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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.11.1892
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1892-11-01
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18921101028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1892110102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1892110102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1892
- Monat1892-11
- Tag1892-11-01
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Noch gicbl es ein gemeinsames Bindeglied zwischen den streitenden Richtungen: das Evangelium selbst, das alle seine Ausleger vereint. Und hocherfrenlichcr Weise ist in die Wogen des Kampfes gestern von berufenster Seite jener Tropfen Oel gegossen worden, den Tausende erhofften und der wenigstens dazu beitragen wird, den Streit zu mildern und so zu mäßigen, daß die Hoffnung der Gegner herab- gestinimt und die gemeinsame Arbeit aller Evangelischen erleichtert wird. In der urkundlichen Aufzeichnung, die vom Kaiser verlesen und von ihm und den übrigen anwesen den Fürstlichkeiten, sowie von den Vertretern der abwesenden Fürsten und der freien Stätte eigenhändig unlcrzeichnel wurde, ist als heilige Pflicht aller Evangelischen Hebung christlicher Liebe, Duldung und Barmherzigkeit gegen die Mitbrüder bezeichnet und in seiner Tafclrede sprach der Kaiser mit erhobener Stimme: „Es giebl i» Glaubens sachen keinen Zwang. Hier entscheidet die freie Ueberzeugung deS Herzens, und die Erkcnnt- niß, daß sie allein entscheidet, ist die ge segnete Frucht der Reformation". Bon Seiten deS Kaisers darf man hiernach erwarten, daß er keine Zwangs maßregel sanctioniren wird, durch welche die Betbätigung der freien Ueberzeugung deS Herzens gehemmt werde» soll. Ten heißblütigsten Streitern wird hierdurch eine Mäßigung anf- erlegt, die nur die Feinde LeS Protestantismus zu beklagen, alle wahren Freunde desselben aber zu begrüßen Ursache haben. Wir wollen nur hoffen, daß di- Diplomatie, die schon manches verdorben bat, was das Schwert errungen, nicht auch durch fernere Liebäugclei mit dem UltramontaniSmus schädigt, waS der Kaiser als evangelischer Fürst mit hoher Einsicht und im Geiste der Besten seiner Ahnen gut zu machen versucht hat. Der Batican läßt etwas in Abrede stellen, was Niemand behauptet hat. Es geht also hiuler den Eoulissen etwas vor, was dem Einblick der Masse vorcnthaltcn werden soll. Ein englisches Blatt war cS, welches de» Schleier ein wenig ge lüftet und von Bcrhandlungcn gesprochen batte, die zwischen der Curie und der deutschen CentrumSpartei aus Anlaß der Militairvorlage geführt würden. Der Batican läßt »un bestreiten, daß er angegangeii worden sei, auf die Centrumspartei zu Gunsten der Militairvorlage Einfluß zu nehmen. Das sind himmelweit verschiedene Dinge. Unseres Erackitens bat die deutsche Staatslunst nicht die niindcstc Ursache, bei der Curie um eine solche Becinfluffung des Centrunis nachzusuchen. Die hohen geistlichen Würden träger in Preußen, denen jetzt der Cardinalslmt in Aussicht gestellt ist, haben dazu ebensowenig Anlaß. Tic weltliche» Führer der Centrumspartei, die einem Compromiß über die Militairvorlage geneigt sind, werden kauni auf Len Gedanken verfallen, sich von Rom aus eine Unterstützung zu erbitten. Tie leitenden Staatsmänner würden nickt nur das Ansehen des Reiches, sondern auch sich selbst in ihrer Position in un erhörter Weise schwächen, wenn sie den ikncn angesonncnen Schritt thäten. Die ZukunstScardinäle in Breslau, Köln und Posen hätten das Centruin und den ganzen niederen Klerus für immer gegen sich eingenommen. Die Cenlrums- leitung aber Ware ob dieses verwegenen taktischen Ercesses von vornherein verloren. Wer sonst sollte aber die Curie um eine solche Einflußnahme angehen? Also das glauben wir dem vaticanischen Ossicivsus aus's Wort, daß von außen her der Anstoß nirgends erfolgt ist. Wenn es jetzt in so auffälliger Weise demcntirt wird, muß aber damit doch etwas bezweckt sei», und die Bcrmuthnng liegt nahe, daß man im Batican unliebsam bemerkt, wie in Deutschland neuer dings wichtige Entscheidungen jener Art vorbereitet werden, bei denen die Curie im Iabre 1887 etwas mitzuredcn batte, wäkreud jetzt von allen Seiten ihre Mitwirkung um gangen wird. Das Dementi kann also ein Borwurs für Caprivi sein — cS wäre der erste Borwurs, den man in nationalen Kreisen des Reiches als Loberbebung empfinden müßte —, wie auch ein Borwurf sür das Cenlrum. Wahr scheinlich ist das vaticanischc Dementi nur im letzteren Sinne zu verstehen und würde dann auch wohl den Anfang einer vom Batican aus unternommenen Action bedeuten, die nicht mehr und nicht weniger bezweckte, als der Curie das im Jahre 1887 von ihr beanspruchte Mitwirkungsrecht bei Entschei dungen in niilitairischcn Fragen, die gleichzeitig Fragen der auswärtigen Politik sind, wieder zu reclaiinren. Man kann eben auch im Batieau sich „au die Einsamkeil nicht ge wöhnen", sondern muß überall die Finger im Spiele baden. In der That glauben wir aiinchmen zu dürfe», daß Berbaiidluiigcn zwischen Curie und CeiitrumSpartei im Gange sind, — das wird ja ausdrücklich nicht demcutirt, nur daß die Berbaiidluiigen von Rom aus eröffnet wurde», so unerwünscht dies de» Führern des Cclitrumö auch ge kommen sein mag. Auch kann es keinen Augenblick fraglich erscheine», in welcher Richtung die Berhandtungen nach dem Wunsche RomS sich bewegen, ja cS ist noch keineswegs aus geschlossen, daß Frhr. v. Huene dem „Einflüsse" Roms zuvor- kommcn wollte, als er anfangs Octobcr die unerwartete Schwenkung des Centrums aus der ganzen Linie veranlaßte und plötzlich die Partei auf die Schanze» der Opposition zurückrief, um die weitere „Einflußnahme" der vaticanischen Diplomatie gegenstandslos zu machen. Es besteht kaum ein Zweifel mehr, daß eö mit der Gesundheit des Papstes Leo XIII. ziemlich schlecht steht, mögen die vatikanischen und die daraus schöpfenden Blätter »och so viele Demenliö hierüber veröffentlichen, Seil dem starken Insluenzaansalle im Anfänge deS Jahres hat das Befinden des Papstes zu wünschen übrig gelassen und gegen wärtig zeigt sich ein Besorgnisse ernstester Art erregender Schwächezustand. Das ist auch der Hauptgrund, weshalb der Papst das Consistorium, in welchem das sehr rcducirte Cardinalscollcgium ergänzt werden soll, immer wieder hinanS- schiebt. Seine Arbeitskraft reicht kaum mehr so weit, um sogenannte Hauptziele seiner Politik noch der Verwirklichung enlgcgenzusübrc»; die Aufgaben zweiten und niedereren Ranges müssen zurückstehen. War den Sommer über die Schwenkung der päpstlichen Politik zu Gunsten der französischen Republik zu vollenden, so bildet jetzt die Encyklika znin goldenen Bischofs >iibilä»»i die Hauptsorgc. Unter solchen Umständen muß darauf liingewiesen werden, daß zur Zeit das Cardinals collcgium sich größlcntheils aus Intransigente» zusammensctzt. Das Cab in et Loubet fäbrt in seinem Bemühen fort, sich den Ruf des schwächsten und nachgiebigsten Ministeriums zu erwerben, das Frankreich seit dem Bestehen der dermaligen Republik besessen hat. Bon den «>5 Bergleute» des Tcparle »icnts Pas de Calais, die wegen Mißhandlung belgischer Arbeiter verurtbeill worden waren, sind schon früher 1l begnadigt worden, und nach einer vorliegenden telegraphischen Meldung haben jetzt auch von den übrigen 2 t 10 ihre volle Begnadigung erfahren, während 5, die rückfällige Verbrecher sind, bedeutende Strafmiltcrui.g zu Theil geworden ist. WaS dem Gnadenacl die Krone aufsctzt, daS ist der Unisland, daß der Justizminislcr Ricard die zarte Aufmerksamkeit hatte, die Begnadigung durch den be kannten socialistischen Abgeordneten und Aufwiegler Bas ly zur Kenutniß der Begnadigten bringen zu lassen. Mau wird in der Annahme nicht fehl gehen, daß diese Be gnadigung das Vorspiel der Begnadigung der in Albi vcr urthciltcn Carmauxer Bergleute ist. In welchem Maße durch die schwächlicke und furchtsame Haltung des Ministerium- Lvubct den Socialisten und Anarchisten in Frankreich der Kamm geschwollen ist, das bekundet sich auch auS der Thal- sache, daß auf dem Gebäude der Pariser Arbeitrr- börse seit einer Woche die rothe Fahne der revo- lutivnaircn Commune flattert. Dieses Emblem deS Aufruhrs, das unlcr jeder sich selbst achtenden Regierung bisher von der Straße verbannt war, bleibt unter dem Ministerium Loubet unbeanstandet. Der Scinepräsect bat allerdings darüber a» den Polizeipräfectc» berichtet, doch dieser antwortete, die Arbeitcrdörsc sei nicht seine Sache; und da der Seiiicpräfecl replicirte, die Ordnung auf der Straße sei seine Sache auch nicht, hat keiner der beiden Herren etwas getban. Jeder fürchtet, daß er bei energischem Verfahren von Herrn Loubet verleugnet werden könnte. Herr Clömcnceau brauchte blvs zu protcstiren, und sofort würde Herr Loubet zwischen den Arbeitern und dem Präsecte» ein Schiedsgericht Vorschlägen. Man sängt jetzt an, sich in Paris nach Herrn Constans zurllckzusehncn. — Der socialdcmo- kratischc Bürgermeister von St. Denis hat, was ganz zur allgemeinen Sachlage paßt, in seiner Stadt einen neuen Ritus ciiigcführt. Während er den Geistlichen aller Con- fessivnen verbot, die Leichen von der Kirche nach dem Fried bose zu begleiten, angeblich weil die Glaubensfreiheit seiner Mitbürger hierdurch verletzt werde, und während er am Donnerstag wieder Schutzleute vor der KircheWache stehen ließ, um den Ortspsarrer bei etwaiger Ucberschreitung des Ver bots ergreifen zu lassen, arraugirte er im Nathhause, wo er eine Trauung vorzunchmcu batte, eine Ccrcmonic sreigeistiger Art. Der Hochzeitssaal war mit Guirlanden geschmückt, ein Pianist spielte zur Einleitung eine Polka, ei» Tenorist sang de» Walzer aus „Romeo und Julia" von Gounod, einige Dilettanten trugen den „Kohlenmarkt", „Bsbü" und andere humoristische Stücke aus dem Repertoire der Pariser Tingel tangel vor; zum Schluffe sang ein Cdor die „Triumph-Ode an die Republik" von Frl. Augusta HolmLs. In der schweizerischen Bundeshauptstadt be schäftigt ein Skandal ohne Gleichen die politische Welt. Der neue Gesandte von San Salvador bat sich, wie bereits telegraphisch gemeldet, als ein ganz gemeiner Hochstapler entpuppt. Das amtliche Bülletin, welches der BundeSrath den Journalisten zugekeu läßt, enthielt m diesen Tagen folgende lakonische Notiz: „Der Mission des am 3. September dieses Iabrcs in Bern accrcditirlcn außerordentlichen Ge sandten und bevollmächtigten Ministers von Salvador ist ein Ende gemacht worden." Bei der Audienz vom 3. September fuhr der „Marquis Castell» Foglia" in einem mit zwei Pferden bespannten Wagen aufs BundeSrathshaus zu, mit üb- licheiuCcremonielempfangen. Ertrug eine schwarze,goldbetreßte Diplomatenunisorm, das Haupt bedeckte ein Nebelspaller mit wallenden weißen Straußenfedern. In der Audienz sprach er französisch; er gab an, er sei auch in Belgien und anderen meist kleineren Staaten accreditirt. Bald nach der Aecrediti- rung wurde allerhand gemunkclt. Durch Zeitungsnachrichten ward man im BundcSrathshausc auf den Schwindler auf merksam. Ter Marquis wohnte hier im Hotel Bellevue. Unter Hinterlassung feiner Effecten verreiste er vor einigen Tagen von Bern mit der Angabe, er begebe sich in vorüber gehender Mission »ach London. Seine Adresse ließ er nicht zurück. Castello Foglia nahm auch au der Berner inter parlamentarischen Friedenskonferenz Theil. In der Präsenz liste sicht unter dem Lande „Honduras und S. Salvador" der Name: ..Ll>. Iv innrgui» «lc Oastollo I'o^Iiu, Aliuiütrv plönipotoutiuiieN Es ist herkömmlich, daß die Staaten, ehe sie ihre Gesandten abschicken, bei der em pfangenden Regierung vertraulich anfragen, ob die Person deS Gesandten genehm sei (-Xgrögatiuu). Unter läßt der entsendende Staat die Anfrage, so kann er sich nickt vcklagen, wenn sein Gesandter nicht angenommcn wird. Die Regierung von Salvador hat eine solche Anfrage nach Bern nicht gerichtet. Das Departement des Aeußern glaubte sich mit dem vom Marquis überreichten Creditiv begnügen zu sollen, weil die amerikanischen Staaten von der vorläufigen Bcsragung gewöhnlich Umgang nehmen. Da» Creditiv soll in Ordnung gewesen sein. Ob es acht ist, scheint nicht fest- zustehen ES sind schon in früheren Iabren schwindelhafte Persönlichkeiten als Vertreter halbwilder südamerikanischer Republiken in Special-Missionen in Bern aufgrtaucht, so daß das dem Marquis entgegengebrachte Zutrauen um so weniger gerechtfertigt war. Gladstone und seine Leute haben es von Anfang an schmerzlich empfunden, daß unter den liberalen Unionisten, welche sich seiner Zeit, als Home Rule, bez. der Plan der Selbstständigmachung Irlands auftauchle, von der großen liberalen Partei in England trennten, sich auch der Ab geordnete sür Birmingham, Chamberlain, befand. I» der Person dieses Parlamentarier» besitzt die unionistische Partei unstreitig einen durch Talent, Kenntnisse und Arbeits fähigkeit hervorragenden Führer, der Gladstone bisher schon gewaltig zu schaffen gemacht bat und eS Wohl auch ferner thun wird. Neuerdings ist Chamberlain wieder, wie hereit- gemcldet, mit einem socialen Reformprogramm hrrvor- getreten, welches großes Aufsehen erregt und wohl dazu dienen soll, Gladstone und seinen Satrapen, die darauf auSgehen, die Arbeiter durch allerhand Versprechungen auf ihre Seite zu ziehen, etwa« den Wind auS den Segeln zu nehmen. DaS Chamberlain'sche Projekt ist ,n diesen Tagen veröffentlicht worden und damit hat der Führer der liberalen Unionisten sich zur Vertretung eine- bestimmt definirten Reformwerks auf dem Gebiet der socialen Gesetzgebung verpflichtet. Chamberlain ist kein Träumer von Utopien; vielleicht Niemand besitzt im Parlament ein schärferes Auge für das Praktische als er für die Lage der Dinge, sowie für die Richtung und das Ziel, wohin sie sich entwickeln. Er gekörte zu den eifrigsten Verfechtern des Staats- und MunicipalsocialiSmus, lange bevor der manchester- liche Liberalismus unter den Socialrcformern Englands in Mißkredit kam, und wem anders als ihm hätte man die beiden durchgreifendsten Neformgesetze der letzten Regierung zu ver danken, dasjenige der Localverwaltung und das der Unent geltlichkeit deS Elementarunterrichts? Die jahrelange politische Kameradschaft mit den TorieS bat Chamberlain'S Reform eifer allen Schmähungen der gladstoneanischen Presse zum Trotz offenbar nicht abgekühlt, denn sein vorliegendes Programm ist kühn wie immer, aber auch — man muß es bei allen Schwächen desselben zugcben — ausführbar, und zwar nicht erst, wenn daS Millennium hcrbeigekommcn. Es berührt endlich, WaS seine alten Parteifreunde vielleicht am meisten ver drießen und schädigen wird, die Interessen nicht einzelner Ge werke allein, sondern ganzer großer BevölkerungSclassen. Inder brennenden Frage der Beschränkung der Arbeitszeit männlicher Arbeiter Lurch das Gesetz geht Cbamberlain zwar nicht so weit, den Achtstundentag für Jeden und Alle zu befürworten, aber er tritt ein für eine gesetz liche Beschränkung der Arbeitsstunden für Bergleute und für alle schädlichen oder außergewöhnlich anstrengenden Gewerbe. Die municipalcn und localen Behörden sollen größere Bollmachten erhalten für Errichtungen von Arbeiter- Wohnungen, ja Chamberlain will sie sogar ermächtigen, Arbeitern zum Erwerb eigener Häuser die nöthigcn Mittel vorzustreckc». Neben der Einführung von Gewerbeschieds gerichten und seiner im Frühjahr bereits eifrig befürworteten allgemeineren Altersversorgung verlangt Chamberlain auch ein ganz allgemeines UnsallversicherungSgesetz, dessen Kosten entweder von den Arbeitgebern zu tragen oder durch eine Art Steuer aus das herzustellcnde Product aufzubringen wären, ;. B. die Versicherungsprämien für Bergleute durch eine einheitliche Abgabe pro Tonne zu Tage geforderter Kohle. Das sind die Hauplpuncte deö neuesten socialen Programme-, dessen Ausführung vielleicht früher ersojgen mag, als seine Kübnheit gegenwärtig vermutken läßt. Aber wer vermöchte zu sage», wie schnell die englische Gesctzesmaschine arbeiten Feuilleton. Dämmerungen. Roman in drei Büchern von Rudolf von Gottschall. L6j Na-truck »erdeten. (Fortsetzung.) Drittes Capitel. Des Versprechens eingedenk, das er Enrico gegeben, schob Oswald seinen Besuch in Heimersheim nicht lange hinaus, so peinlich cS ihm war, einmal »»gerufen zu komme»; nach seiner Ansicht brauchten die sich jahrelang kinschlcppcndeil chronischen Krankheiten nur bei eintrclcnden Verschärfungen, wo sich die Patienten schon von selbst meldete», deS ärztlichen Einschreitens; das fortwährende Hinhorchen erschien ihm als eine schlecht verkleidete Müßiggänger«!. Und chronisch krank Ware» Wohl die Herrschaften in Heimersheim; doch konnten über diese Krankheit keine Bulletins auSgegebe» werden; denn sic zeigte sich mehr in Verkehrtheiten, als in Ficbcrzuftändcn, Leiden und Schmerzen. Der Doctor begab sich zunächst in den Park, da die Dame deS Hauses um Geduld bat, bis sie ibre Toilette vollendet batte. Da bot sich ikm ein unerwartetes Schau spiel dar: er hatte sich einem Bosquet genäbert, i» welchem unter hcrniederbäiigenden Hollunder- und Goldrcgcnblütken eine gußeiserne Bank stand. Und von dieser Bank stob etwas schreckhaft in die Höhe, wie vom Jäger anfgescheuchtcS Hühnervolk — cS war zu spät sür daS erschreckte Paar, die Flucht zu ergreifen; auch bätte das die Sache noch schlimmer gemacht. Tie Beiden hielten daher Stand und begrüßten den bekannten Arzt mit der gebührenden Achtung. Die junge Dame hatte einen verbundenen Kopf und dielt in der Hand eine riesige Düte mit Zuckerzeug, mit dcffen Vertilgung sie so angelegentlich beschäftigt war, daß sie selbst in diesem kritischen Augenblick ihre Kinnladen nicht in Ruhestand ver setzen konnte, wenn sich auch die laute Arbeit ihrer Zähne in ein leises Knirschen verwandelt hatte. Ter KnirpS an ihrer Seite, mit dem großen Kopfe und den struppigen Haaren, suchte seine Verlegenheit unter einer Reihe von Complimentcn zu verbergen, welche die geringe Biegsamkeit seines stöpsel- artigen Körpers nur allzusehr verrielkcu. Der Doctor er kannte alsbald in der jungen Dame deS SchloßsräulcinS Gesellschafterin Susette und in dem merkwürdigen Jüngling den Feuermclch der Rispori, obschon derselbe diesmal nickt seinen mit jedem chemischen Färbcstoff gesättigte» Rock an hatte, sonder» ein graues, etwas grobleiiiencs Gewand trug, daS nichts von den Geheimnissen der Zauberküchc auS- plauderte. „Sie hier, Basilio?" fragte der Arzt, „nun, wie geht cS drüben?" „Wieder einmal eine Stockung — ich war in der Stadt, um Chemikalien einzukaufen." Oswald warf einen Blick aus die große Zuckcrdütc, den Susette mit einem schelmischen Lächeln erwiderte. „Es ist ein Unglück . . der junge Herr verplempert so viel mit der Lankwirkhschaft! Roggen, Weizen, Rübe», Kar toffeln — das ordinairslc Zeug. Da müssen wir nackschcn und bisweilen steht Alles oben still. Kein Rauch aus dem Schornstein — waS soll die Umgegend von uns denken? Daß unsere ganze Weisheit verquamlt ist, den» sie warten Alle aus das große Wunder — und wir bringen'- ja sicher zu Tage. Doch immer diese Stockungen — das kärg lich zugemcffcne Geld! Herr Rispori ist außer sich und ich muß siicken, hinter dem Rücken des gestrengen Herrn Sohnes mit des Papas Unterschrift geheime Hilfsquellen zu er öffnen. Dock cs wird, Herr Doctor, cS wird, das große Magisterium . . leben Sic wohl, Fräulein! Ich muß jetzt öfter nach der Stadt und werde mich im Vorbeigehen nach Ihrem Befinden erkundigen kommen " Susette crbiell einen herzlichen Händedruck; dem Doctor ward eine respcctvvlle Verbeugung zu Tbcil, und dann kugelte der Gnom durch die Gänge deS Parkes von dannen. „Im Vorbeigehen?" versetzte Oswald, „ich denke, Helmers- Heim liegt ziemlich weit ab vom Wege." Susette blinzelte listig mit den Äugen. „Das kommt aus« Augenmaß a» — Für Uasilic, Xodili liegt's dicht an der Landstraße nach Niederau. Ein Bonbon, Herr Doctor?" Und sie reichte ibm die gewaltige Düte dar, und als er dankend ablebntc, griff sie ungenirt hinein und langte mehrere der minder spröden Znckerplätzcken heraus, die im Munde zergingen und so da« Gespräch nickt allzu sehr störten. „O ich verstehe", sagte jetzt der Arzt mit deni sichern Ton überlegener Menschenkenntniß; „das ist ein unverdächtiger Bote von drüben, er hält die Beziehungen zwischen Enrico und Ibrcm gnädigen Fräulein in Fluß!" „Wo denken Sic bin!" sagte Susette nicht ebne Empfind lichkeit, „solche Zcltelcicn hinter dem Rücken der Eltern liegen mir fern Herr Enrico darf überhaupt nicht« davon wißen, daß Basilio »ach der Stadt geht, noch weniger, daß er hierher kommt." „Ich bitte um Entschuldigung — dock ich habe Ihren Zauber, Ihre Anziehungskraft durchaus nicht zu gering an geschlagen; ich glaubte nur, daß Ihnen nichts daran gelegen sein könnte, diesen häßlichen Feucrmolch einzusangen." „Bille, Herr Doctor . . . das ist Geschmackssache! Ich liebe die schöne» Männer nickt ... sic sind so nichtssagend. Das Aparte bat seinen Reiz, und Basilio ist ganz apart. Leidenschaftliche Liebe lann man nur sür häßliche Männer empfinden; denn anders kann man sie überhaupt nicht lieben. Hübsche Leute — nun ja, das ist ganz gut, wenn man sich bei der Trauung beneiden lasse» will . . . und ich glaube, ich würde lieber einen Indianer mit einem rotben Fcdcrsckops und einen pechschwarzen Kafiern mit wulstigen Lippen lieben, als eine» gcwöbnlichen Christenmenscken von der Sorte, von welcher zwölf ein Dutzend macken, lind Basilio ist gut.. Sie griff wieder in die Düte. „Tie Prinzessinnen haben ja auch ihren Mohren — und das ist vornehm." „Doch woher kennen Sie den jungen Mann!" „Vor einiger Zeit — an einem stürmischen Tag — es war in der Stadt ... der Wind riß mir meinen Hut vom Kopf — ick kam gerade auS einem Conditorladen — und beim Nachrcnncn ging mir die Düte aus und ich streute die Bonbons aus die Straße, zur Freude der cinsammelnden Jugend. WaS aus der Straße liegt, das ist vogelsrei!" „DaS gilt allerdings von den Bonbons, wie von den Menschen", warf Oswald ein. „Basilio, allen voran, fing meinen Hut auf und brachte ibn mir, und als ich ihn dann freundlich anlächelte . . . daS war überaus wirksam, wie mir schien. Er konnte sich nicht von mir trenne»; er knüpfte ein Gespräch mit mir an, er kaufte mir eine neue Tüte Bonbons ... und seitdem besucht er mich bisweilen." „Nun, der echte Märchcnliebhabcr! Da gicbt'S ja Un geheuer, welche Herzen erobern ... vielleicht ein verzauberter Prinz!" „Etwas Zauberei ist ja mit im Spiele, Herr Doctor, und daS ist so übel nicht. Wenn daS Werk gelingt und er hofft eS, so giebt's Millionen und ich erhalte einen Diamantschmuck wie eine Königin." „Da haben wir ja das Märchen ... ich dachte mir schon, daß cs mit diesem struppigen Gnom eine besondere Bcwandtniß baden müsse. Goldfuiikcn . . . Diamcnte»- blitze ... da kann man dem Bären schon das Fell streicheln, wenn dergleichen bcrvorsprllht. Dock, mein Fräu lein, baden Sie mir nichts zu sagen? Ich sehe, Sie tragen eine Binde um den Kopf." „Nichts weiter, Herr Doctor . „Sic sind gefallen . . haben sich gestoßen?" „Ein wenig . . ja!" „Beichten Eue mir Alles ungenirt — ein Arzt ist der erste Beichtvater!" „Beichtväter sind gefährlich!" sagte Susette mit schlauem Lächeln, ein gefülltes Bonbon ausschlürfend. Oswald ließ sich durch diese Weigerung nicht abschrecken; ein Zusammentreffen mit Susette war ihm sehr willkommen; sic konnte ani besten Auskunft geben über die Verhältnisse in HclmcrSheim Wenn er sic nur zum Plaudern brächte! Doch sollte das so schwierig sein bei einer jungen Dame mit so plauderhaften Augen? Indem er sie leicht nm die Taille faßte, jagte er: „Setzen wir uns zusammen, mein Fräulein! Denken Sie sich, statt des unliebenSwürdigen DoctorS sitze der liebens würdige Basilio an Ihrer Seite, vor dem Sie ja kein Ge- heininiß baden " „O nein, so weit sind wir noch nicht", versetzte Susette und sah verschämt in die Düte. (Fortsetzung folgt.)
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