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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 04.12.1904
- Erscheinungsdatum
- 1904-12-04
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-190412043
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-19041204
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-19041204
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-12
- Tag1904-12-04
- Monat1904-12
- Jahr1904
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 04.12.1904
- Autor
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5. Beilane Sonntag, 4. Dezember 1904. Leipziger Tageblatt. Feuilleton. Der Jutrnlcnliändler. Eine Skizze von E. Fahrow. Der Rechtsanwalt Seedesen saß eines Sonntags vor mittags in seinem Wohnzimmer und freute sich, daß es Sonntag war. Vielleicht passierte es ihm doch cnrch ein- mal, daß andere Leute sich erinnerten, daß Sonntag sei, und daß selbst ein Nechtsamvalt zuweilen einen Ruhetag brauche. Aber nein — daS bekannte, hastige Klingeln ertönte, das schon immer einen unaufschiebbaren, ungewöhnlichen Fall anzuzcigen pflegte. — Herr Dr. Seedesen hatte langst eingcsehen, daß dieses Ungewöhnliche gewöhnlich etwas ganz Gewöhnliches war: aber er muhte auch, daß die Leute das niemals einsahen: folglich lieh er sie bn ihrer Meinung, daß sie alle auserlesene Opfer des Ge schickes seien und gar keine Verantwortung für all ihr Pech hätten. Heute indeh sollte ihm ein wirklich absonderlicher Fall vorgclegt werden. ES wird ihm nämlich jemand gemeldet, der absolut kein Wort Deutsch spreche. Nun war Dr. Seedesen der russischen Sprache mächtig und deshalb schon mehrfach als Dolmetscher in der Resi denz Noßhofen tätig gewesen. Er lieh also den Fremden eintreten, in Erlvartung. einen Russen zu sehen, der über irgend eine fabelhafte Erbschaft, ein Bergwerk oder einen Giftmord in der Gegend von Sibirien verhandeln wollte. Anstatt dessen trat ein Perser ein. Ein leibhaftiger, echter Perser mit blankgeschorenem Schädel, einer riesigen Fellmütze darauf und mit dem nationalen Kostüm bekleidet. „Guten Tag, Väterchen", sagte er auf russisch. „Guten Tag", erwiderte der Rechtsanwalt höflich in derselben Sprache, „womit kann ich dienen?" Es stellte sich nun heraus, dah der Perser zwar ziem lich verständlich russisch sprach, aber sonst nicht eine ein- zige Sprache auher persisch. Er konnte folglich auch kein Wort Deutsch, und es war keine kleine Mühe, um heraus- zubckommen, was der Mann wollte. Schließlich stellte sich folgendes heraus: Dieser Mann war Juwelcnhändlcr. Er hieh Rhizan. Er zog mit seinen Juwelen hausierend durch Europa, ohne eine einzige europäische Sprache auher russisch zu sprechen. Er trug seine Juwelen in einem Tuche als kleines Bündel bei sich! Als Seedesen soweit gekommen war, diese Tatsache zu begreifen, schlug er die Hände über dem Kopfe zusammen: „Mann!" rief er, „warum haben sie nicht erst noch irgend eine Sprache erlernt, französisch oder englisch?" „Nein", gestikulierte Rhizan, „dabei verliert man Zeit. — Zeit ist Geld!" „Sehr richtig. Aber wie haben Sie sich verständigen können?" „Wozu gab uns Allah einen Kopf und Hände?" „Na — zum Gestikulieren etwa? Also tveiter — wo haben Sie Ihr Bündel mit Juwelen?" „Weg! Gestohlen vielleicht!" „Ach du meine Güte! Wo?" „Weih ich's? Ich bin von München nach Ro^hofm gefahren" (diese beiden Städtenamen wußte Rhizan), „unterwegs mußte man aussteigen, einen anderen Zug abwarten. — Ich setzte mich auf eine Bank, trank ein GlaS Bier — wahrhaftig nur eins, Väterchen — ein Fremder setzte sich zu mir und sprach russisch mit mir. Nachher stieg ,ch in den angckommenen Zug, und nacheiner Weile entdeckte ich, dah ich mein Bündel vergessen lxstte. Ich versuchte, es den Menschen zu sagen, aber sie ver standen mich nicht. Wie die Station heißt, auf der ich das Bündel vergessen hatte, tvcih ich natürlich nicht. Wer kann diese deutschen Namen behalten!" Sprachlos laß Seedesen eine Weile da. So etwas tvar ihm denn doch noch nicht vorgckommen! Sollte ec das orientalischen Gleichmut nennen oder einfach Dumm- heit? Ter Perser hatte sein bräunliches Gesicht geneigt und starrte betrübt vor sich nieder. Er sah so bemitleidens wert aus, dah wieder einmal Dr. SeedensenS Herz wei.h wurde — was eine seiner unpraktischsten Eigenschaften war — und er beschloh, dem armen Menschen mit allen Kräften zu helfen. Natürlich würde er keinen pekuniären Nutzen davon lxaben, aber gleichviel — dieser Aermsie war ein Opfer nicht nur seiner Vergeßlichkeit, sondern seines orienta lischen Fatalismus geworden, denn selbst jetzt, da der Rechtsanwalt ihm sagte, daß er so gut wie gar keine Aus- sicht habe, die Juwelen wiedcrzuerlangen, zuckte er die Achseln und sagte gottergeben: „Wie Allah will!" Trotz genauester Fragen lieh sich aus dem Manne schlechterdings nicht der geringste Anhalt herausbringen, wo ungefähr sich jene Kreuzungsstation befunden habe, ja, er wußte nicht einmal, dah cs zwei Linien von Mim- chen nach Nohhofen gab, und welche er nun benützt hatte. Seufzend machte der Rechtsanwalt sich eine Wahr scheinlichkeitsrechnung zurecht: Ter Perser war am Abend vorher angekommen, hatte in irgend einem kleinen Gast hof übernachtet und war dann zur russischen Botschaft ge gangen, von wo man ihn zu Tr. Seedesen gewiesen hatte. Abends um 9 Uhr kam ein Zug von München an — wahrscheinlich hatte diesen der gute Rhizan benützt. Was blieb übrig, als persönlich mit dem Perser die Strecke abzufahren — vielleicht fiel ihm beim Anblick der Sta tionen die richtige ein! Soviel wußte er noch zu sagen, dah „ein schönes Mädchen mit gelbem Haar" ihm das Bier gebracht habe. Ter Fresiide, welcher sich mit ihm so fliehend russisch unterhalten l>abe, sei jung und sehr mager gewesen, auch habe er eine sehr spitze Nase gehabt. „Aha — Windhundphysiognomie!" sagte Dr. Scede- sen. „Er wird niit deinen Juwelen längst über alle Berge sein, mein Freund!" Ta noch um zwei Uhr ein guter Zug nach München ging, fuhr der Rechtsanwalt mit seinem Schützling so gleich ab. Er löste natürlich selbst die Fahrkarten, denn der unglückliche Perser lxrtte gerade von München aus ferne bisherigen Einnahmen in die Heimat gesandt und besah nur noch eine karge Barschast. In Augsburg sah nian cine blonde Kellnerin Han- tieren und der Perier sprang aus dem Abteil heraus, wie ein Pfeil in den Wartesaal schießend. Drinnen freilich zauderte er, denn die Kellnerin war zwar blond, aber »nicht mehr ganz Siebzehn. „Ich weiß nicht", murmelte er, „aber es ist möglich, dah es hier war. Es standen solche hölzerne Tische und Stühle herum. Ja, ich glaube, hier war cs." Tr. Seedesen begann also hier sein Kreuzverhör. Doch niemand hatte je den Perser vorher gesehen, und er war doch eine so auffallende Erscheinung — keinesfalls konnte man ihn sehen und in zwei Tagen vergessen." Offenbar war nicht Augsburg der Ort, wo das Bündel mit Juwelen liegen geblieben war. Zum Glück war aber wenigstens die Bahnlinie die richtige, denn ein Schaffner, der hier zu Hanse war und soeben den Dienst wieder antreten wollte, erkannte den Fremdling wieder. Das war ein Lichtstrahl! Er konnte erzählen, dah in Mm der Perser ausgestiegen sei, jeüensalls schon irrtüm- lich, denn der Zug, auf welchen er nun wartete, tvar em Bummelzug, während der schöne Schnellzug chm vor der Nase wegsuhr." „Aber dann müssen wir sofort umkehren!" rief der Rechtsanwalt. „Golt sei Dank, dah wir wenigstens den einen Lichtstrahl haben!" In seiner Herzensfreude zog Rhizan seinen Geld- beutel heraus, in dem er ebenfalls noch einige Juivelen aujbewahrte, und schenkte dem Sck)afjner einen klemen Türkis. Nun konnte man nach einer Stunde wieder bis Ulm zurückfahren, inzwischen aber war es Abend geworden, und dem Tr. Seedejen wirbelte schon der Kopf von der Anstrengung der Unterhaltung mit dem seltsamen Orien talen: dieser wußte wirklich mit seinen zehn Fingern mehr zu sagen, als andere mit der Zunge, aber vor Miß- Verständnissen war man dennoch nicht ganz sicher. In Ulm entsann man sich des Persers; doch sein Juwelenbündel — nein niemand hatte es bemerkt. „Ge stohlen!" rief schmerzerfüllt Rhizan. „Ich bin ein ge schlagener Mann!" Es war noch eine blitzgleiche Eingebung des Rechts' anwalts, in die Stadt zu gehen und dort Nachtquartier zu nehmen. Es war Sonntaa und alle Behörden und Läden waren geschlossen: doch am nächsten Morgen konnte man nachfragen — wer weiß — vielleicht war der Fremde auf die Idee gekommen, hier gleich einige von den kostbaren Steinen zu verkaufen? Tatsächlich war die Vermutung richtig. Ein Fremder hatte am Tage vorher alle Juweliere der Stadt besucht und Juwelen und Perlen zu einem lächerlichen Preise zum Kauf angeboten. Einer der Juweliere hatte den Mann als verdächtig beobachten und festnehmcn lassen wollen, und siehe da — dieser hatte den Beutel im Stich gelassen und ivar quer feldein geflüchtet, so rasch und so geschickt, daß man seine Spur völlig verloren hatte. „Tas Bündel ist da, es liegt auf der Polizei!" Diesen Bescheid bekam Rhizan von dem guten Rechtsanwalt, den er in: Gasthof, trüb sinnig vor sich hinbrütend, erwartet hatte. „Allah sei gelobt!" murmelte er, während er sich er- hob. „Ihr seid mein Lebensretter, Herr!" — Und er ging mit seinem Lebensretter auf die Polizei, erhielt sein Bündel zurück und wollte nun sofort abreisen. „Aber nach München." „Warum?" „Ich will in die Heimat. Ihr hatte Recht, Herr, man kann zu leicht bestohlen und betrogen werden, wenn man die Landessprache nicht kennt. Und ich bin zu ehr lich und vertrauensselig . . . ." „Ja, das hast du allerdings bewiesen, Freund! Nun, ich bin froh, daß ich dir helfen konnte! Reise mit Gott und sei glücklich." Der Perser nahm auS seinem Bündel einen aus- erwählten dunklen Saphir und reichte ihn dem Rechts- anwalt hin. „Nehmt das zum Tanke, Herr! — Nein, nein — Ihr kränkt mich, wenn Ihr Euch sträubt, nehmt den Stein, und Allah schütze Euch." — Fort dampfe Rhizan und eine Träne erglänzte noch in seinem Auge. — Dr. Seedesen hatte einige Stunden Zeit bis zum besten Zuge, und so ging er noch einmal in die Stadt zurück. Vor dem Laden des größten Juweliers blieb er stehen: da lagen geschmackvolle Sachen im Schaufenster — schließlich trat er ein und zeigte seinen Saphir: „Können Sie mir hieraus einen geschmackvollen Ring machen?" «kitt S1. Rr. 617. V8. Jahrgang. „Hm — ja — aber wollen Sie nicht lieber eine» echten Saphir nehmen?" „Was!?" „Ja — dies hier ist eine Imitation. — Ich sah am Sonnabend eine ganze Menge ähnlicher Imitationen — sie waren nicht schlecht — ein Mensch bot sie mir zum Kauf an, den ich natürlich fortschickte. — Er behauptete, es seien echte persische Edelsteine. . . „Oh Allah!" Weiter sagte Herr Rechtsanwalt Seedesen nichts. Das Aerngesühl der Blinden. Nur wenige unserer Eigcnsckfaften sind in den Krei sen der Wisscnsckxist noch so wenig bekannt als das Fern gefühl. Ich selbst erinnere mich noch gut, daß eS mir fast wie ein Märchen klang, als uns der Lehrer bei der Besprechung der Fledermaus mittcilte, daß dieses Tier, selbst wenn es erblindet sei, den Wäscheleinen und ähn lichen Hindernissen sehr wohl ausweichen könne, noch ehe es dieselben berührt habe. Ich hätte es damals sclmrerlich geglaubt, wenn der Lehrer behauptet hätte, daß jeder Mensch dieses Ferngefühl besitzt. Indes ein Jahr später, nach meiner Erblindung, konnte ich mich selbst davon überzeugen. Tennoch glaubte ich, daß es unserer Zeit des Maschinenwesens für die Wissensckxrft eine recht nütz- liche Ausgabe ist, besonders die von dem Vorhandensein dieses Sinnes zu überzeugen, welche sich oft selbst bei Tage in Räunien bewegen müssen, wo ihnen ihre Augen wenig nützen könilen. Terartige Untersuchungen anzu regen, soll der Hauptzweck dieses Artikels sein. 1) Wie äußert sich das Ferngefühl? Welcher Art die Empfindung eines Blinden ist, wenn er sich kein, Gehen plötzlich vor einem Hause oder Baum befindet, ist schwer zu sagen. Man möchte wohl sagen, er empfindet es wie eine Art Truck auf den oberen Teil seines Kopfes« Auf jeden Fall aber kommt es ihm vor, als wenn mit der Atmosphäre zwischen ihm und dem Gegenstände irgend eine Aenderung vor sich gegangen wäre. Und was mich vielleicht noch mehr überraschte, ich besaß es sofort in seinem vollen Umfange, hatte es mir also nicht etwa erst durch lange Uebung angecignet. Gerade dieser Um stand, daß man es erst nach der Erblindung, aber dann sofort in der vollen Stärke besitzt, scheint darauf hinzu deuten, daß man es wohl schon früher besessen, aber erst dann bemerkt hat, wenn man gezwungen ist, sich dessel ben zu bedienen. Freilich werden auch diese Tatsache die meisten sehenden unserer Leser ebenso bezweifeln, wie ich, als ich, kurz nach niciner Aufnahme in die Leipziger Blindenanstalt, eines Nachmittags allein im Garten derselben umherschritt. Plötzlich fühlte ich, daß etwas vor mir stand. Warum? Tas wußte ich nicht. Aber dennoch war es so. Ich hielt es für eine Einbildung, da ich ja nicht mehr die geringste Lichtempfänglichkeit hatte. Aber die Empfindung wurde stärker, sobald ich einen kleinen Schritt nach vorwärts machte. Endlich streckte ich die Hände aus, und — ergriff den Kletter mast. Es war also keine Täuschung gewesen. Ich er kundigte mich beim Abendessen bei meinen Kollegen und erfuhr, daß auch sie, ähnlich wie die erblindeten Fleder- mäuse, sich dieses Gefühles beim Gehen bedienten. Mit der Zeit entwickelte es sich natürlich noch ein wenig. Heute geh- ich in ganz Alt-Leipzig und zum Teil auch in den Vororten allein umher, brauche aber fast nie mit dem Stocke mich zu überzeugen, wo das Trottoir an der Straßenkreuzung zu Ende ist, da mir schon mein Fern gefühl sofort sagt, wenn die Häuserreihe zu Ende ist. Ich bin selbst imstande, eine geöffnete Haustüre von einem Torwege genau zu unterscheiden, ja selbst die HauSLüre von einer Ladcntüre, da mir mein Ferngefühl sagt, ob ich vor einem weiten Raum, einem engen, oder einen. lVlvlnS Ausstellung mr VniginslgvmSIrlv in Vvl unä Hqusnvtt von kes-vonnagvnElvn In rolodsr 6ro88«8 I^LFsr in überliLUpt Kursblättern »Her J.rt. — vack eixnen, xesedwLekvoUtzL KutErken. kreise konkurrenzlos Aukinerksarnste Leciienun§I dsünäst slod NugustuspIslL »o. 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