, die türkischen Abs teilungen, die 1« geringer Stärke in die neutral« Zone in -er Gegen- von JSmid eingebrungen waren, seien wahr scheinlich infolge eines Irrtums vorgegangen, da sie durch daS türkische Kommando, sobald dieses davon in Kenntnis gefetzt war, zurückgezogen worden seien. Nach dem „Temps" handelt eS sich um drei Abteilungen, von denen zwei zurück gegangen feien? man nehme an, daß auch die dritte sich ent weder schon zurückgezogen habe oder es noch tun werde. Reuter meldet, einem Telegramm aus Souftantiuopel zufolge hätten einzelne Türken zahlreiche Christen a«S den asiatischen Vorstädten von Konstantinopel verhaftet. „Man erwarte, daß die Alliierten bei der Konstantinopler Regie- rung unverzüglich Vorstellungen erheben werben. Ein russischer Protest. „Times" meldet auS Riga, daß einem Bericht von zu verlässiger Sette zufolge der BollzngSausschuß der Sowjet« regieruug den Gowjetvertreter in Angora, Avalow, ange wiesen hat, der dortigen Regierung mttzuteilen, daß jedes Nsbgretnkomweu zwilchen den Kemalisten. Großbritannien Lloyd Georges. und den anderen Mächten über die Dardanellen, bas ohne Rußlands Kenntnis abgeschlossen wird, als eine Verletzung des russisch-türkischen Kars-AbkommenS angesehen und zu den ernstesten Folgen führen werbe. Das neue Veamtenrecht. Unter dem Vorsitz des Staatsministers a. D. Dr. Drews wurden gestern die Vorverhandlungen über den Gesetzent wurf eines neue« Beamtenrechtö zu Ende geführt. Be züglich der Eidesleistung einigte man sich dahin, daß der Beamte, der sich weigert, den Eid auf die Republik zu leisten, durch Spruch der Disztplinarkammer aus dem Amt entfernt werden kann. Die Bestimmungen über Amtsver schwiegenheit, Nebenbeschäftigung und Annahme von l^ld geschenken sollen im wesentlichen erhalten bleiben. Hin sichtlich des Streikrechts setzte Dr. Drews auseinander, daß dieses Recht den öffentlich-rechtlichen Beamten in keiner Form gegeben werden könne. Seine Ausführungen fanden die Zustimmung der Mehrheit. Eine Minderheit, besonders die Vertreter des Allgemeinen Deutschen Beamtenbundes, verlangte das Streikrccht für die Beamten wie für jeden andern Arbeitnehmer. Es wurden darauf verschiedene Vor schläge zur Schaffung einer Schlichtungsstelle beraten,- u. a. wurde ein parlamentarischer Schlichtungsausschuß erwogen. Bezüglich des Rechts der Einsichtnahme in die Personalakten einigte sich die Konferenz dahin, baß dem Beamten die Ein sicht in seine Personalakten gestattet werden soll. Hinsicht lich der Haftung der Beamten wurde allgemein der Wunsch geäußert, daß der Beamte dem Geschädigten gegenüber nicht haftbar sein soll, daß vielmehr Staat oder Gemeinde haftbar bleiben. — Die Ergebnisse der Konferenz werden in einem Gesetzentwurf zusammengcfaßt werden, der dem Neichsrat und dem Reichstage zugehen soll. Die ReichsprSfidentenwahs. Wie das „Berl. Tagebl." hört, haben in Konstanz die Vertreter der NegierunaSparteien mit Dr. Wirth über die Bildung eines überparteiischenNnSschusieS für dieKandidatur Ebert zum Reichspräsidenten Rücksprache genommen. Man kam den Blättern zufolge zu einem Einvernehmen und nahm darauf mit der Deutschen Volksvartei Fühlung. Wie der „Berl. Lokalanz." meldet, schweben in rechtS- stehende« Kreisen Verhandlungen über die Aufstellung eines gemeinsame» Kandidaten für die bevorstehende Reichs präsidentenwahl. Eine Korrespondenz will dagegen wißen, daß bei den Verhandlungen zwischen den Führern der Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei eine Einigung dahin erzielt worden sei, daß die Deutsche Volks- Partei sich verpflichtet habe, ihre Bemühungen, Zentrum und Demokraten zur Aufstellung eines bürgerlichen Gegen kandidaten in Gemeinschaft mit den andern bürgerlichen Parteien zu veranlassen, mit allem Nachdruck fortzusetzen. Wenn Zentrum und Demokraten ein gemeinsames Vorgehen mit de« beiden Rechtsparteien ablehnen würden, dürste die Frage eines gemeinsamen Vorgehens der Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei akut werde». Gin neuer Zwischenfall in Oberkassel. Nach einer Meldung der „Deutschen All«. Ztg." aus Düsseldorf ist in der Nackt von Sonnabend zum Sonntag in Oberkafsel, das von Belgiern besetzt ist, ein deutscher Zivilist von einem belgischen Soldaten durch einen Hals- schuft lebensgefährlich verletzt worden. Hierzu wird noch aus Düsseldorf gemeldet: Bei der töd- lichew Verletzung eines deutschen Zivilisten durch einen bel gischen Soldaten in Oberkassel handelt es sich um Aus schreitungen betrunkener belgischer Marinesoldaten, die widerrechtlich in einen Saal eingedrungen waren, in dem ein Turnverein sein Stiftungsfest feierte. Der alarmierten Militärwache gelang es, einender Täter zu verhaften. Ein zweiter Fall vonAusschreitungen eines betrunkenen belgische» Soldären ereignete sich in der Nacht zum Montag in Ober kassel. Ein Artillerie-Sergeant zog auf der Straße seinen Säbel und wollte die vorübergehenden Personen erstechen. Einem deutschen Polizeibeamten gelang es, ihn zu ent waffnen. Fechenbachprozetz. Fechenbach gab am Freitag zu, daß er vom Herbst 1920 bis Februar 1922 Berichte an Garaas gab gegen eine monatliche Honorierung von anfangs 3000 M., später 4000, daß er im ganzen 40- bis 50 000 M. erhalten habe. Er habe sich selbst gefragt, ob es sich hierbei um ein Svionagebüro handelte, sei aber zu der Ueberzeugung gekommen, daß es eine einwandfreie Sache sei. Der Vor sitzende hielt Fechenbach vor, daß er sich politisch zur U.S.P. bekenne, die ja doch den deutschen Kapitalismus bekämpfe, während er andererseits Berichte für den englischen Groß kapitalismus geliefert habe. Am Sonnabend wurde die Verlesung und Besprechung der inkriminierten Artikel Fechenbachs fortgesetzt. Auch am Montag wurde die Verhandlung immer noch unter Ausschluß der Oeffentlichkeit mit Verlesung der Berichte Fechenbachs an Dr. GaraaS bezw. das Büro Transatlantik ausgefüllt. In seiner Verteidigung wiederholt Fechenbach immer wieder, daß er der Meinung gewesen sei und noch sei, das internationale Korrespondenzbüro sei kein Svionage büro. Mit seinen Berichten habe er der deutschen Republik gegen die reaktionären Umtriebe und Pläne auf Wieder aufrichtung der Monarchie dienen wollen. Auf einen Vor halt des Vorsitzenden, daß dies doch nicht auf dem Umweg über die ausländische Presse möglich sei, erwiderte der An geklagte, er habe auf diesem Wege die Reichsregierung zum Einschreiten gegen die reaktionären Umtriebe veranlassen wollen. Fechenbach hat über die verschiedenartigsten Vor kommnisse in Bayern berichtet. Das Rotterdamer Büro besaß u. a. auch ein Verzeichnis der bayerischen Regiments» und Offiziersoereinigungen. Im weiteren Verlaufe der Verhandlung wurde in die Behandlung der von Lempke an Gargasch gelieferten 23 Berichte eingetreten, von denen die Staatsanwaltschaft bei 15 die Anklage auirechterhalten hat. Lempke hat seine Mitarbeit an Gargasch selbst angeboten und für die Bericht erstattung im ganzen 10 000 M. erhalten. Die Bericht erstattung an Gargasch will er vollkommen objektiv aus gefaßt haben. Der Angeklagte erklärt, daß er England freundlich gesinnt sei und deshalb bähe er auch bei den Abmachungen nichts dabei gefunden. Bei seinem Bekannt werden mit Gargasch und Scopa in München wurde der Wunsch ausgesprochen, daß die politischen bayrischen Ver- haltniss, Gegenstand der Berichterstattung sein solle». Hätte er gewußt, daß die beiden keine Deutschen seien, Hätte er sich niemals mit ihnen eingelassen. Der Justizrat Bern- strin, der Verteidiger Lempkes, erhob den Vorwurf, daß das Gericht nicht wisse, was den Angeklagten zur Last gelegt werde. Der Vorsitzende wies den Vorwurf zurück mit der Begründung, daß ,s ein« schwere Beleidigung für das Gericht sei. M tm Wtkl „Mmm" «r krlMkW« Mr Mstl« ll „Ereignisse ««- Gestalte«". Mit Erlaubnis des Verlages K. F. Koehler in Leipzig. Oopzright 1922 bx tbs Kaolurs tl«»»»p»psr-8xo<iio»t». kadli- catiou »iiä 'Ir»arl»tioa rigkts rs«srvsä, iocluchog 8o»«6jn»vi«>, rvpra- äootioo io vkols or io pait vitkoi» psrmiisioo prokiditsä. Den interessanten Abschnitten über Bismarck und die Erwerbung Tsingtaus lassen wir heute die Schilderung eines mißglückten Versuches der Engländer folgen, 1912 die Novelle zum deutschen Flottengesetz zum Scheitern zu bringen. Ein weiterer Ausschnitt aus dem Kapitel „Kriegs ausbruch" wird am 19. bs. folgen. — Ende des Monats wirb die Buchausgabe des Werkes in allen Buchhandlungen zu haben sein. Ein politisches Manöver Englands. Das Jahr 1912 brachte in seiner ersten Hälfte die Sen dung Sir Ernest Cassel'ö mit einer Verbalnote, in welcher England seine Neutralität im Falle eines auf Deutschland erfolgenden „unprovozierten" Angriffes anbot, falls Deutschland auf eine Beschränkung seines Krtegsschtfß- baues und das versteckt angedeutete Fallenlassen seiner neuesten Marinevorlage ergehen würde. Infolge unserer entgegenkommenden Antwort wurde Lord Haldane mit den Verhandlungen betraut und nach Berlin entsandt. Dt« Verhandlungen scheiterten schließlich an der immer in. transigenter werdenden Haltung Englands iSir E. Grey), das zuletzt Lord Haldane desavouierte und seine eigene Verbalnote zurückzog, weil Grey befürchtete, durch ein deutsch-englisches Abkommen die Franzosen zu verletzen und das englisch-französisch-russische Einvernehmen zu gefährden. Im einzelnen war der Verlauf folgender: Am Vor mittag des 29. Januar 1912 ließ sich im Schloß zu Berlin Herr Ballin bei mir anmelden und um Audienz bitten. Ich nahm an, daß es sich um eine nachträgliche Geburtstags- gratulation handeln werde. Ich war daher nicht wenig er staunt. als Ballin nach kurzem Glückwunsch mir meldete, daß er als Abgesandter von Sir Ernest Cassel erschienen sei, der in besonderer Mission soeben in Berlin eingetroffen sei und um Empfang bäte. Ich fragte, ob es sich um eine politische Sendung handle, und, wenn das der Fall sei, warum nicht der englische Botschafter die Audienz vermittle. Aus Ballins Antwort ging hervor, daß die Angelegenheit nach Andeutungen Cassel's sehr wichtig zu sein scheine, die Umgehung des Botschafters aber dadurch zu erklären sei, daß man in London den besonderen Wunsch ausgesprochen habe, die amtlichen diplomatischen Stellen mit der Ange legenheit nicht zu befassen, weder die englischen noch di« deutschen. Ich erklärte mich zum sofortigen Empfang bereit, fügte aber hinzu, daß ich, falls Cassel's Auftrag auf Fragen der Politik Bezug haben sollte, als konstitutioneller Herr scher sogleich den Kanzler hinzuziehen würde, da ich nicht in der Lage sei, allein ohne den Kanzler mir dem Vertreter einer fremden Macht zu verhandeln. Ballin holte Cassel herbei, der mir ein Schriftstück über reichte, das mit „Billigung und Kenntnis der englischen Re gierung" aufgesetzt worden sei. Ich las den kleinen Bogen durch und erstaunte nicht wenig, als ich ein formelles Neu- tralitätsangebot für den Fall künftiger kriegerischer Ver wicklungen Deutschlands in den Händen hielt, abhängig ge macht von gewissen Beschränkungen aus dem Gebiete -eS Flottenbaues, die Gegenstand von gegenseitigen Besprechun gen und Vereinbarungen bilden sollten. Ich ging mit Ballin ins Nebenzimmer (Adjutanlenzimmer) und gab ihm das Schriftstück zu leien. Nachdem er das getan hatte, sagten wir a tempo „Eine Verbalnote!" Es war offenbar, daß sich diese „Verbalnote" aus die vorliegende Novelle zu unserem Flottengesetz bezog und be stimmt war, sie auf irgendeine Weile zu verzögern oder zu hintertreiben. Jedenfalls befand ich mich vor einer eigen tümlichen Situation, die auch Ballins Verwunderung er regte. Sie erinnerte mich an die Lage in Cronberg-Fried- richshof 1998, als ich das an mich persönlich gerichtete An sinnen des englischen Unterstaatssekretärs Hardinge, unseren Klottenbau einzustellen, zurückweisen mußte. Jetzt erschien ein intimer Geschäftsfreund Eduards VII, — ohne vorherige Anmeldung auf amtlichem diplomatischen Wege —' beim Deutschen Kaiser mit einer von der englischen Regierung inspirierten „Verbalnote", mit der ausdrücklichen In struktion, sämtliche diplomatischen Instanzen beider Länder zu umgehen. Er überreichte ein Angebot der englischen Re gierung, in kommenden kriegerischen Verwicklungen ihre Neutralität zu wahren gegen Abmachungen über Beschrän kungen in unserem Schiffbau. Und dies geschah seitens Englands, des Mutterlandes des „Konst/tutionalismuS"! Ballin sagte, als ich ihn hierauf hinwies. „Heiliger Kon- stitutionalismus! Wo hist du hin? Tas ist ja „personal politics, with a vengeance!" *) Ich einigte mich mit Ballin dahin, daß Herr v. Bethmann sofort zitiert werden müsse, um seinerseits sich zu informieren und zu dieser eigen tümlichen Lage Stellung zu nehmen. Telephonisch gerufen war Bethmann bald zur Stelle. Auch ihm verursachte die Situation zunächst ein gewisse- Erstaunen: es war interessant, sein Mienenspiel zu be obachten, als er orientiert wurde. Der Kanzler schlug vor, zur ressortmäßigen Erledigung auch den Staatssekretär deS Reichsmarineamts Admiral v Tirpitz hinzuzuziehen, und empfahl, in derselben Art und Form, wie die von Cassel überreichte Note, eine Antwort in englischer Sprache aufzu setzen und sie Sir Ernest mitzugeben, der abends wieder reisen wollte. (Englisch wurde gewählt, weil man Unklar heiten und Bkißverständnisse bei einer Uebersetzung in London befürchtete.) Der Kanzler bat mich, da ich am besten Englisch verstände, die Note aufzusetzen; nach einigem Sträuben mußte ich mich dazu entschließen, das Schreiber handwerk selbst zu versehen. Nun ergab sich folgendes Bild: Ich faß am Schreib tisch im Adjutantenzimmer, die Herren standen um mich herum. Ich las einen Satz aus der Note vor und entwarf eine Antwort, die wieder verlesen wurde. Darauf setzte die Kritik von rechts und von links ein. Dem einen war «S zu entgegenkommend, dem andern zu schroff; es wurde ge- modelt, umgegoffen, verbessert und gedrechselt. Besonders der Kanzler mit seiner philosophisch prüfenden, tief forschen- den Gründlichkeit, die jedes Wort aus die Goldwage legte, damit es von allen Seiten beleuchtet, nachher niemandem einen Anlaß zur Kritik bieten könnte, bereitet« mir manche grammatikalische und stilistische Pein. Nach stundenlanger Arbeit war der Guß endlich gelungen und wurde, nachdem die Note ein paarmal von Hand zu Hand gegangen und dann noch ein halbes Dutzend Mal von mir verlesen worden war, unterschrieben. Beim Auseinandergehen fragte der Kanzler Str Ernest noch, wer von England aus zu den Verhandlungen zu er warten sei. Cassel erwiderte, eS «»erde jedenfalls ein Mi- niste» gesandt werben, welcher, sei ihm nicht bekannt, vielleicht Mr. Winston Churchill, der jetzige Marinemtnister, da es sich ja um eine Marineangelegenheit handle. Dann vereinbarte der Kanzler noch mit ihm, daß der inoffiziell« ») «Das ist ja persönliche Politik in Höchst«! Pot««,!"
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