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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 07.04.1903
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-04-07
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030407010
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903040701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903040701
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-04
- Tag1903-04-07
- Monat1903-04
- Jahr1903
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Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offerteuannahme 25 H (e;cl. Porto). Ertta. Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung SO.—, mit Postbefürderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Bormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Dir Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Druck und Berlag voa E. Polz in Leipzig. Nr. 176. Dienstag den 7. April 1903. 97. Jahrgang. England und Portugal. Man schreibt un»: Der Frühling ist da und die Reisen der Staats- oberhäupter beginnen. Kaiser Wilhelm hat in Kopenhagen geweilt, er wird dann Rom besuchen, wo in -er nächsten Zeit auch der Zar sich einfinden soll. Sogar der bieder-spießbürgerliche Herr Loubet au» Montvlimar geht zu Schiss, um sich Algier und Tunis anzusehen. Rriseneugier und Jugenbübermut veranlassen -en etwa» bequemen französischen Staats präsidenten nicht zu diesem Ritt ins alte romantische Land der Mauren. Ar ist ein Opfer der hohen Politik: er muß im Namen der Republik zeigen, daß das westliche Mittelmeer ein lateinischer See ist — quanä wtzwe. Bei dem verworrenen Geräusch, da» au» Marokko herüberklingt, und bei der verdächtigen Ge schäftigkeit der englischen Geschwader erschien eine solche Kundgebung nicht überflüssig. Und diejenigen, die dieser Wink am meisten angeht, sitzen in der Downing Street in der guten alten Stadt London. König Eduard reist nach Lissabon und Rom, Präsident Loubet nach Algier. Da» sind so die anmutigen Zwischenspiel« in der ernsten Arbeit der zünftigen Diplomatie. Mit Fürstcnbesuchen ist eS eine eigene Sache. Wird viel Aufhebens von ihnen in der Presse gemacht, so lasse» sie den Politiker meist ganz kalt. Die Länge und Bedeutung der Berichte stehen meist in umgekehrtem Verhältnis zu dem Umfang und den Ziffern der Rech nungen für Festchampagner, Fahnenschmuck und benga lische Beleuchtung. Die englischen und die portugiesischen Offiziösen legen Wert darauf, festzustellen, daß der Be such Eduards VN. in Lissabon der erste feierlich-amtliche ist, den der Sohn der großen Viktoria überhaupt im AuSlande macht. Sie setzen aber flugs hinterdrein: irgend welche politische Bedeutung hat diese Frühlings fahrt des Britenkünigs nicht. Wenn die Reise gar keine Anmerkung in der RegierungSprefse erhalten hätte, wäre Aufmerksamkeit schon nötig gewesen. Wenn offiziöse Blätter aber mit solcher Standhaftigkeit und so energisch etwa» in Abrede stellen, was noch niemand be hauptet hat, so ist das sehr verdächtig, denn in dem selben Maße, wie die Diplomaten ehrlicher geworden sein sollen, sind jedenfalls ihre Preßdomesttken unaufrich tiger geworden. Wenn England anfängt, mit frommem Augenaufschlag von seiner selbstlosen Freundschaft zu singen, so mögen alle sich hüten, denen es sein Lied vor trägt. Die unabhängige Presse Portugals hat dem alten, ehrlichen „Standard" auch eine recht frostige Ant wort erteilt. Auch wir haben alle Ursache, mißtrauisch auf die Ereignisse zu blicken, die sich am Tcho abspielen. Die Engländer haben in rosigen Farben von der uralten englisch-portugiesischen Freundschaft erzählt. Dem heimkehrenden Chamberlain wurden in Funchal Lrtnksprüche geweiht. Er erwiderte: „Die älteste in den britischen Staatsarchiven vorhandene BertragSurkundc ist ein Schutz- und TrutzbirndniS zwischen England und Portugal." Da» stimmt: es wurde vor 2S0 Jahren ab geschlossen und bedeutet den Anfang de» unaufhaltsamen Niedergangs Portugals. An dies traurige Datum er innern konnte nur britische Taktlosigkeit gegenüber der Ohnmacht -e» Kleinen. Die Portugiesen kennen wie wenige andere die Kunst der Selbstironie, die nur halb reifen oder sinkenden Völkern eigen ist. Ironisch wie» denn auch die Presse von, Lissabon darauf hin, daß es sieben Kolonialverträge gäbe, die von Portugal seit 1700 mit England abgeschlossen feien. In diesen Freund« schaftsverträgen hätte England seinem lieben Bundes genossen alle Kolonien eine nach der anderen weg- genommen. England befreite das verarmende Portugal zwar auS den Händen Ludwig» XIV., aber der Lohn war der köstliche Methuen-Vertrag, der England da» Monopol des Weinexports und dcS Wollen- importS sicherte, d. h. den Handel Portugals dem edel- mütigen Bundesgenossen an der Themse willenlos aus lieferte. Seit dem ersten Tage der englisch-portugiesischen Freundschaft ist es mit Portugal reißend bergab ge gangen. Es wurde nur noch ein Gegenstand der Aus beutung für die Cttykapitalisten. Es ging von einer An leihe in die andere, von einem Staatsbankerott zum andern. Wenn es widerspenstig werden wollte, arran gierte England mit wenigen Pfund Sterling einen kleinen Ausstand in seinen Kolonien. Es kam die Schmach des „Vertrage»" vom 28. Mai 1890, der Por tugal zur Abberufung Serpa Pintos zwang und die Sambesiländer an England auslieferte. Ts kam der Tag, wo die portugiesische Regierung zum Leide des boerenfrennblichen Volkes in der Delagoabai den Büttel für die englische Näuberpolitik in Transvaal abgab. Heute gehört Portugal England, seine Weinberge, feine Jndustrieanlagett, seine Kolonien. „Die Sprache, die man in den portugiesischen Siedelungen hört, ist die eng lische", klagten schon vor zwei Jahren der „Correio da Noite". „DaS Gelb ist englisch, die Kapitalisten sind Engländer, die Grundbesitzer ebenso, die Eisenbahn ist englisch, die Schiffahrt ist englisch, die Bergwerke und der Handel sind englisch. Der Geburtstag des Königs von Portugal bleibt unbeachtet, während der Geburtstag der Königin von England festlich begangen wird." In diesen Festtagen von Lissabon wird bas Werk der Knechtung Portugals weiter vollendet werden. Das un glückliche Land, das infolge seiner unheilbar verfahrenen Finanzen dicht vor der Revolution und dem Staats bankerott steht, wird sich abermals dem Willen der wuche rischen englischen Politik beugen. Was England tat sächlich schon besitzt, Lauren«» Marques, wird ihm heute in irgend einer Form auch staatsrechtlich übermacht werden. Das ist schon bei dem Besuch König Carlos' in London vereinbart und wird jetzt endgültig in den Staatsakten niedergelegt werden. Wir könnten an sich an dieser Tatsache mit dem Achsel zucken des Bedauerns vorübergehen. Portugal verdient nicht die Sympathien wie Spanten. Jenes hat sich selbst in unmännlicher Schwäche aufgegeben, das arme Spanien hat mit Mut und Hochherzigkeit gegen das herein brechende Unheil gekämpft. Aber wir sind an dem Schick- sale der portugiesischen Kolonien lebhaft interessiert. Be kanntlich besteht ein etwas geheimnisvoller deutsch-eng lischer Südafrikavertrag aus dem Jahre 1898. Nach ihm sollen die Kolonien Portugals an die deutschen und die englischen Gläubiger des Landes für den Fall verpfändet sein, daß die tatsächliche Zahlungsunfähigkeit in Lissabon auch Handels- und staatsrechtlich eintritt. Wir haben als Preis für diesen Vertrag unsere ganze Politik gegenüber den Boeren geändert. Weihnachten 1900 kam ein neuer Vertrag zwischen Portugal und England zu stände. Por tugal blieb dadurch auf ganz wunderbare Weise -ahlungs- fähig, und um den Preis für unsere Schwenkung in der Südafrikapolitik waren wir geprellt. Wie gedenkt unsere Regierung die deutschen Interessen gegenüber -er neuesten Heldentat portugiesisch-englischer Freundschaft in Südafrika zu wahren? I'. Deutsches Reich. H Berlin, 6. Avril. WunderbareBlüten treibt die Wahlbrwegung; besonders Herr Or. H a h n leistet in der überhitzten Temperatur seines Bundeshauses darin Erstaunliches. Er ist geaen die Nalionaliiberaien, in deren Kreis er vergebens Ausnahme zu finden gesucht hat, von ganz besonderem Zorn erfüllt und überall, wo er tann, sucht er sie durch Angriffe aller Art in ihren Kandidaturen zu schädigen. Besonders hat er den im Wahltreis Lennep- Mettmann kandidierenden Abg. v. Eyuer n aus sehr be- stimmteu Ursachen nicht aerne. Wir vermuten nämlich, daß eine Notiz in der „Deutschen Tageszeitung" von Herrn vr. Hahn herrührt; sie lautet: „Uns persönlich Isio) würde der bisherige (freisinnige) Abg. Fischbeck gegen über Herrn v. Eynern noch als das kleinere Uebel erscheinen." — Die konservativen Bauern des Wahlkreises werden über diesen Rat, einem Freisinnigen vorzugsweise ihre Stinunen geben zu sollen, recht erstaunt sein. Für Herrn vr. Hahn aber kommt es gar nicht darauf an, wen er gegen die Nationalliberalen ins Feld führt. Am 9. Mai 1901 sprach er in Köln das große Wort aus: „Es kamr die Zett kommen, wo der Bund der Landwirte dem Zentrum noch wesentliche Wahlhülfe leisten kann. Wenn im Wahlkreise Ottweiler-St. Wendel Herr Fuchs beim Bunde der Landwirte zuerst angefragt hätte, dann wäre es durchaus möglich gewesen, daß unsere Mitglieder sich für ihn und nicht für den Nationalliberalen ausgesprochen hätten." — Das ist Herr vr. Hahn. Ob Fortschritt oder Zentrum, nur nicht nationalliberal. Warum nicht auch noch Sozialdemokrat? — Herr v. Eynern bezeichnete in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 22. Februar 1902 die Kölner Ausführung des Abg. vr. Diedrich Hahn als „politisch geradezu unglaublich charakterlos". Und an diese Ausführung schließt sich die Notiz in der „Deutschen Tages zeitung" würdig an. 6. N. Berlin, 0. April. (Die Kriegervereine und die Reichstags wählen.) In den maßgeben den Kreisen der Kricgervercine verfolgt man den Auf marsch der Parteien für die Reichstagswahl mit dem aller lebhaftesten Interesse. Einig ist man darüber, daß der Kampf gegen die Sozialdemokratie von den Kriegcrvereinsmitglicdern mit ganzer Kraft ausgenommen werden muß. Man wünscht, daß die KriegervcreinSmit. glieder sich lebhaft an den Vorbereitungen für die Neichs- tagSwahlen beteiligen, in die öffentlichen Versammlungen gehen, im Verkehr mit ihren Bekannten dafür eintreten, daß niemand am Tage der Wahl fehle, weil cs diesmal auf jede Stimme ankvmmt. „Die Parole", die amtliche Zeitung des deutschen Kriegerbundes, faßte die Aufgaben der KricgervcreinSmitglicder in diesem Sinne in einem interessanten Artikel „Zur Wahlbewegung" zusammen und skizziert dann weiter das Programm der Kriegervereine für die Reichstagswahlen wie folgt: „Sollte aber die einzelne Partei nicht im stände sein, nrtt überlegener Zahl dem sozialdemokratischen Heerbanne gegenüberzutreten, so ist es die schöne Pflicht der Mitglieder deutscher Kricgervercine, für ein geschlossenes Zusammengehen aller auf vaterländischem Boden stehenden Parteien sein Wort einzulcgen. Sind ihre Vereine doch eben schon der Sammelpunkt für Männer der verschiedensten politischen Anschauungen, welche gemeinsam das betonen, pflegen und betätigen wollen, was die Parteien eint: monarchische Treue, Vater landsliebe und Nationalbewußtsetn. Somit liegt es ganz im Rahmen ihrer Bestrebungen, einen versöhnenden, über die engeren Parteikreise hinaus auf die Volksseele wir kenden Einfluß auSzuüben." lH Berlin, 6. April. (Erfolge herauf die För derung der Binnenschiffahrt gerichteten Ltaatstätigkeit.) In dem soeben erschienenen 2. Bande des von den Geh. Oberfinanzräten O. Schwarz und l)r. Struy herausgegebenen, groß angelegten Wer tes über den Staatshaushalt und die Finanzen Preußens (Band 2: Zuschu'ßverwattung), Verlag von I. Gutteniag, geben die Verfasser zur Binnenschiffahrt folgende bemer kenswerte Daten: Die Erfolge der vom Staate zur Ver besserung des BinncuschisfahrtsvcrkehrS in den letzten Dezennien verwendeten Lummen bewirken naturgemäß eine nur geringe unmittelbare Erhöhung der Staatsein nahmen, wie dies bet den in die Eisenbahnen investierten Kapitalien in hohem Maße der Fall ist; ihre Wirkung ist mehr allgemeiner und volkswirtschaftlicher Natur. Ist es schon aus diesem Grunde nicht möglich, dieselben, wie die Ertrage der Eisenbahnen, in Geld auszubrücken, so ist es anderseits da, wo die statistischen Zahlen erhöhte Verkehrs ziffern Nachweisen, nicht nur die Vermehrung der beför derten Massen, welche ins Gewicht fällt. Auch die in Zahlen nicht zur Erscheinung gelangende erhöhte Sicher heit und Schnelligkeit der Beförderung ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Wasserstraßen befinden sich zumeist schon jetzt in einem Zustande, der den Ver frachtern und Empfängern von Gütern die früher nicht vorhanden gewesene Möglichkeit gewährt, bestinnnte Liefe rungsfristen zu vereinbaren und infolgedessen auch wert vollere Waren als bisher dem Wasserwege anzuvertrauen. Nicht minder fällt, bei sonst gleichen Massen, die Vermin derung der Beförderungskosten für die Massen-Einheit, die sich als eine Folge des planmäßigen Ausbaues der Wasserstraßen unzweifelhaft ergibt, ins Gewicht, obwohl sic aus den statistischen Nachweisungen in der Regel nicht ersehen werden kann. Endlich ist nicht außer Acht zu lassen, daß die Zunahme des Eisenbahnverkehrs durchaus nicht in gleichem Verhältnis zu der Betriebslänge stattge funden hat, wie bei den Wasserstraßen. Nach den Sym- pherschcn Berechnungen über den Verkehr ans den deut- fchen Wasserstraßen zeigt sich, daß in der Zeit von 1875 bis Johann Thomsens Frühlingstraum. Eine stille Geschichte von ReinholdOrtmann. >,.a«dbrucl (Schluß.) Am folgenden Tage sab der Bureauvorsteher aus dem mittäglichen Heimwege au» der Kanzlet, daß die Kinder in allen Straßen mit Kreiseln spielten, und er hatte daran eine größere Freude, denn je zuvor. Eine lange Er fahrung hatte ihn nämlich gelehrt, daß weder die ersten Schneeglöckchen, noch die hetmkehrenben Stare so zuver lässige Herolde beS nahenden Frühlings seien, al» die kleinen hölzernen Kreisel, die eines Tage» wie auf ein ge heimnisvolles Losungswort in allen Teilen der Stabt gleichzeitig auf der Bildfläche zu erscheinen und den eiligen Passanten bet jedem zehnten Schritt -mischen die Füße zu geraten pflegen; sie waren ihm die Verkünder de» LenzeS, und er liebte sie, wie andere die gelben Krokus und die blauen Märzveilchen lieben, Uon denen Johann Thomsen allerdings nur selten eines zu Gesicht bekam. Aber er hatte niemals eine größere Freude an ihnen gehabt als gerade in diesem Jahre. Es war nun schon der srchSunddreißigste Frühling, den er in dieser unvoll kommenen irdischen Welt erleben sollte; doch irgend eine innere Stimme sagte ihm, daß dies der schönste sein werde, den er je gesehen. Er hatte durchau» keinen vernünftigen Grund, sich solcher Illusion hinzugeben, denn er war weder reicher, noch jünger oder gesünder al» in den früheren Jahren. Aber die Illusion war nun einmal da und sie ließ das Her- de» Bureauvorsteher S freudiger schlagen, sie straffte seine zusammengesunkene, dürre Ge stalt, sie machte feinen schleppenden Schritt beinahe leicht und jugendlich elastisch. Die ganze Woche hindurch stand er unter der Herr- schäft dieser glücklichen Borfrühlingssttmmung. Die Lerchen in seiner Brust, deren Geschmetter niemand ver nahm al» er selbst, jubelten am lautesten in jener Nach, Mittagsstunde, da» wieder da» »lasse junge Mädchen mit dem süßen, liebreizenden Kindergeficht neben seinem Pult« stand, um von ihrem Wochenverdienst die erste Rate der vermeintlich noch ungetilgten Forderung des Kohlen händlers Lorenz zu zahlen. Johann Thomsen hatte bis zu diesem Augenblick nicht gewußt, was für ein kapitaler Schauspieler in ihm steckte; denn auch der grüßte Mime hätte nicht überzeugender das höchste Erstaunen erheucheln können, als er, da er er klärte, die erste Rate sei erst in acht Tagen fällig und er habe durchaus kein Recht, vorher eine Zahlung entgcgen- zunrhmen. Er zitterte, daß sie trotzdem auf ihrer Absicht beharren könnte; aber e» war eine grundlose Befürchtung gewesen, denn sie strich sichtlich erfreut da» Geld, daS sie bereit» auf den Tisch gezählt hatte, wieder ein. „Das ist ein großes Glück", sagte sie, „denn meine Mutter bedarf dringend einiger Stärkungsmittel, die ich ihr sonst nicht hätte kaufen können. In acht Tagen also komme ich wieder." Ihre -arten Wangen hatten sich ein wenig gerötet unter dem Eindrücke der angenehmen Ueberraschung, und sie sah den Bureauvorsteher so freundlich an, daß er sich zu seiner eigenen Verwunderung ein Herz faßte, nach Erledigung dieser geschäftlichen Angelegenheiten noch ein richtiges kleines Gespräch mit ihr zu beginnen. Tr erkundigte sich nach der Natur der Krankheit, an der ihre Mutter litt, und da eS zufällig dieselbe war, an der er vor Jahren eine Schwester verloren hatte, konnte er ihr aus eigener schmerzlich erkaufter Erfahrung verschiedene gute Rat- schlüge geben. Sie dankte ihm herzlich, und al» sie sich nach einer Weile zum Gehen wandte, reichte sie ihm in reizen- der Schüchternheit die Hand. E» war keine weiche aristo kratische Damenhand mit wohlgepflegten, polierten Nägeln, sondern eine feste, beinahe harte Arbeitshand; aber Johann Thomsen hatte doch die Empfindung, daß er nie etwa» Köstlichere» zwischen seinen Fingern gehalten. Und al» die Tür der Kanzlei sich hinter dem jungen Mäd- chen geschlossen hatte, da schmetterten die Lerchen in seiner Brust so laut, daß er manchmal nahe daran war, mit irgend einem luftigen Liede in ihren Gesang einzu stimmen Er hatte e» doch gewußt, daß dieser Frühling schöner werden würbe, al» irgend ein früherer. Denn er schon jetzt, wo nächstens noch die Aeguinoktialstürme tobten und kamn hier und da ein schüchterne» Knösplein sich hervor wagte, so herrlich war, wie sollt« e» erst werben, wenn alle» in den frischen Farben des neu erwachten Lebens prangte! Auf dem Platze, den Johann Thomsen täglich viermal passieren mußte, stand ein alter Kliederstrauch. Der war einer von den ersten, die ihre zarten Blattknösplein ans Licht zu bringen wagten; und jedesmal, wenn er an ihm vorübergtng, liebkoste Johann Thomsen diese Knospen mit seinen guten, einfältigen Augen. Der Justizrat aber sah seinen Bureauvorsteher des öfteren mit einem verwunder ten Kopfschütteln an. Sauber und anständig hatte er sich ja immer gekleidet; daß er sich aber jemals zu einem hochmodernen Stehkragen versteigen und seinen guten schwarzen Bratenrock, der doch noch kaum mehr als sechs Jahre alt war, bei der Arbeit in der Kanzlei tragen würde, hätte er ihm nimmermehr zugetraut. „Am Ende fängt er noch auf seine alten Tage an, Ge schichten zu mache dachte der Justizrat. „Ich werde gut tun, ein etwas wachsameres Auge auf die Kaffe zu haben." Aber Johann Thomsen dachte nicht daran, sich an der Kasse seines Prinzipals zu vergreisen. Er dachte über haupt an nicht» anderes, als an den Tag, da das liebliche junge Mädchen wiederkommen würde, und an den Bor wand, den er ersinnen müsse, um die Annahme des Geldes abermals zu verweigern und sie doch -ur Wiederkehr zu veranlassen. Als der große Tag erschienen war, prangte er nicht nur im Glanze seines schwarzen Bratenrockes nnd seine» riesenhohen Stehkragen, sondern er hatte sich auch eine ge- waltige hochrote Kravatte -ugelcgt, die ihm der Verkäufer als das Modernste und Eleganteste vorgelegt hatte. Schön sah er in diesem Schmucke nicht gerade au». Die jungen Schreiber stieben sich verstohlen mit den Ellenbogen an und kicherten in sich hinein, wenn sie zu ihm htnübersahen. Johann Thomsen aber hörte nichts von diesem Gekicher vor all dem Lerchenjubcl in seiner Brust. Er war so voll Liebe für die ganz« Welt, daß er es den kecken Schreiber lehrlingen wohl auch verziehen haben würde, wenn sie ihm gerade ins Gesicht gelacht hätten. Gütig und freund, lich sprach er zu jedem, der mit einem Anliegen zu ihm kam, nnd voll Freundlichkeit begrüßte er auch den statt- lichen jungen Mann, der am Nachmittag eintrat, um nach dem Justizrat zu fragen. „Er ist augenblicklich leider nicht anwesend. Aber viel leicht kann ich Ihnen dienen." „ESohl möglich. Ich bin der Bräutigam de» Fräulein Lindner. Seit drei Tagen sind wir verlobt, und da ich weiß, daß ihre Mutter dem Kohlenhändler Lorenz fünf- zig Mark schuldig ist, bin ich heute hingegangen, um sie dem Manne zu bezahlen. Der aber sagte mir zu meiner Ueberraschung, daß er das Geld schon vor vierzehn Tagen durch seinen Rechtsanwalt erhalten habe. Meine Braut kann sich das nicht erklären, und nun möchte ich gern wissen, wie die Sache zusammenhängt. Um nichts und wieder nichts zahlt doch kein Mensch die Schulden für einen andern." Dem Bureauvorsteher flimmerte eS vor den Augen, als ob plötzlich die ganze Kanzlei voll brennend rorer Kravatten wäre. Nie in seinem Leben batte er sich in solcher Verlegenheit befunden. Er stotterte etwas von einem Versehen, das da vorgekommcn sein müsse, und er knickte auf seinem hohen Schreibbock ganz in (ich zu sammen, als ihm der junge Mensch plötzlich die Hand auf die Schulter legte. „Ich will Jhucn mal waS sagen: DaS war kein Ver sehen, sondern Tie haben das Gelb auS Ihrer Tasche bezahlt. Meine Braut bat mir da ganz arglos erzählt, wie nett nnd freundlich Sic mit ihr gewesen sind. Wenn Sie ein ansehnlicher Mann wären, der einem Mädchen ge fährlich werden kann, so würde ich wegen dieser Geschichte ein ernstes Wort mit Ihnen reden; aber so wie Sic aus sehen, können Tie mir bloß lei- tun. Und nnn sagen Sie mir auf Heller und Pfennig, wieviel ich Ihnen schuldig bin, damit wir die Geschichte zu Ende bringen." Zehn Minuten später war Johann TkomienS Porte- monnaie um zweiundsechzig Mark achtzig Pfennige schwerer geworben; aber noch viel, viel schwerer war ihm das Herz, und der Lerchengesang darinnen war ganz ver stummt. Er trug fortan weder moderne Stehkragen, noch rote Kravatten, und der Bratenrock blieb säuberlich im Kleider- schranke. Aber auch um die Knospen an dem alten Flieder strauche kümmerte er sich nicht mehr, und seine Haltung war wieder so gebeugt, sein Schritt wieder so müde und schleppend wie zuvor. ES war ein kurzer Frühlingötraum gewesen 'nd nun war er auägeträumt.
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