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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 08.11.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-11-08
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981108019
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898110801
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898110801
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-11
- Tag1898-11-08
- Monat1898-11
- Jahr1898
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Gröbere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und ZisfernsaK nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen.Ausgabe, ohne Postbesürderung 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-NuSgabe: Vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4 UhL Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an Lf. Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Pol» in Leipzls. Dienstag den 8. November 1898. 92. Jahrgang. Entstellungen. K Die Nachgefechte, die sich, wie herkömmlich, die preußischen Zeitungen nach den Landtagswahlen liefern, ver dienen deshalb einige Beachtung, weil der Theil der national- li beraten Blätter, der das Eingeben von Bündnissen mit dem rei sinn befürwortet hat, den Erfolg seiner „Politik" als einen solchen hinstellt, der „nach mehr" schmeckt. Dem gegen über muß festgestellt werden, daß die Verhinderung einer konservativen Mehrheit im Abgeordnetenbause, der angebliche oder wirkliche Zweck der neuartigen Gruppirungen, durchaus nicht durch diese erreicht worden ist. Die Signatur erhält das Wahlergebniß nicht von den konservativen, sondern von den sehr beträchtlichen nationalliberalen Verlusten. ES ist auf Verdunkelung der eigenen Tbaten berechnet, wenn die „National-Zeitung" schreibt: „Wir bezweifeln, daß cs auch nur einen einzigen nationalliberalen Politiker giebt, der es vorziehen würde, daß diese Verluste nicht eingetreten wären und dafür nunmehr im Abgeordnetenhause eine konservative Mehrheit Kerrsche." Das paßt nicht auf das Ergebniß, denn die eine Hälfte der Verluste ist den Nationalliberalen nominell vom Freisinn, tbatsächlich von der Socialdemokratie in Wahl kreisen beigebracht worden, wo die Conservativen nicht in Betracht kommen, und die andere Hälfte bedeutet einen — konservativen Gewinn. Es ist eine kühne Be hauptung, die Conservativen hätten durch freisinnigen Zu wachs auf nationalliberale Kosten und gar durch Erwerbung nationalliberaler Mandate für sich selbst Schaden gelitten. Die nationalliberal-freisinnigen Wahlbündnisse sind nicht die Ursache, daß die konservative Partei die Mehrheit nicht erlangt hat, sie haben vielmehr dazu beigetragen, daß in verschiedenen überwiegend ländlichen Wablkreisen die kon servativen den Sieg über die Nationalliberalen erlangten. So im Hannöverschen, wo unzweifelhaft die Landwirlhe eine begreifliche Abneigung zeigten, für ibre Partei in einem Augenblicke einzulreten, wo diese sich nicht unvermisckt mit dem — gelinde auSgedrückt — nicht landwirthschaftS- freundlichen Freisinn und dem famosen „Schutzverband gegen agrarische Uebergriffe" zeigte. Daß diese Vermischung nur in einzelnen Fällen eintrat und das alte „Cartell" weit häufiger als sie sich bemerkbar machte, war eine Tbatsache, deren Verschweigung man den Agitatoren des Bundes der Landwirlhe nicht sonderlich verübeln konnte. Anders aber steht eS, wenn nationalliberale Blätter nachträglich den Schein erwecken, als ob die nationalliberale Partei als solche ihr Urtheil über den Freisinn und die Möglichkeit, mit ihm ein dem Lande förderliches Zusammenwirken herbeizusühren, ge ändert hätte. Man hat diese Täuschung zu erwecken gesucht durch tendenziös aosgewählte Aeußerungen der vom national liberalen Eentralbureau herauSgegebenen „Mrtt Heilungen für die Vertrauensmänner der nationalliberalen Partei". Dort war allerdings zutreffend gesagt worden,! die Conservativen bätten im Osten den Höhepunkt ihrerI Machtstellung überschritten und die Gefahr einer conservativen Mehrheit werbe nicht so leicht wiederkebren. Die Wendung war aber nicht der Leistungsfähigkeit des Freisinns, sondern der Socialdemokratie zugeschrieben und deren Hervortreten als „die ganz andere Gefahr der Zukunft" bezeichnet werden. WaS darüber näher angeführt war, baben nationalliberale Zeitungen unterdrückt und dadurch der „Kreuzzeitung" den wahrscheinlich erwünschten Vorwand gegeben, die nationalliberale Gesammtpartei als im Lager der Berliner Politiker der Revanche für das Börsengesetz siebend zu denuncircn. Die „Mittbeilungen" hatten nämlich, beiläufig bemerkt, in voller llebereinstimmnng mit unserer Beurtheilung des Wahlergebnisses, noch dargethan: „Nicht aus eigener Kraft hat der Freisinn zurückgewonncn, was er ein Jahrzehnt und länger aus eigener Kraft inne gehabt hatte. Die Socialdemokratie hat es für gut befunden, die Probe darauf zu machen, was sie in Großstädten erreichen kann, je nachdem sie eigene Wahlmänner ausstellt oder freisinnige unterstützt; und wo letzteres geschehen, hat der Freisinn den greifbaren Vortheil, wo ersteres geschehen, die ebenso greifbare Blamage auf seiner Seite. In Breslau war er noch 1893 ganz allein auf sich angewiesen und schlug die Nationalliberalen und Conservativen mit 100 Stimmen Mehrheit. Jetzt sind ihm die Nationalliberalen hilfreich bei gesprungen und er ist dennoch um 60 Stimmen hinter dem konservativ-klerikalen Cartell zurückgeblieben. Tort haben die Socialdemokraten 90 eigene Wahlmänner durchgebracht und je nachdem es ihnen am 3. November beliebt, siegt oder unter liegt der Freisinn. In Altona marschirte die Socialdemokratie ebenfalls getrennt und erzielte 1Ü0 Wahlmänner, der Freisinn sank von 200 im Jahre 1888, bezw. ISO im Jahre 1893 jetzt aus 60 zurück! Also die eigene Kraft des Freisinns ist überall nach wie vor im Rückgang begriffen. Die Socialdemokratie ist es, die in Frankfurt, Tagen, Görlitz, Nordhausen u. a. O. in Hellen Hausen für die freisinnigen Wahlmänner eingetreten ist und in der dritten, zum Theil auch in der zweiten Abteilung die Ord- »ungsparteien überwältigt hat. Davon zieht, wie gesagt, der Freisinn zunächst und für dieses eine Mal den Nutzen. Aber die Social demokratie wird nun ihre verschiedenen Wahlersahrungen einer Prüfung unterwerfen und demnächst ihr weiteres Verfahren sestsetzen. Es müßte seltsam genug zugehen, wenn die Entschließung nicht dahin lauten würde, daß bei der nächsten Wahl auf der ganzen Linie nur eigene Wahlmänner aufgestellt werden. Um so mehr wird sich die Socialdemokratie hierzu ermuntert sühlen, als ja bis 1903 irgend eine Wahlresorm unter allen Umstünden zu Stande gekommen > sein muß und jede Reform den Antheil der unteren Steucrclassen lediglich wird verstärken können, — die Frage ist bekanntlich nur, 1 wie weit diese Verstärkung gehen soll." Aus dieser Betrachtung gebt deutlich hervor, daß eS die nationalliberale Partei verleumden heißt, wenn man ihr nach sagt, sie halte den Freisinn für bündnißsähig. Für die Illusionen einiger Prcßorgane, die, wenn sie auch im Lande erscheinen, ihre Parteipolitik auf dem Berliner Pflaster machen lassen, ist sie nicht verantworlich. Deutsches Reich. 6. II. Berlin, 7. November. (Allgemeiner Bau arbeit ercongreß.) Während Maurer, Zimmerer, Maler und die übrigen Bauarbeiter bisher für sich ibre Gewerk schaftskongresse abhielten, soll jetzt ein allgemeiner Bauarbeiter kongreß (Maurer, Maler, Ofensetzer, Stuckateure, Zimmerer und Bauhilfsarbeiter) slatlfinden. Alö Congrcßort ist Berlin bestimmt und die Dauer des Congresses vorläufig auf drei Tage (19.—21. März) bemessen. Dieser Plan ist um so be- achtenSwerther, je großer die Lohnbewegungen sind, welche die Bauarbeiter für das nächste Jahr (Lohnerhöhung, Herab setzung der Arbeitszeit womöglich auf 8 Stunden) in Aus sicht genommen haben. In diesem Jahre scheiterte die geplante Lohnbewegung daran, daß die verschiedenen Bau- arbeitcr-Classen uneinig waren und daher nicht geschlossen vergingen; das dürfte nun im nächsten Jahre anders werden, wenn der Congreß den Verlauf nimmt, den seine Veranstalter erwarten. Man wird eö dann mit einem geschlossenen Bauarbeiter-Ringe zu thun haben. Hoffentlich sehen sich die Arbeitgeber vor. Die Idee, einen großen Arbeitgeberverband für das ganze deutsche Reich zu schaffen, ist schon mehrfach aufgetaucht und in kleinem Kreise erörtert worben, aber dabei ist es geblieben. Unaus gesetzt betreiben dagegen schon jetzt alle Bauarbeiterclassen Sammlungen für die Streikfonds; die Maurcrstreiks sind selbstverständlich in diesem Jahre beendigt, trotzdem gingen in der. letzten Octoberwvche über 5000 für den Streik fonds oer Maurer ein. /?. Berlin, 7. November. (Amtliche Auskunft über Stellungen im AuSlande.) Die ärztlichen StandeS- vereine in Berlin haben den Reichskanzler gebeten, durch Vermittelung der ausländischen Consulate unv Gesandtschaften den Nachweis von ärztlichen Stellungen im Aus lande einrichten zu lassen. So wohlwollend man auch ins besondere mit Rücksicht aus die Uebersüllung des ärztlichen Berufes in Deutschland dem von den Standesvereinen aus gesprochenen Wunsche gegenüberstehen mag, so ergeben sich Loch manche Bedenken. Erstens nämlich würde das Aus wärtige Amt durch die amtliche Angabe geeigneter Stellungen eine gewisse Verantwortlichkeit dafür über nehmen, daß die Stellungen auch von Aerzten besetzt werden, die in ihrer Führung und in ihrer beruf lichen Tüchtigkeit zur Förderung des Ansehens des deutschen Namens im Auslande beitragen. Nun würden sich doch in erster Reihe um solche Stellungen im Aus- ande nicht ältere A-rzte bewerben, die meist ver- heirathet sind und bei denen wenigstens die Präsumption dafür spricht, daß sie in Deutschland bereits eine leidlich aus kömmliche Praxis baben, sondern junge Aerzte, womöglich solche, die erst vor ganz kurzer Frist ihr Staatsexamen bestanden haben. Ob solche junge Aerzte, die vorwiegend eine theoretische Ausbildung erhalten und nur wenig praktische Erfahrung gesammelt haben, im Auslande den richtigen Be griff von dem Stande ter ärztlichen Kunst in Deutschland erwecken würden, ist doch nicht über allen Zweifel erhaben. Zweitens aber fragt es sich, ob es billig wäre, wenn nur den Aerzten der zweifellose Vortheil einer amtlichen Auskunft über Stellungen, die Aussicht auf Existenz bieten, zu Statten käme. Eö giebt auch andere Berufe, in denen eine Ueber süllung vorhanden ist, z. B. den Lehrerstand. Es sei weiter bemerkt, daß der amtliche Nachweis von geeigneten Stellungen für deutsche Kaufleute, sei es in selbstständiger Stellung, sei es als Angestellte, dem Mntterlande vielleicht nützlicher werden könnte, als der Nachweis von Stellungen lediglich für akademisch Gebildete. Das Princip, das dem Wunsche der ärztlichen Standesvereine zu Grunde liegt, ist gewiß zu loben, aber es müßte billigerweise beträchtlich erweitert werden. Und dann würde wieder die Frage zu erwägen sein, ob die vorhandenen amtlichen Organe im Auslande zu ihren sonstigen Arbeitspflichten noch eine so erhebliche neue Aufgabe hinzu übernehmen könnten. Berlin, 7. November. Bezüglich desBundeS der Landwirke baben die Landtagswahlen dasselbe Resultat ergeben, wie die Wahlen zum Reichstag. Wohl ist es der bündlerischen Agitation gelungen, zwei der nordhannvverschen nationalliberalen Wahlkreise in freiconservatwen Besitz hinüber zuführen , dagegen sind alle Versuche seklgeschlaacn, die nationalliberalen Lanrwirthe, denen die Schoos und Hahn das Vertrauen der hannöverschen Landbevölkerung aberkannt hatten, zu verdrängen. Drei reine Bunbescandidaten, darunter die Herren Schoos und Halm, den der national liberale Abgeordnete Sieg so vortrefflich charakterisiere — daS ist das Ergebniß. Um diesen Zusammenbruch zu ver schleiern, wird das bekannte Manöver von den Reichstags wahlen noch einmal versucht. Damals hatte man auch einen „großen Erfolg" errungen und genau 130 Abgeordnete zur Hand, die auf „alle Hauptforderungen des Bundes" „eingc- schworen waren", diesmal sind eS gar 220 Abgeordnete. Und „somit verfügt (!) der Bund der Landwirlhe im Abge ordnetenhause über eine sichere Mehrheit und zwar abgesehen vom Centrum". Wir bedauern, auch in diesen Freudenbecher einen dicken WermuthStropfen werfen zu müssen. Kein einziger nationalliberalerAbgeordneter ist eineVerpflichtung eingegangen, I die ihn irgendwie in ein Abhängigkeitsverhältniß zur Leitung I oeS Bundes bringt oder ihn in irgend einer Weise bindert, < zu den Aufgaben, welche künftig der preußischen Landes- Die ersten Versuche mit der Pockenimpfung. (Aus den Lebenserinnerungen einer Danzigerin.) Nachdruck verboten. Es war in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als in Deutschland die ersten Versuche gemacht wurden, durch Einimpfung des Pockengiftes den menschlichen Körper gegen die furchtbare Krankheit widerstandsfähig zu machen. Einer der Muthigsten und Einsichtigsten, die an den Erfolg dieser sonst nur Furcht «inflößenden Cur glaubten, war der Danziger Bürger Trosiener, der Vater der später so viel genannten Johanna Schopenhauer, deren bis in ihre früheste Kindheit zurückgreifen den Lebenserinnerungen (durch ihre Tochter 1839 bei George Westermann, Braunschweig, veröffentlicht) wir auch die nach folgende Schilderung der Art, wie an ihr und ihren Schwestern die Impfung vorgenommen wurde, entlehnen. Nachdem sie an den damals Danzig beherrschenden Widerwillen gegen alle Neuerungen erinnert hat, fährt die Schreiberin fort: „Die heil samste Erfindung des achtzehnten Jahrhunderts, die wohlkhätige Erhalten» des Lebens zahlloser Kinder, die Inokulation der Blattern, war besonders ein Gegenstand des allgemeinen Wider willens, gegen den alle Stimmen sich erhoben. Vergebens ging das Lob derselben mittels der Zeitungen wie ein Lauffeuer durch halb Europa. Auf viele, viel« Meilen weit ringsum Danzig dachte Niemand auch nur auf das Entfernteste daran, rin solches gottversuchendes, vorwitziges und frevelhaftes Wage stück zu unternehmen, wofür eS von eifrigen Zeloten überlaut, sogar mitunter öffentlich von der Kanzel herab erklärt ward. Nur genaueste Bekanntschaft mit 'dem finsteren Geist jener noch immer dunklen Zeit kann den Muth meines Vaters gehörig würdigen lasten, mit dem er, sobald er von der Wahrheit der im südlichen Europa schon seit mehreren Jahren gemachten günstigen Erfahrungen sich überzeugt hatte, in seinem Innern beschloß, allem auf ihn einstürmenden Widerspruch Trotz zu bieten und die erst« Gelegenheit, die sich ihm bieten würde, zu benützen, um seinen zagenden Mitbürgern zum Beispiel di« drei ältesten seiner geliebten Töchter der neuen Cur zu unterwerfen, und im Bewußt sein seiner redlichen Absicht den Erfolg mit ergebenem Gemiith Gott anheim zu stellen." Johanna weist nun darauf hin, daß immer nur von der Einimpfung der wirklichen Menschenblattern die Rede sein konnte. Die allgemeine Verbreitung von Doctor Jenner'S wundergleicher Entdeckung, der jede Idee von Gefahr beseitigenden Schutz blattern war erst mehr als dreißig Jahre später unserem er findungsreichen neunzehnten Jahrhundert Vorbehalten. DeS Weiteren entwirft sie ein sehr drastisches Bild von den damaligen Aerzten, die „allesammt und sonder» uralt, in vorgefaßten Meinungen ergraut waren. Ob sie jemals jung gewesen, wo sie gelebt, wa» sie gethan, so lange sie es waren, weiß ich nicht, kann aber mit Wahrheit versichern, daß ich während der ersten zehn -t» vierzehn Jahre meine» Leben» keinen jungen Arzt jemal» gesehen, von keinem etwas vernommen, ja nicht einmal einen habe nennen gehört", so leitet sie ihre originelle Schilderung ein. Daß Herr Trosiener mit solchen Aerzten seinen Entschluß nicht leicht hätte bewerkstelligen können, liegt auf der Hand, und vielleicht wäre sein Plan doch noch daran gescheitert, wenn nicht gerade zu jener Zeit in Danzig ein fremder Arzt aufgetaucht wäre, der schon durch sein Aeußeres, er war jünger, in mittleren Jahren und modern gekleidet im dunkelfarbigen Rock, sogar mit eigenem frisirten Haar und einem Zopf, damals noch eine seltene Erscheinung, einen Gegensatz gegen seine alten Kollegen bildete. Die Verbreitung der Blatterninokulation war der Hauptzweck seiner Reise. Er gehörte, wie die Schopenhauer sagt, zu den damals eben Mode werdenden Aerzten, die mit der ausgesprochensten Verachtung aller gesellschaftlichen Anstands regeln, einer an rücksichtslose Grobheit grenzenden Einfachheit des Betragens sich befleißigten, und gerade dadurch, vermutlich wegen des Contrastes mit dem Altgewohnten, das allgemeine Zu trauen sich erwarben, besonders bei den vornehmsten Damen, und selbst bei regierenden Fürsten in Ansehen standen. „Nun, Ihr Rangen? Könnt Ihr brav fressen?" war das erste Wort, das wir von dem neuen Doctor vernahmen, als wir, ich und meine Schwestern, ihm vorgestellt wurden. „Das sollt Ihr aber schön bleiben lasten, hungern müßt Ihr, hungern, daß Euch die Seele Pfeift", setzte er auf meine bejahende Antwort lachend hinzu und hielt leider Wort. Wassersuppe, Thee ohne Milch, Weißbrod, Zwieback und Johannisbeergrlö war die damals für unumgänglich nothwendig gehaltene vorbereitende Diät, der wir uns viele Tage lang unter werfen mußten, bis endlich der zur Ausführung des großen Wagestückes bestimmte Tag herankam. Die halbe Stadt war auf den Ausgang desselben gespannt und viele fromme Seelen nahmen ein großes Aergerniß daran. Die Umständlichkeit, mit der nun bei dem Aufsehen erregen den Acte zu Werke gegangen wurde, entsprach völlig der Neu heit des Verfahrens. Man höre nur den Bericht darüber: Unsere Eltern, wir drei unglückseligen Hauptpersonen, Doctor Wolf, Herr Nixius, unser Wundarzt Kasche, die Kinderfrau und unser Jungfermädchen (die damalige Bezeichnung für Jungfer) Florentine, das Alles wurde an einem recht unfreund lichen Apriltage in Kutschen verpackt und im abgelegensten Winkel der Stadt, mitten in einem sehr schmutzigen Huhnerhofe vor einem alten, ärmlich aussehenden Hause abgeladen, dessen Schwelle wir uns nicht nähern durften, aus Furcht, von den im vierten Stock liegenden Blatterkindern innerlich angesteckt zu werden, was Doctor Wolf für lebensgefährlich erklärte. Da saßen wir nun unter freiem Himmel, zitternd vor Kälte und Angst, umschnattert von Gänsen und Enten, umschnüffelt von neugierigen Ferkeln. Jeder von uns brachte Doctor Wolf mit einer in Blattereiter getauchten goldenen Nadel acht kleine Wunden bei, zwei an jeder Hand, zwischen Zeigefinger und Daumen, und zwei auf jedem Knie; daß wir dabei eine ziemliche Weile vor allen Leuten mit bloßen Knien dasitzen mußten, um das Gift eintrocknen zu lassen, war in dieser herben Stunde nicht das geringste meiner Leiden, indem ich diesen Theil der Operation für höchst unanständig hielt. Ueberhaupt wurde sie mit einer umständlichen Weitschweifig keit ausgeführt, von der man heut zu Tage sich kaum einen Be griff zu machen fähig ist. Zu jeder der acht kleinen Wunden, die wir erhielten, mußte neuer Eiter von den Blatterkranken geholt werden, folglich mußte Herr Nixius oierundzwanzigmal bis zum vierten Stock des baufälligen Hauses hinauf- und wieder herabklettern. In der Hausthüre nahm Florentine ihm die Nadel ab, um jeder durch ihn möglichen Gefahr der so gefürch teten inneren Ansteckung vorzubeugen. Florentine überreichte sie unserer einige Schritte weiter hinstehenden Kasche, von dieser erhielt sie, abermals in einiger Entfernung, unsere Mutter, die sie dann endlich dem Doctor Wolf übergab. Halb todt waren wir, oder glaubten es doch zu sein, als wir von dieser peinlich quälenden Expedition zu Hause ankamen. Gern wären wir gleich zu Bette gegangen, doch daran war nicht zu denken; wir mußten spielen und lustig sein auf Befehl. Und so ging es von nun an alle Tage, spielen und spazieren laufen vom Morgen bis zum Abend, obgleich wir bei der mit größter Consequenz fortgesetzten mageren Diät endlich ganz von Kräften kamen. Doctor Wolf sah sich zuletzt genöthigt, uns etwas Bouillon reichen zu lassen, um nur die Blattern zum Ausbruch zu bringen, und von dem Augenblick an ging es meinen Schwestern vortrefflich; das gefürchtete Nebel schlich leicht und schonend an ihnen vorüber, ohne die geringste Spur zu hinter lassen. Anders, ganz anders war es mit mir; über und über mit Blattern bedeckt fühlte ich mich sehr elend, und die unablässige, sogar etwas ängstliche Sorgfalt, die Doctor Wolf mir widmete, verrieth, daß er meinen Zustand für nichts weniger als gefahrlos ansah. Eine Blatter, die auf einem meiner Äugen sich bilden wollte und mich vielleicht blind gemacht hätte, verursachte ihm besonders große Sorge, doch gelang es seinem unablässigen Be mühen, sie im Entstehen zu zerstören. Zum Umsinken kraftlos, vermochte ich mich kaum auf den Füßen zu erhalten, und doch mußte ich den Tag über außer dem Bette bleiben. Glühend im heftigsten Fieber sank ich ermattet auf dem Fußboden zusammen, meiner Murter und Kasche wollte darüber das Herz brechen, doch Doctor Wolf riß mich empor, nahm mich auf den Arm und lief, bei Hitze und Kälte, bei Regen und Sonnenschein, die lange Brücke mit mir auf und ab. Fast bewußtlos hing ich still wie ein Lamm über der Schulter, während unter lautem Bedauern die uns begegnenden Leute uns nachsahen. Doch auch diese bösen Tage gingen vorüber; die Eur war glücklich vollbracht, Doctor Wolf ließ eine kurze Beschreibung des Verlaufs derselben drucken. Das Büchelchen ging von Hand zu Hand, alle unser« Bekannten besuchten unsere Eltern. Die, die nicht zu denselben gehörten, gingen wenigstens an unserem Hause vorüber, um mich und meine Schwestern frisch und gesund im Beischlage hcrumspielen zu sehen. Das Vorurtheil gegen die Inokulation hatte einen Stoß erlitten, der endlich als tödtlich sich bewies, und Doctor Wolf'S Glück war auf ewige Zeiten be gründet." Unser« Leser können aus dieser Schilderung, deren Zuver lässigkeit nicht anzuzweifeln ist, wieder einmal ersehen, wie die sogenannte gute alte Zeit doch viele» de» Besseren noch entbehrt hat. Die Verfasserin sagt mit Recht: wie schwer machte man sich damals noch das Leben, in allen und jeden seiner Obliegen heiten! Die zärtlichste Mutter wird jetzt gegen ihr« Bekannten höchstens erwähnen, daß sie am Morgen ihren Kindern die Schutz blattern einimpfen ließ; bei uns wurde an jenem Tage das ganze Haus in Alarm gesetzt! Da wir nun gerade bei den sittengeschichtlich werthvollen Lebenserinnerungender begabten Frau sind, wollen wir noch eines merkwürdigen Vorkommnisses aedenken, dessen sie in denselben ebenfalls Erwähnung thut, und das in seiner Seltsamkeit gewiß auch unsere Leser interessiren wird. Es war gelegentlich der Confirmation Johannas, als in Danzig drei Häuser einstürzten, wenige Augenblicke nachdem das junge Mädchen mit den Eltern auf dem Wege nach der Kirche daran vorübergefahren war. „Vielleicht", erzählt sie nun selbst, „war sogar die dadurch ver ursachte Erschütterung in dem engen Quergäßchen der letzte Stoß gewesen, der die sehr baufälligen Häuser niederwarf. Alle drei waren bewohnt, keiner der Einwohner hatte Zeit gehabt, der über seinem Haupte einbrechenden Gefahr zu entfliehen, sie lagen alle darunter, und über sie aufgethürmt lag das Grab der Zerstörung. Die Zahl der Verunglückten war bedeutend, die, meisten fanden den Tod, andere starben bald nach ihrer Be freiung, und nur sehr wenige Gerettete blieben am Leben. Tragikomischer Weise befand sich unter diesen der sehr schuldige Urheber des ganzen Unglücks, der Eigenthümer der ein gestürzten Häuser, dessen schmutziger Geiz, unerachtet aller an ihn ergangener Warnungen, ihn stets abgehalten hatte, auf die Erhaltung des baulichen Zustandes seines Eigenthums etwas zu verwenden. Der eigensinnige Zufall nun hatte es gewollt, daß sein Stuhl nebst dem kleinen vor demselben befindlichen Tischchen gerade auf dem einzigen Theil des Gemäuers stand, der unversehrt blieb, als Alles rings umher zusammenbrach. Ganz isolirt, hoch in der Luft, in Schlafrock und Nachtmütze, fast vor aller Welt Augen, die bebende, fast entgeisterte Jammergestalt des widrigen Greises, wie am Pranger, von keinen der rings um ihn her noch immer nachstllrzendcn Ziegel und Balken getroffen. Tief unter ihm tobte mit wildem Hohn ein wüthender Haufen, bereit, sobald er herunterkämr, auf seine Weise über ihn Gericht zu halten. Erst später, als der ganze Raum mit Wachen umstellt, und die müßig dastehenden Zuschauer entfernt worden waren, durfte man es wagen, den vor Angst halb todten Alten von seinem erhabenen Platz hinunter in Sicherheit zu bringen." Die Schreiberin schließt diese Schilderung mit der Frage: jener bleiche schuldbewußte Sünder dort oben auf dem wankenden Gemäuer — welch« Macht nahm ihn in Schutz und wachte über ihn, damit die um ihn herniederregnenden Steine ihn nicht die Haut verletzten, während um seines niedrigen Geizes willen so viele Unschuldige ihr Leben unter Höllenqualen aushauchen mußten? M. Uhse.
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