Delete Search...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 19.02.1907
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1907-02-19
- Sprache
- German
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19070219028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1907021902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1907021902
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
- Monat1907-02
- Tag1907-02-19
- Monat1907-02
- Jahr1907
- Links
-
Downloads
- Download single page (JPG)
-
Fulltext page (XML)
BezuaS-PreiS sür Leipzig und Vororte: In der Haupt- Expedition oder drreu Ansgabesiellen ab- n,hoU Monatlich: Ausgabe A (1 mal täglich) 70 Pf-, Ausgabe k <2 mal täglich) 80 Pf^ bei Zustellung ins Haus Ausgabe Ä 80 Ps., Ausgabe L l Mark. Durch unsere aus wärtigen Ausgabestellen und durch die Post bezogen<1 mal täglich)innerdalbD«otschiaadS monatlich l Mark ausjchl. Hesirllgebühren, sür Oesterreich-Ungarn bL45k oiertrljSdrlich, di» übrigen Länder laut Aeituug-vretSliste. Diese Stummer lostet aut -st tz-- allen Badndösea und bet I II dea Heilung»-Verkäufern Redattton und Expedition: JohauntSgasse 8. Telephon Nr. 1b3 Nr. 222, Str. 1178. Berliner NedatttonS-Burean: Serlin KV. 7, Prinz LouiS Ferdiuaud- Stratze 1. Telephon I. Nr. 9275. Abend-Ausgabe 8. ripMcrIagMaü Handelszeitnng. Amtsblatt des Nates und des Votizeiamtes der Ltadt Leipzig. Anzeiaen-Preis die 6 gespaltene PetUzrüe sür Geschäfts inserate aus Leipzig und Umgebung 2L Pf„ Familien-, Wohnung«- n. Stellen-Anzeigen, sowie Au- und Verkäufe 20 Pf„ fiuauzvell« Auzeigru 30 Ps., für Inserate von auswärts 30 Ps. Reklamen 7L Ps„ auSwärt« l Mark. Beilage- gebühr 4 Mark p. Toujend exkl. Postgebühr. Geschästsanztiaea an bevorzugter Stelle im Preise erhöht. Rabatt nach Tarif. sür Inserate vom Auslande beionderer Tarif. Anzeigeu-Annahmr: AuguftuSVlay 8, bet sämtlichen Filialen u. allen Annoncen» Expeditionen de« In- und Aoslanvr«. Für da« Erichrinen au beiltmmtrn Tagen u. Plätzen wird keine Garantie übernommen. Festerteilte Aufträge können nicht zurück gezogen werden. Haupt-Filiale Berlin: LarlDuucke r,Herzgl-Bayr.Hofbuchhaadlg.. Lützowsiraße 10 (Tel. Vl, 4603h Ftlial-vrpeSittou:DreSdeu.Marienstr.34 Nr. 5«. Dienstag 19. Februar 1907. 101. Jahrgang. kkSNilung Oer steichuager. Die Thronrede deS Kaisers. Die vom Kaiser verlesene Thronrede zur Eröffnung des Reichstages lautet: -Geehrte Herren! Im Namen Meiner hohen Ver bündeten heiße Ich den neugewählten Reichstag willkommen. Aufgerufen zur Entscheidung über einen Zwiespalt zwischen den verbündeten Regierungen und der Mehrheit des vorigen Reichstages, hat das deutsche Volk bekundet, daß es Ehr und Gut der Nation ohne kleinlichen Parteigeist treu und fest ge hütet wissen will. In solcher Bürger, Bauern und Arbeiter einigenden Kraft des Nativnalgefühls ruhen des Vaterlandes Geschicke wohl geborgen. Der Kaiser und die Verfassung. Wie Ich alle verfassungsmäßigen Rechte und Befugnisse gewissenhaft zu achte« gewillt bin, so hege Ich zu dem neuen Reichstage das Vertrauen, daß er es als seine höchste Pflicht erkennt, unsere Stellung unter den Kulturvölkern verständnisvoll und tatbereit zu be wahren und zu befestigen. Erledigung früherer Vorlagen. Ihre erste Aufgabe wird die Erledigung des Reichs haushalts für 1907, des Nachtragskreoits für Süd westafrika und des Bahnbaues von Keetmanshoop nach Kubub sein. Diese Vorlagen gehen Ihnen sofort in der früheren, nur unwesentlich veränderten Gestalt zu. Die Solonialpolitik. Die schwere Krisis, die durch die Ausstände der Ein geborenen in Südwest- und Ostafrika über diese Schutzgebiete kereingebrochen war, ist überwunden. In Ostafrika ist der Aufstand vollständig unterdrückt. In Südwestafrika sind die feindlichen Stämme bis auf wenige Ueberreste unter worfen worden, so daß eine erhebliche Verminde rung der dort stehenden Schutztruppe aller Voraussicht nach möglich sein wird. Der Dank des Vater landes ist den Tapferen sicher, die in jahrelangen schweren Kämpfen mit einem verschlagenen und hartnäckigen Gegner den Ruhm der deutschen Waffen hochgehalten haben. Die Entwicklung unserer Kolonien zu einem wertvollen Teil des nationalen Besitzstandes erfordert vor allem einen sorg fältig anSzuarbeitenden Plan für den Ausbau der Verkehrswege. Um allmählich zu einer gedeihlichen Selbstverwaltung zu gelangen, werden zunächst das Rech nungswesen zu vereinfachen und die Beamtenverhältnisse neu zu ordnen sein. Wie mit dem Vorschläge, ein Kolonial» amtz« errichten, so wird der Reichstag auch mit den Beihilfen für die schwer geschädigten Ansiedler in Südwest afrika von neuem besaßt werden. Der gesunde Sinn in Stadt und Land hat im Wahlkampf einer Bewegung Halt geboten, die sich, alles bestehende Gute und Lebenskräftige verneinend, gegen Staat und Gesellschaft in ihrer stetigen friedlichen Entwicklung richtet. Sozialpolitik. Die großen grundlegenden Gesetze zum Schutze der wirtschaftlich Schwachen sind gegen den Widerstand der Fraktion geschaffen worden, die sich als die wahre Ver treterin der Arbeiterinteressen bezeichnet, »elbst aber nichts für sie und für den Kultursortschritt geleistet bat. Gleich wohl zählen ihr Wähler immer noch nach Millionen. Der deutsche Arbeiterdarfdarunternicht leiden. Jene Gesetzgebung beruht auf dem Grundsatz der sozialen Verpflichtung gegenüber den arbeitenden Klaffen und ist daher unabhängigvon der wechselnden Partei- gestatt ung. Die verbündeten Regierungen sind ent schlossen, das soziale Werk in dem erhabenen Geiste Kaiser Wilhelms des Großen fortzwsetzen. Vermeidung der MajestStsbeleidigungsprozesse. Als König von Preußen habe Ich am 27. Januar dieses Jahres kundaegeben, daß Ich bei Beleidigungen Meiner Perlon von Meinem Begnadigungsrecht größeren Gebrauch machni will. Es ist Mein Wunsch, auch im Gesetze den Bestrafungen wegen Majestätsbeleidigun- gen engere Grenzen gezogen zu sehen. Eine Vorlage für den Bundesrat wird vorbereitet. Die Beziehungen zum Auslände. Die allgemeine politische Lage berechtigt zu der Zuver sicht, daß uns der Friede weiter erhalten bleibe« wird. Zu unseren Verbündeten erhält Meine Negierung die alten herzlichen, zu den anderen fremden Mächten gute und korrekte Beziehungen. Der am 11. Januar dieses Jahres unterzeichnete V e rtrag mit Dänemark, der durch Negeluna der Verhältnisse der Optantenkinder störende Reibungen beseitigen soll, wird, wie Ich hofße, das freundlich; Verhältnis zu unserem nördlichen Nachbarstaate kräftigen, Auf Grund der Anregungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Vorschläge der russischen Negierung habe Ich die Einladung zu der zweiten Haager Friedenskonserenz angenommen, di« berufen sein wird, im Anschlüsse an die Ergebnisse der ersten Haager Konferenz das Völkerrecht im Sinn« des Friedens und der Humanität weiter auszubilden Und nun. Meine Herren, möge das nationale Emvfinden und der Wille zur Tat, aus dem dieser Reichstag Hervor geyanyen ist, auch über seinen Arbeiten walten — Deutsch land zum Heil!" Vas Neueste vom Lage. (Dir nach Schluß der Redaktion elngegaogenen Depeschen stehen auf der 3. Seite de« HauptblattrS.) Der neue vberpräfident von Schleswig-Holstein. Wie die „Kreuz,tg." hört, ist der Landrat a. D. v. Bülow auf Brofsee zum Oderpräsidenten der Provinz Schleswig- Holstein ernannt worden. v. Martens. Der gestern früh von London nach dem Haag zurück- gekebrte ru,fische StaatSrat v. MartenS erklärte, es sei ziemlich sicher anzunehmen, daß die zweite Friedens konferenz noch gegen Mitte Mai beginnen w.-rde. Die Abrüsiungssrage stehe jeder Regierung frei vorzubringen. England babe bis jetzt weder Form noch Jnbalt eines solchen Vorschlags formuliert. — Die Fassung dieser Depesche laßt allerdings in verdächtiger Weise eS vurchblicken, daß v. Mariens in London jetzt erfahren hat, daß ein solcher Antrag von englischer Seite in Aussicht genommen ist. König Viktors valkanfahrt. Im Anschluß an seinen Aufenthalt in Athen wird König Victor Emanuel dem Bukarester Hofe einen Besuch abstatten und bei dieser Gelegenheit eine Annäherung zwischen Griechenland und Rumänien auzubabneu suchen. — Italiens Balkanpolitik wird sehr aktiv und sehr interessiert. Tie Solivarftät des französischen «tnisteriumS ist, wie nunmehr feststeht, wieder hergestellt. Briand hat über die Vermietung der Kirchen an die G-istlicken eine neue Vertragssormel aufgestellt, die von allen Ministern, ein schließlich Clemenceau, gutgeheißen wird. Die Regierung wird diese Formel heute der Kammer unterbreiten und erklären, daß sie unter keinen Umständen über die darin gemachten Konzessionen hinauSgehe und es den Vertretern der Kircke überlasse, ob sie von diesem Vertrag Gebrauch machen wollen oder nicht. Die heutige Kammerdebatte dürste ziemlich ruhig verlaufen. Die Kriegsromane. Im Oberbause erklärte Lord Tweedmoutb auf eine Anfrage, ob ein Uebersall der englischen Küsten bei einem plötzlichen Kriegsausbruch möglich sei: Der Änsrager scheine vorausruietzen, daß England von Räuber völkern umgeben sei. ES müßle doch eine drohende Zu- spitzung dec Spannung zu den in Betracht kommenden Ländern vorauSgegangen sein. Man brauche sich also nicht auszuregen bei dem Gedanken, daß die englische Flotte einmal bei AuSbruch eines KiiegeS in Neu-Seeland liegen lönne. Heule bestehe überhaupt keine Kriegsgefahr: die Beziehungen Englands zu allen Großmächten seien ausgezeichnet. polnisches. o. L. Seuiorrnkonvcnt nutz «cschSflSorpnungSkaunnisfion des Reichstage» werden, wenn die GeschältSiührung im neuen Reichstag eine schnelle und sachliche Erledigung der notwendigen Arbeiten gewäbrlcisten soll, nicht umhin können, sich alSbalv mit mancherlei Reformen zu beschäftigen. Die Notwendigkeit solcher Resormen ist schon gegen über dem alten Reichstag so oft eingehend drgrüuvet woroen, daß wir unS deute auf Vie Hervorhebung der wichtigsten Punkte beschränken können. Was die Plenar» beratüngeu anbetrifft, so ist ihre Beschränkung aus vier Tage wöchentlich, unter Freilassung des Sonnabend und Montag, zu wün>chen, ferner eine ftste Kontingentierung der Etatsberatungen nach dem Muster deS Abgeordnetenhauses. Hinsichtlich der Kommissionen tut vor allen Dingen eine gründliche Reform und wesentliche Beschleunigung des Wahl- prüsungsverjabrenS not; und ferner wäre alSbald eine Regelung der Berichterstattung über die Kommissions beratungen sür die Presse zu erwägen, um endlich zu ver hindern, daß die beiden Lesungen einer Vorlage in der Kom mission nahezu denselben Charakter aunehmen, wie die Plenar beratungen. * Ter »eatfch'-olntsche Schulftreik. Dem „Berl. Tage- blatt" zufolge scheint der Schulstreik in der Provinz Polen au vielen Orten im Rückgang begriffe« zu sein. Aa vielen Stellen belchränkt sich b,e Zahl der streikenden Schüler auf die Kinder einiger weniger Fanatiker. In zahlreichen Schulen wird in den nächsten Tagen das gänzliche Aushöreu des Widerstandes erwartet, insolgedeffen arbeite« die Fana tiker mit den gröbsten Mitteln, um die Deutschen, besonder» die Lebrcr, einzuicbüchteru. In Weißenhöhe, wo gleichfalls der Schulstreik abflaut, erhielt der Lehrer mehrere Briese, in denen ihm der Tod durch Bomben und Dynamit an gedroht wird. Redakteur Jankowski vom „Dzienurk Ku- fawSki" wurde von der Strafkammer Hohensalza wegen Aufforderung zum Schulstreik in zehn Fällen zu 1000 Geldstrafe verurteilt. * Gegen den BremSerlatz. Der „N. Hamb. Zig." wird aus Kiel gedrahtet: Eine Konferenz sämtlicher Bürgermeister Schleswig-Holsteins ist zum 3. Marz nach Neumünster eiuberusen, in der ein gemeinsame- Vorgehen gegen den BremSerlaß deS Kultusminister» durch Einführung gleich mäßiger Gehaltssätze sür sämtliche Lehrer SchleSwig-HotsteiuS beschlossen werden soll. * Entlassung wrlstscher Arbeiter. Aus Göttingen meldet ein eä-Privattelegramm: Die Königliche Eisenbahn direktion hat der amtlichen .Göttinger Heftung" zufolge alle die in den Königlichen Eisenbahnwerkstatten Göttingen» beschästiaten Arbeiter, die am Tage der Reich-taa-wahl in den Werkstätten welfische Flugblätter und welfische Stimm zettel verteilt haben, entlassen. * Prozesse gegen Sozialdemokraten. Da» Kommando der Schutziruppe hat wegen Beleidigung der Offiziere der Schutztruppe Strafantrag gegen den Sozialdemo kraten ArnSwald gestellt, der als Redner in einer Wähler versammlung am 13. Januar in Frohwiokel über die grau same Kriegsführung in Südwestafrika gesprochen hatte. — Die Strafkammer 4 beschloß die Wiederaufnahme de- Pro zesse- gegen den Redakteur des sozialdemokratischen »Hamb. Echo", WaberSki, welcher verurteilt wurde wegen eine- Artikels über den Krawall am Schoppeasteel. WaberSki wurde vorläufig aus der Haft entlassen. — Von der Anklage der Aufreizung zu Gewalttätig keiten wurde Redakteur Thiele vom „VolkSblatt" in Halle gestern freigesprochen. E- Warrn 9 Monate Gefängnis beantragt. * König Eduard. Wie aus Marienbad gemeldet wird, traf dort die Nachricht ein, daß König Eduard beabsichtige, auch in diesem Jahre wieder zum Kurgebrauch nach Marien- bad zu kommen. * Der Kanal-Tunnel. Die Mitglieder de- Parlaments, die den Bau deS Tunnels unter dem Kanal befürworten, sind für morgen ins Unterhaus geladen, um dort die Pläne zu besichtigen, die später öffentlich ausgestellt werden sollen. * Prinzessin Clementines Leichenfeier. Die feierliche Einsegnung der Leiche der Prinzessin Clementine vonKobuig findet am 20. Februar, 2 Uhr nachmittags, in Anwesenheu Feuilleton. Ich becksure cien üüann, cker von Dau bis kerseba reisen uncl dann sagen kann: alles ist ückel Und so ist e«, uncl so ist clie ganre Wett dem, cker nichts aus cken krüchten ru machen weip. ckie sie ihm ckarbietet. Ich erkISre: wSre ich in einer Wüste, ich fände darin 8toff genug für meine hiebe, uack wenn nicht anders, so hefte ich sie an einen freuncklichea lAgrtenstrauch ocker schlösse Freundschaft mit einer trauernden Zgpresse. Sterne. Die Veheme als soziale» Problem. In jenen Zeiten, als Deutschland noch von spekulierenden Philosophen bevölkert wurde, brachte jeder Tag Bücher, rn denen wohlausgebaute Systeme der Aesdhetik mit tiefsinnigen und sehr bestimmten Untersuchungen über Ziele der wahren Kunst voroetragen wurden. Es ist kein Schade, daß das Zeitalter des deutschen Professors Vergangenheit geworden ist, aber es bedeutet eine Rückständigkeit, daß man bei uns noch immer so gut wie gar keine brauchbaren Unter suchungen darüber findet, in welchen alloemeinen Voraus- ietzu^en eine so interessante und schwierige Erscheinung wie der Künstler wurzelt. Trotzdem wir alle die Kinder einer sozial empfindenden Zeit sind, ist die eine Fülle von Pro- blemen enthaltende Frage nach dem Verhältnis des künst lerischen Individuums zum Prinzip der Gesellschaft noch nicht anders, als impressionistisch von Literaten selbst, asso noch nicht grundsätzlich in Angriff genommen worden. Das ist um so ausfallender, als noch nie «ine Zeit reicher an den Extremen war, die immer das geeignetste Studienobjekt bieten. Ganz unsoziale, noch mehr, ganz bewußt anarchistische Künstlerexfftenzen stehen unmittelbar neben jenen, die die ebenso radiml ausgebildet« Tendenz einer kommunistischen Gesellschaftsordnung vertreten. (Daß jede Möglichkeit Erscheinung und Bewußtsein geworden ist, macht übrigens das Wesen der modernen Zeit aus.) Es wird daher unvermeidlich, jenes Verhältnis deS künstlerischen In dividuums zum Prinzip der Gesellschaft auf das Grund- Problem vom Gegensätze deS Individuums überhaupt zur Gesellschaft zurückzuversolaen. Eine engere Be trachtung, die gegenüber dieser philosophischen nur von historischer Bedeutung wäre, hätte nebenbei dw Wirkung der jeweilig bestehenden Gesellschaftsordnung N die äußere Existenz de« künstlerischen Dasein«, kurz den Künstler als Milieuprodukt zu untersuchen. Da» Beste, was bis heute über letzteres Thema geschrieben wurde, ist noch immer d,e Einleitung, di« Henri Murger seiner „Ao- oder Szenen aus dem Pariser Künstlerleben" voraus- chcckt«. Man sollte, über der entzückenden Liederlichkeit der Tzene« sewst, d,e d,e Boheme zu einem internationalen Be- KL soeben eine mit Zeichnungen von Franz Bayros ausgestaltete Uebertragung von Paul Greve.) Murger stellt einige Thesen auf. Die Boheme ist nicht identisch mit dem Künstlerleben, sondern nur seine Vorstufe, sie ist nicht Selbstzweck, sondern Ausgangspunkt. Wenn er sagt, sie sei die Vorrede zur Akademie, zum Hospital oder zur Morgue, so läßt er über seine eigenen Sympathien keinen Zweifel, indem er am Schluß seine Zigeuner aus der Sackgasse ihres bisherigen Lebens auf jenen Weg ent läßt, der zur Akademie führen wird. Das alles will nichts anderes heißen, als die Boheme ist in erster Linie ein Pro dukt sozialer Not und selbst der Glanz, der über sie aus gegossen zu sein scheint, ist nicht viel mehr als eine Notlüge oder rin Selbstbetrug. Die Boheme ist ein sozialer Stand, zu dem sich jeder verurteilt sieht, der ohne Vermögen Künstler lim weitesten Sinne, es gehören auch alle Arten der Schriftsteller dazu) wird. Es war zu allen Zeiten ral- samer, sich nicht außerhalb des Systems der allgemeinen Arbeitsteilung oder derienigen Betätigungen zu setzen, die in den verschiedenen Zeiten für unentbehrlich iKxieger, Söldner, Mönche! aalten. Und das ist selbstverständlich: das künstlerische Bedürfnis ist etwas Sekundäres, und es besteht keine Möglichkeit, die Nachfrage so zu regeln, daß sie allen Produzenten zugute käme. Daher ist die Boheme so alt wie die Welt und der erste große Bohemien, den wir kennen, ist noch Muraer der Dichter, der Helenas Liebesabenteuer und Trojas Fall besang — er lebte davon, daß er herumzog und um Gunst heischte, sozial betrachtet ein Bettler, ein Schma rotzer der Gesellschaft. Das gleiche gilt von allen seinen Be- rufsgenossen bis zur französischen Revolution: sie ivurden nicht von der Masse der Bevölkerung für eine Gegenleistung unterhalten, derart, daß sie in einem geregelten geschäft lichen Verkehr mit dem Publikum standen, sondern sie waren auf die Gnade der regierenden Kaste, im Grunde so gar nur auf die der großen Herren angewiesen, und be- warben sich daber um sie. Wenn man ganz nüchtern auf gelegt ist, findet man allen Grund, die Minnesänger des Mittelalters, Walter von der Voaelweide nicht ausge schlossen, eine schamlose Erpresserbande zu nennen: aber auch Tasso, Shakespeare, Moliere lebten keine unabhängige Existenz und müssen sich darum von Murger ebenfalls Vo- hemienS nennen lassen. Selbst diejenigen, die in dem vor modernen System der Gnodengebälter und der Geschenke die reichsten Pfründen erhielten oder ein glänzendes Leben führten, gehören zur Boheme: nicht bloß, weil ihr Glück ein Zufall war, sondern auch, weil sie nicht sür gesellschaftlich voll angesehen wurden. Dos war so in dem kunstliebenden Griechenland, in der Renaissance, in Paris und überall. Die Grandseigneurs bewunderten wohl die Kunst, aber sie verachteten die Künstler. Und in den fahrenden Leuten, den Schauspi«l«rn, find die Bohemiens ganz deutlich solche Pa ria« geworden. — Sie nehmen die erste Stelle ein, wenn man eine Rangordnung des ungesicherten LebenS ausstellen will: ihnen folgen die lyrischen und dramatischen Dichter. In weitem Abstande erst hieraus di« Maler. Architekten und Plastiker, die sich alle von den Schauspielern und Dich tern dadurch au-zeichnen, daß die Nachfrage nach ihnen größer, ibre Lausbahn geregelter war und daß sic nicht nur auf ixm festen Boden des mittelalterlichen Handwerkes ent standen sind, sondern auch infolge de« Zunftzwanges wie die Bäcker oder Gerber ein« Innung in den Niederlanden -. B. di« Gt. LvDalgUd«, bild«!««. Im modernen Zeitalter ist beides gefchwunden, die soziale Mißachtung des Künstlers und feine Aushaltung durcy die Grotzen und Reiche»: denn wenn das norwegische Storthing seinen Lichtern eine Ledensrente aussetzl, so erfolgt diese im Ramen der Gesamt heit des Volkes. Da also die Literatur ein geachteter und mehr oder iveniger nahrhafter Beruf geworden ist, den Thespiskarren des wandernden Komödianten der Staub eines Jahrhunderts überzogen hat und die Maler, wenn schon sie durch das Aufhören des Zunftzwanges das Risiko eines freien Berufs übernahmen, über eine Anzahl von bürgerlichen Möglichkeiten verfügen, so beschcäntt sich heute der Begriff der normalen Boheme auf eine oestimmie Klasse der Anhänger eines freien Berufes: auf die Vermögens losen, und unter ihnen wieder aus ein bestimmtes Alter, die Jahre der Ansängerschaft. Was über eine gewisse Zeil bm- aus in der Boheme verbleibt, um sie nicht mehr verlassen zu können, das sind jene Ällzuvielen, die eine dekadente Struktur besitzen und ihr Geschick nicht >n die eigenen Hände zu nehmen verstehen oder überhaupt nicht für nötig finden. Hiermit kommen wir zum Problem des Bohemiens aus Anlage, von dem wir schon sahen, daß ihm wie über haupt allen großen menschlichen Fragen das soziale Urpro blem vom Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft zu grunde liegt. Murger erzählt in derselben Vorrede witzig von einigen Ueberläusern der Boheme, jungen Studenten mit zehn tausend Franken Reute, die es ober vorziehen, ihre gesicherte Bürgerlichkeit auszugeben, um unter den Bohemiens an Hunger und Elend zu sterben: teils weil sic der Meinung ind, daß Leiden erhöhte Gefühle mit sich bring;, teils well ie der Geist der Unaebundenheit, der Unruye, der Romcniik ockt. Tie Boheme hat also eine Stimmung, d. b. auch aus ihr sprechen jene tiefen Stimmen des Lebens, die andere Wege der Existenz verheißen, eine andere Art, das Dasein einzurichten und auszufassen, als diejenige ist. die wir er wählt haben oder in die wir uns ohne injer Zutun durch die Verhältnisse gestellt haben. Die Boheme bedeutet sub jektiv gegenüber der Bürgerlichkeit die Ungebnndenveir, oder sie kann sogar objektiv die Freiheit bedeuten. Sie ist nicht nur die liederliche Pathetik von Literaten und Leuten, die posieren, statt nachhaltig zu empfinden, sie kann auch einem starken und tiefen Geist als eine der großen Möglichkeiten erscheinen. Ibsen hat nach einem starren Leben, aas sich selbst nie die Lyrik einer zärtlichen Weichheit erlaubt, spät am ülbend den John Gabriel Borkmann und den Epilog von den Toten, die erwachen, geschrieben, in denen auch er diesen Stimmen eines anderen Lebens als des seinen, den Stim men der Leidenschaftlichkeit, des Genusses ind der Fülle Rechenschaft ablegt: und er erschüttert, weil er diese Sehn- sucht tragisch in altgewordcnen Menschen erwachen läßt: niemand ist so stumpf, daß er hier nicht den verzehrenden Drang nach einem heftigen, reichen, vielfachen Leben als seine eigenste Angelegenheit empfände. Jeder muß seinen Weg wählen, der ihn dann von allen anderen ausschlicßt, aber wer natürlich und mir jener Ge- sundheit fühlt, die man Temperament nennt, weiß wenigstens, daß er auf seinem acwäblten Wege Schranken gegen das Leben und die vielen Möglichkeiten ausbaut. Und warum sollte er nicht, wenn seine Sehnsucht sehr stark ist, wenigstens versuchen, ob e« ihm nicht gelingen wird, sich der Enge eine» vorgeschriebene« Leben» zu entziehen, La bil Gesellschaft von ihm verlangt, für La» st« Gesich« und Institutionen geschaffen hat, dessen Ordnung überhaupt ihr Werk ist? Und es gibt viele Wege für dieienigen, die ihre Individualität für so stark halten, daß sie ihr die Lebens weise der Gesellschaft ersparen wollen. Die wenigsten sind kühn genug, den Kampf gegen die Gesellschaft selbst auszu nehmen, sie zu stürzen, Lander zu erobern. Aber auch sic werden damit enden — die Gesellschaft wieder einzurichten, und wenn sie philosophisch denken können, so haben sie nur zweierlei gelernt, daß die Gesellschaft unentbehrlich ist und daß sie erdrückend ist; sie haben persönlich erfahren, daß das Problem vom Verhältnis des einzelnen zur Gesamtheit nicht restlos zu lösen ist, weil es eben ein Problem ist — die Gesellschaft siegt immer, der einzelne unterliegt immer. Andere finden die Mittel, das gesättigte Gefühl eines ab wechslungsreichen Lebens zu erlangen, zwar nicht mehr in der Tot, aber noch immer im unmittelbaren Umsetzen des Instinktes in die Tat, im Genuß. Milliarden von Liebes fällen, jeder interessant durch die Verknüpfung von Um ständen, waren, sind oder werden Tatsache sein: aber jeder einzelne, der stark an Empfindung ist, fühlt sich fähig, sie alle interessant und begehrenswert zu finden. Er kennt nur ein Mittel: in der kurzen Spanne seiner Jugend möglichst intensiv, möglichst viele von ihnen zu erleben. Er wird nie gesättigt werden. Ein letztes Mittel zeigt sich: die Kunst. Die Phantasie ist zeitloser und sie kann alles vorwcgnehmen, was der Wirklichkeit unerreichbar erscheint: sie gibt die intensivsten Assektionen. und sie erlaubt, immer frei zu bleiben, ohne die Folgen eines Erlebnisses zur Grundlage einer Existenz machen zu müssen. Die Kunst ist das Hilfs- mittel, das das Individuum erfand, um über die Schranken der Gesellschaft hinaus zu gelangen. Wenn ein Drama eine starke Wirkung auf uns ausübt, io weckt es unsere Sehnsucht noch einem bedeutungsvoller geführten Leben, es rüttelt uns auf aus dem Alltag, in dem wir uns alle einrichten, fo wenig wir cs auch zugeben würden. Die Jugend ist poetisch: sie hat noch keinen Zoll von ihren großen Forderungen an das Leben zurückzunehmen gelernt. Wenn wir „reif" werden, heißt das nichts anderes, als daß wir im Kampf des Lebens den stolzen Radikalismus unseres Tempera mentes unterdrücken mußten, daß wir konservativer ge worden sind: haben wir erst die Berechtigung anderer Auf fassungen kennen gelernt, so haben wir auch die Resignation gelernt. Ein ausschweifendes Verhältnis mit dem Leben führen zu können, ist daber die tiefste Lockung, die von der Idee des Künstlerdase,ns ausgeht. Darin liegt auch die Stimmung der Boheme, die das gesellichoftliche Prinzip, den viel beschimpften Philister oder Bourgeois als Gegensatz, aus dem sie sich entwickelt und aus dem sie ihre Nabruna zicbt, gar nicht entbehren kann. Und was zuerst nur ein Produkt des Zwanges war, das unregelmäßige, wilde Zusallsl:ben wird sofort auch vertieft: es wird sür die Phantasie ein Mittel, Bewußtsein zu erlangen: eine ruhelose nervöse Vor stellung vom Leben verlangt auch nach dem ewigen Wechsel von Zufälligkeiten, von Hunger und Sättigung, Entbehrung und Verschwendung nach einer unbekümmerten Liederlich- keit. Wenn ein Künstler nach einigen Jahren die Boheme ausoibt. um deS großen Ehrgeizes und der Arbeit willen, so ist auch das jene Resignation, daß man nur einer Mög lichkeit leben kann, ob«r einmal war man dem Ideal, vom Leben und zugleich von der Kunst einen möglichst intensive» Geschmack -» erhalten, so «he. tote e» Wensch« kt»
- Current page (TXT)
- METS file (XML)
- IIIF manifest (JSON)
- Show double pages
- Thumbnail Preview