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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.01.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-01-23
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960123023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896012302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896012302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-01
- Tag1896-01-23
- Monat1896-01
- Jahr1896
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Gröstree Schriften laut unserem Preik- verzeichniß Tabeltarischer »ud Ziffernsatz nach höhere»! Tarif. Ez;tr«-PeUagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60—, mit Postbesörderung .Ul 70. -. Allnahmeschlub für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Für dir Montag.Morgen.Ausgabe: Sonnabend Mittag. Lei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an d,e i^xpedttio« zu richten. Truck und Verlag von E. Polz in Leipzig. iss. Donnerstag de« 23. Januar 1896. 90. Jahrgang. MUJsl 11 ! "II ! — II^ W7I NI Ol—^ pl b Polittsche Tagesschau. * Leipzig, 23. Januar. E» wird immer wahrscheinlicher, daß die Beralbung des M«mie-Gtgt» im Reichstage einen hochpolitischen Charakter annehmen und zu heißen Debatten führen wird. Während nämlich von der einen Seite daraus gedrungen werden wird, daß die verbündeten Regierungen sich nicht auf die in diese» Etat eingestellten Forderungen beschränken und die Bewilligung einer größeren Anleihe für Marinezwecke verlangen, wird von der anderen Seite nicht nur dieses Drängen entschieden bekämpft, sondern wobl gar die Notbwendig- keit der in den Etat bereits eingestellten Forderungen bestritten werden. Was die Reichsregierung betrifft, so erfahren die „Bert. N. N." von angeblich unterrichteter Seite, die von der Regierung mit den Führern der einzelnen Fraktionen des Reichstags gepflogenen Verhandlungen über eine größere Anleihe für Marinezwecke hätten zu einem nega tiven Ergebniß geführt und cs werde deuinach von der Ein bringung einer derartigen Forderung Abstand genommen werden. Wir sind natürlich nickt in der Lage» die Richtigkeit dieser Angabe mit Bestimmtheit festzustellen, müsse» ihr aber die innere Wahrscheinlichkeit zuerkennen. Daß der jetzige Reichstag für eine über die im Etat vorgesehene beträchtlich hinausgehende Floltenverstärkung nicht zu haben sein würde, müßte von vornherein als zweifellos angesehen werden. Das ausschlaggebende Ce nt rum läßt sich zwar, wenn auch niemals ohne Zögern, herbei, eine patriotische Rede anzn- hören, schon viel schwerer, einen der Seinigen eine halten zu taffen — der klerikale Reichstagspräsitenl durste nichl einmal der Gründung des deutschen Reiches im Reichslag ge denken —, aber das ist auch Alles. Materielle Opfer läßt der Ultramontanismus, soweit au ihm liegt, für das deutsche Reich nur gegen hohe Vergütung und auch dann nur im kleinsten Maße bringen. Da das Centriim für eine Marine- Bewilligung unentbehrlich ist, so ist cs überflüssig, die Frage zu erörtern, ob auf alle Antisemilen und Conservativen gerechnet werden könnte. Im Jahre 18!) t hat bekanntlich eine große Anzahl conservativer Abgeordneter im Gefolge des Herrn v. Ploetz die Bewilligung einer thatsächlich in den Rahmen der langst in Aussicht genommenen Flottenverstärkung fallenden, verhältnißmäßig geringen Summe verweigert. Es entsteht nun die Frage, ob die Regierung trotz des sicheren Mißerfolges mit einer Forderung an den Reichstag treten und ihre „Quittung" fordern soll. Das wäre unseres Erachtens bedenklich. Ein solches Vorgehen könnte nur den Zweck haben, dem Lande zu zeigen, wie cs mit seiner Ver tretung bestellt ist, und bann diese Vertretung nach erfolgter Ablehnung aufrulösen. Es unterliegt nun allerdings keinem Zweifel, daß Neuwahlen, die mit der Parole „Verstärkung der Bertheidigungsfähigkeit" ausgeschrieben würden, mehr Aus sichten böten, als im vorigen Jahre vorhanden waren, wo man bier und dort dieAuflösung wegen der Umsturzvorlage verlangte. Ob aber eine nationalpolitisch brauchbare Mehrheit zu Stande zu bringen wäre, ist bei der Verwirrung, die in die Partei- Verhältnisse durch die Agrarfragen gekommen ist, keineswegs sicher und ein Mißerfolg bei Wahlen würde für die nationale Sache folgenschwerer sein, als die Verschiebung eines Planes oder eine parlamentarische Niederlage. Jedenfalls — und daS nicht auszusprechen, halten wir für unvereinbar mit unserer journalistischen Pflicht — jedenfalls würde bei Neuwahlen der Umstand, daß eine große Marine- sordrruug im uumittelbaren Anschluß an den Triuksprnch des Kaisers beim Festbanket am 18. Januar erfolgt wäre, nicht überall eine günstige Wirkung Hervorbringen. Nach unsrer bereits betonten Ueberzeugui.g stein dieser Trinkspruck, in voller Uebereinstimmung milder vorher verlesenen kaiserlichen Botschaft und soll keineswegs eine „Wellmacktvolitik" einleiten, sondern nur eine d eutscke Politik, die sich ihrer Pflichten auch gegen die Deutsch n ini Auslande bewußt ist. Aber auch darüber, wie weit eine solche Politik zu gehen habe, machen sich sehr ver schiedene Ansichten geltend, von denen die eine in dem Organe des Fürsten Bismarck vertreten wird Heute bringt dieses Blatt einen Artikel, der an die Rede des Herrn von Bennigsen auf dem Festmahle der nativnalliberalen Partei zur Feier des 18. Januar anknüpft und Folgendes auSfübrt: „Im Interesse von Reich und Volk ist zu wünschen, daß die Annahme des Herrn v. Bennigsen sich stets bewahrheite. Deutsch land wird dann sowohl vor Schwäche nach innen oder außen wie vor der Gefahr bewahrt bleiben, die Fürst Bismarck in seiner Reichö- tagsrede vom 6. Februar 1888 schilderte, indem er äußerte, daß jede Großmacht, die außerhalb ihrer Interessensphäre aus die Politik anderer Länder zu drücken und einzuwirken suche, außerhalb des Gebietes periklitire, das Gott ihr angewiesen habe, Macht- und nicht Jnteressenpolitik treibe und aus Prestige hin wirthscbafte. Auch die Fragen, die der deutschen Politik auk colonialem Gebiete gestellt sind, werden ihre richtige Losung nur finden, wen» sie vom Standpnncte der deutschen Interessen behandelt und von Be einflussungen durch Macht- oder Prestigebedürfniß frei gehalten werden. Die Hauptaufgabe der deutschen Politik wird auch in der nächsten Zukunft immer darin bestehen, den Frieden zu sichern und die innere Entwickelung vor Storungen zu bewahren. Auswärtigen Unternehmungen, wie sie Frankreich z. B. vielfach unternommen hat, nni dem nationalen Ehrgeiz zu schmeicheln, um Eroberungs« gelüsten oder auch dem Ablenkungsbedürsniß der Regierung zu dienen, widersprechen den Gesichtspunkten, vo» denen jede deutsche Politik, wenn sie nicht entarten soll, geleitet bleiben muß, und es ist deshalb nur zu wünschen, daß auch in der Zukunft nichts versucht wird, was außerhalb ihrer Bestimmung liegt, die vorhandenen deutschen Inter essen zu wahren, de» Frieden und die Prosperität des Reiches zu fördern. Wir glauben, daß Deutschland noch genug mit sich selbst zu thun hat und deshalb vor der Versuchung bewahrt bleiben muß, sich eiiiziimischen, sobald irgendwo in Europa oder sonstwo etwas los ist. Wenn irgendwo Ereignisse rintretrn, die unser Interesse, unsere Sympathie oder Antipathie erwecken, aber deutsche Ansprüche nicht berühren, so wird es von der deutsche» Politik stets richtig und zweckmäßig gehandelt sein, immer erst abznwarteii, was die zu nächst betheiligten Mächte thun, und sich danach einzurichten. Das Vordrüngen in solchen Fragen, aus der Nachhand i» die Vorhand, erzeugt stets Nachtheile, die, wenn nicht sofort, dock im weiteren Verlaufe der Dinge um so schwerer fühlbar werden. Man kann verschiedener Ansicht darüber sein, ob es richtig ist, wenn außerhalb der amtlichen Reichs-Politik oder durch die Presse deutsche Parteinahme für Ereignisse eintritt, die unser Interesse nicht direct berühren, jedenfalls ist es in der Situation unseres Landes und von Besonderheit seiner Interessen begründet, daß es bei niiS noch mehr als in jedem anderen Staate vermieden wird, eine solche Parteinahme in der amtlichen Politik zum Ausdruck gelange» zu lassen und früher Stellung zu nehmen, als dies nach den eigenen Juteressen des Reichs erforderlich erscheint. Jedenfalls sind wir der Ansicht, daß, wen» der Wunsch des Herrn v. Bennigsen sich erfüllen und der Bismarck'jche Geist die politischen Entschließungen unserer Nation leiten und beeinflussen soll, dies ein großes Maß von Ent haltsamkeit gegenüber dem Antriebe voraussetzt, in auswärtigen Unternehmungen, auch wenn sie deutsche Interessen nicht direct berühren, Partei zu ergreifen." ES ist sonnenklar, daß Neuwahlen, bei denen ein Thcil der kämpfenden Parteien auch nur mit einem Anscheine von Recht auf Warnungen des Fürsten Bismarck sich berufen könnten, zu den heillosesten Verwirrungen führen und die Position gerade der Vertbeidiger einer großen Anleiheforderung zu Marinezwccken verschlechtern würden. Denn cs sind ja gerade die wärmsten Anhänger deS Altreichskanzlers, die mit einer solchen Forderung einverstanden sind. Unter diesen Um ständen halten wir es für vollständig begreiflich nicht nur, sondern auch für durchaus gerechtfertigt, wenn die ver bündeten Regierungen aus das Experiment, den Reichstag wegen Ablehnung einer größeren Anleiheforderung für Marinezwecke aufzulösen, sich nicht einlassen und lediglich daraus dringen, daß die dringenden Bedürfnisse, die ihren Ausdruck durch die in den Etat bereit? eingestellten Forderungen gesunden babcn, befriedigt werden. Bei der Beratlmng des Marine-Etats wird es ja, wie gesagt, nicht vermieden werden können, daß die Gegensätze scharf auf einander platzen. Hoffentlich legt man sich aber von allen Seiten wenigstens die Beschränkung auf, die gerade bei der jetzigen allgemeinen politischen Constellation nöthig ist, um das Ansehen des Reiches im Auslaute zu wahren Mit besonderer Befriedigung verzeichnen wir die Aus lassungen eines russischen Blattes anläßlich der Jubel feier des deutsche» Reichs. Die „Nowoje Wremja", welche in Beziehungen zum Auswärtigen Amt in Petersburg stehend, bisher gewiß nicht in dem Gerüche der Deutscksremitlichkeil gestanden hat, schreibt, nacktem sie conslatirl bat, daß vor 25 Jabren die führende Rolle in Europa von Frankeeicb aus Deutschland übergegangen sei, u. A.: „Wir halte» cs für müßig und unzeitgemäß, aus die Ursachen zuriickjukommen, weshalb die deutsche Nationalfeier Europa in einer Stimmung findet, die ganz anders ist als in einer mir wenig zurück liegende» Vergangenheit. Es wird genügen, die Thaisache der voll zogenen Wandlung zu betonen und daran zu erinnern, daß der junge deutsche Kaiser daran persönliche» und unmittel baren Anthcil hat. Es ist unzweifelhaft und augenscheinlich, daß die internationale Politik Deutschlands iin letzte» Jahre viel dazu deigetragen hat, die Geister zu beruhigen und den Glauben an die Dauer des europäischen Friedens zu festigen. Der Dreibund besteht freilich »och fort, aber die Macht der hiswril'che» Ereignisse hat seinen bedrohlichen Charakter radical ver ändert. Die auswärtige Politik der führenden Macht hat seit vorigem Frühjahre ihren Eurs jäh verändert, indem sie nicht vor besoiideie» Vereinbarungen mit den Mächten zurückjchrectte, zu deren Be kämpfung die „Friedensliga" begründet und vor 5 Jahre» erneuert wurde. Am politischen Horizont erscheint schon die Möglichkeit der Bildung einer anderen internationale» Evm bi Nation, als deren Frucht sich für England die Unmöglichkeit ergeben kann, die Stellung zu behaupten, die es zu Anfang des lausenden Jahres eingenommen hat. Man kann glauben, daß Kaiser Wilhelm die Zeit für gekommen erachtet, da das vor einem Vierteljahrhunderl gegründete deutsche Reich seine internationale Stellung zur Genüge gefestigt hat und, dadurch befriedigt, sich in Ruhe der Ordnung seines complicirten inneren Baues widmen kann. Bor Anbruch des neuen Jahres hat der Kanzler Fürst Hohenlohe in das deutsche Parlament den Entwurf eines BürgerUchen Gesetzbuches gebracht, und der Präsident des Reichstages Vnol sagte, daß die Vorlage der Regierung a» Inhalt, Umfang und Bedeutung alle Ausgaben übertresfe, mit denen das Parlament in den letzten 25 Jahren zu thun gehabt habe. Die politische Bedeutung dessen, was sich ün Parlamente abgespielt, scheint uns unzweifelhaft. Es ist kein Grund mehr (es hat nie eine» gegeben. Die Red. d. Leipz. Tagebl.) an die Gerückte zu glauben, welche von der Möglichkeit einer plötzlichen, durch den Wille» des Kaisers hervorgerusenen Wandlung iin gegenwärtigen Staaisbau Deutschlands wissen wollen. Einem Parlament, das die Regierung mit Mißtraue» betrachtet, wird eine so wichtige Ausgabe wie dee Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht anvertraut. Kaiser Wilhelm kl. halt es osseiibac für möglich, Deutschland mit der gegenwärtige» Verfassung weiter zu regieren, und es ist sehr wohl denkbar, daß diese Ueberzeugung im Zusammenhang steht mii der charakteristischen Schwenkung in der auswärtigen Politik. Ei» Deutschland, dos aufgehürt hat, eine Drohung für den Frieden und die Ruhe Europas zu sein, und das seine Kriegsmacht nützt, um alle Volker des Continents vor de» Folgen der Jntrigue Englands zu schuhe», die beinabe eine» allgemeinen Brand entzündet hätte, ein solches Deutschland können wir aufrichtig beglückwünschen zum heutigen 25. Jahrestage seiner vollzogenen nationalen Einheit — die so lange eine Gefahr für die Einheit und Ruhe Europas zu sein schien." Weiter heißt es i» einem zweiten an den Toast des Kaisers beim Diner im königlichen Schlosse zu Berlin an knüpfenden Artikel: „Am Schlüsse der Tischrede weist der Kaiser hin aus seine zahl- reichen Landsleute, die sich im Auslände befinden, und dieler Hinweis könnte möglicherweise in England mißfallen, jedoch bei den gegenwärtigen Umständen wird keine der europäischen Nationen die Unzusriedenbeit der „Jingos" theilen. Alles beweist, daß Kaiser Wilhelm nicht nur für den gegenwärtigen Augenblick die Aufrechterhattnng des europäischen Friedens wünscht, sondern auch sich ein vollkommen bestimmtes Bild vo» den für die Erreichung dieses Zieles zweckdienlichsten Mitteln gemacht hat. Seine der endgiltigen Ordnung des inneren Ausbaues des Reiches gewidmeten Sorgen geben parallel mit seinen unablässigen Anstrengungen, die friedliche Entscheidung der internationalen, durch den Charakter der äußern Politik der britischen Negierung verschärften Fragen iicherzustetleii. Tie Früchte dieser Aniirengungen beginne» mit jedem Tage demlicher zu Tage zu treten: die Transvaal- Frage hat, wenignens zeitweilig, ihren für den europäischen Frieden gefahrdrohenden Charakter verloren, und die türkischen Armenier beginnen, der Nothwendigkeit, mit der türkischen Regierung sich auszusbhnen, sich bewußt zu werden. Das in vollkommene Jsolirtheit gerathene England schick, sich ossenbar bereits a», sogar auch in der Venezuela-Frage den Rückzug anzutreten .... Tie Rolle Deutschlands ist in Alledem allzu augenfällig, als daß es nöthig wäre, darauf noch be- sonders näher einzngeheii. Se. Majestät Kaiser Wilhelm hat allen Grund, inik dem Rejuitaie seiner gegenwärtigen äußeren Politik zu frieden zu sein, und besonders bemerkenSwerth erscheint uns die weise Mäßigung, mit der er dieser seiner Zufriedenheit Ausdruck verliehen hat. Der 25. Jahrestag der Proclamation des deutschen Reiches ist von ihm geleiert worden unter Len Bedingungen, die sehr gute Hoffnungen für die Zukunft einflößen." Das Jrrtbümliche an diesen sonst im Allgemeinen sehr treffende» Ausfübrunsten springt sofort in die Augen: Nicht Deutschland bat jählings seine Politik geändert, die niemals bedrohlich für den Frieden Europas war nilv niemals darauf ausging, irgend Jemanden anzn- greifen, sondern in der Beurtheilung der Haltung Deutsch lands durch die russische Diplomatie und öffentliche Meinung ist eine Aendernng, eine Wendung zum Bessern eingetreten. Auch wir wollen nicht aus die Ursachen dieses Umschwungs »über cingeben, wir stellen nur fest, daß er eingetreten ist, daß das bisher von russischer Seile gegen de» deutschen Curs gehegte Mißtrauen — wie tief es gegangen, zeigen gerade die obigen Auslassungen der „Now. Wr." — aufrichtiger Anerkennung, rückhaltlosem Lobe und ungebeucbeltein Vertrauen Platz ge macht bat. Zweifellos sind diese Artikel die Symptome einer — hoffentlich dauernden — Wandlung der russischen Politik, die einmal kommen mußte, weil sie allein im Wohl verstandenen Interesse des Zarenreichs liegt. Ob aus der Ueberzeugung, daß der Dreibund nur friedliche Zwecke ver folge, die logische Cvnsequenz gezogen werden wird, daß nun der Zweibund Rußland-Frankreich überflüssig geworden und die Gunstbezeigungen de- russischen Hofes für die Regierung FeiriHetsir. Armalise's Pflegemutter. isj Romen von L. Haidheim. Nachdruck vcrbotrn. Die Bäuerin war zugesprungen. „Nur rin Schwindel!" stammelte Annakise und suchte sich ausrecht zu halten. Sie führten sie in die Stube. Die Lampe auf dem gedeckten Tische, di« augeuehme Wärme — eS war Annalist, als ob sie plötzlich anS einem schrecklichen Traume zu sich komme. Aber ihre Gedanken ginge» so wirr durcheinander. „Me« liebes Kind! Wie kommen Sie hier her? Ganz naß! Dora, sebe Sie nur! Die Schuhe total durch näßt. Sie wollten mich einmal wieder besuchen und haben sich verirrt ? Und da wurde das gnädige Fräu lein sehr bange? Na, na, jetzt sind Sie hier,^«nd nun setzen Sie sich mal hin, daß Dora Ihnen die Stiefel abzieht. Dora, Sie muß dem gnädigen Fräulein Strümpfe leihen." Der alte Mann lies hin und her, holte ein reines, wenn auch ganz zerfetztes Taschentuch, trocknete Annalise'S Haar damit, hing ihren Hut und den Mantel an den Ofen und schleppte dann seine alten zerrissenen Pantoffel herbei. „Ein Schelm giebt- bester, als er hat, liebes Kind. Dore, die Suppe, und backe Sie schnell einen Eierkuchen. Wir müssen unserem Gast eine Ehre anthun. Wir habe» doch auch Zucker im HauS? Junge Damen essen gern Süßig keiten." Zwischen sein freundliches Zureden hinein schrien und lärmten seine Vögel; der Rabe kam angehüpft: „Scköne Geschichten! Schöne Geschichten, alter Junge! Dore, Essen her, Essen her!" Annalisr lag in dem alten, zerrissenen Lehnstuhl, hatte den Kopf etwas rurückgeworfen und überließ sich wider standslos ihrer Abspannung. Wie viel Stunden sie umhcraeirrt war, wußte sie nicht; sie hatte in der ganzen Zeit in furchtbarster Aufregung ihre Lage nach allen Seiten überdacht, immer dabei sich sagend: „Ich habe keinen Menschen, zu dem ich gehen kann," und doch, von einem Jnstinct getrieben, zu dem alten Mann flüchtend, den sie schon einige Mal besucht hatte, und der ihr eine große Dankbarkeit entgegen trug. War es Zufall, daß sie, wie er eS nannte, daS Leben eines ManneS rettete, dessen Name der idres Vaters war, ein Name, von dem sie früher nie etwas wissen wollte. Jctzt saß sie hier, wußte ganz genau, wo sie war, fragte sich aber völlig verwirrt, wie sie hierhergekommen, und verlor dann diesen Gedanken wieder über dem einen, schrecklichsten. Keiner will von mir wissen, ich bin der Ueberlästig, daS Nichts! Sie werfen mich weg wie Spreu!" Und Plötzlich, plötzlich brach mit einem wilden Thränen- strom der andere Gedanke in ihr hervor: „Joachim! Joachim! O, mein armer geliebter Freund! Ich darf Dich nicht unglücklich machen!" Sie hatte daS Alles laut, in brennender Verzweiflung gcschrien, schlug die Hände über de» Kopf zusammen und schrie nnd weinte so haltlos, so untröstlich, daß der alte Doctor ganz verstummt und rathtos stand. Er begriff, sie war sterbensunglücklich, sie liebte Joachim von Linowitz. Aber was that sie dann hier bei ihm? Als er ihr gütig mit der Hand über daS Haar fuhr, ergriff sie sie mit ihren beiden, und auS einem wahren ParopySmuS von Perzweifnng hörte er nun ihre abgerissenen Erklärungen. „Sie müssen mich aufnehmen! Ich — ich muß sonst — sterben —. Ich weiß nirgend, nirgend hin, — in der ganzen Welt ist kein Platz für mich!" schluchzte sie. Er saß neben ihr. streichelte ihr Haar, ihre Hände und sprach beruhigende liebe Worte. Er war äußerlich ein ganz verwahrloster alter Mann, von einem Gentleman, in seiner Erscheinung war wenig zu bemerken; dennoch fühlte Annalisr nach und nach, sie hatte einen edlen, liebevoll«» Menschen gefunden, der selbst des Bitteren mehr als zu viel erfahren. „Miserable Welt!" sagte der Rabe, „Torr, Essen her!" NaH und nach beruhigte Annalise sich, oder vielmehr, ihre Kräfte waren völlig erschöpft. Sie ließ mit sich machen, was der Bogelvoetor und Dore wollten, aß etwa» Suppe, trank Wein, wurde dann auf da- Sopha gebettet und war im nächsten Augenblick in einen unrubigen Halbschlaf gesunken, den der Alte mit besorgten Mienen beobachtete. Er fühlte ihren Puls. Fieber, starke« Fieber! Sir sprach oft abgerissene Worte, warf sich herum, schrie auf oder weinte. Die halbe Nacht ließ er die Dore neben deui Sopha sitzen und Annalise kalte Compreffen auf die Stirn legen, bis sie stiller wurde. Er selbst schlief wenig. Daß seine junge Namensverwandte zur Zeit nirgend hin wußte, war ihm völlig klar geworden; sur ihren Liebesroman, in welchem der Junker von Linowitz, den er für einen sehr braven jungen Herrn hielt, die entscheidende Rolle spielte, hatte der alte Mann nur geringes Verständnis; und noch weniger Interesse. Eine durchaus natürliche, aber egoistische Hauptfrage ging ihm peinigend im Kopfe herum: „WaS sollte er i» aller Welt mit einer so feinen, junge» Dame in seiner kleinen Häuslichkeit ansangen? Sie störte ihn unglaublich, er wurde ganz nervös, wenn er sich auS- dacbte, wie viel Rücksichten er werde nehmen müssen. Und er würde sie doch gern wie ein KönigSkind gehalten scheu. Sie war ein reizendes Geschöpf und seine LebenSretterin! Denn, hätte sie ihn damals nicht besuchen wollen, so wäre er und die Taubstumme wahrscheinlich elend umgekommen. Gewiß, er schuldete ihr großen Dank, er wollte ihn auch gern abtragen; aber was in aller Welt sollte er mit ihr hier anfangen? Welche greuliche Unbequemlichkeit schon für ihn, den ganzen Tag ein anderes menschliches Wesen um sich zu haben, selbst ein holdes! Er, der fast seit dreißig Jahren ganz einsam lebte! Aber wie daS arme Kind wieder loS werden? Ein aufrichtiges Mitleid war der Dank, den sein Herz ihr zunächst zollte. Danach grübelte er unablässig. Zuletzt siel ihm ein rettender Gedanke ei». Er mußte sich an ihre und seine Familie wenden, sie war doch immer hin eine Sonnegg. Aber von welchem Zweig? Als sie ihn im Herbste kurz nach seiner Genesung besuchte, hatte sie ibm mir großer Bitterkeit in Bezug auf ihren Vater gesagt: „Meines Vaters Familie hat ihn von sich gestoßen, wie einea Unwürdigen, ich weiß nicht, warum? Mau hat meiner Pflegemutter nur erzählt, daß er eine schöne, junge Frau au- altadeliaem Hause entführt habe, die aber ganz arm und eine Waise war; meine Eltern sind beide im Elend gestorben, und mich hätte man inS Waisenhaus gebracht, wenn die Baronin Platow mich nicht aufnahm." Daran erinnert« sich der alte Vogrldoclor, und al« dann seine Vögel anfingen zu singen und zu zwitschern, die Papa geien dazwischen schrien und sprachen, und der Rabe sein „Essen her!" schnarrte, wurde er ganz ergrimmt auf seine Lieblinge, dir ihm die Schläferin störten. Aber Annalise schlief rubig Weiler. Der alte Mann stand aus, Zog sich an und zwar besser als seit vielen Monaten und schlick dann in Socken in der Stube umher, um die Vögel zu füttern. Seine alten niedergclretenen Pantoffeln wagte er nichl anzuziehcn, — Annalise könnte sie brauchen muffen, sie standen vor dem Sopha. Und als der Tag vollends hell heraufgekommen war, sab er zum eisten Mas, wie verstaubt und ungemüthlich das Zimmer aussab, wie schmutzig nnd abgenutzt die Tapetcu. wie schäbig und vernachtäsjigt seine Möbel. DaS erfüllte ihn noch mehr mit Unbehagen. „Sie muß fort, sie paßt durchaus nickt hierher!" sagte er sich wieder und Dore erklärte in der Küche, wo er heule seinen Morgenkaffee trank, dasselbe. Als Annalise erwachte, wußte sie sich minutenlang gar nicht zurecht zu finden. Sie war allein. Wo war sie denn nur? Eine beklemmende Angst packle sie und dann erinnerte sie sich. „Wie ein loSgrrisseneS Blatt!" daS war ihr erstes Cm- pfindeu. Nnd kann: „Joachim!" Der ganze HerzenSjammer von gestern war wieder wach Nichts Anderes vermochte sie zu fiiblen und zu denken «IS leidvollste Sehnsucht und: „Er leider ebenso wie ich." Sie wollte sich erheben; eine Unmöglichkeit. Ihr wurde schwindlig und ganz schlecht davon. Dennoch versuchte sie eS wieder und wieder. Zitternd vor Pein bemühte sie sich, sich ein wenig zurecht zu mache»; glücklicherweise kam Dora und hals. Der Herr Doctor hackle Hotz, berichtete sie dabei und that aUerbaiid neugierige Frage«. DaS kalte Wasser, welche« sie Annalisr aus ihre Bitte zum Waschen brachte, that dieser wohl; aber der Kopf schmerzte sie zum Zerspringen, ihre Glieder ebenso; sie schleppte sich mühselig herum. ^ Kaum hatte sie ihre Haarflechten aufgelöst und den Ver such gemacht, sich mit ihrem Taschenkamm zu srisiren, so sank sie ohnmächtig zusammen, und Dora mußte sie mit Hilfe des Doctor» wieder aus daS Sopha betten. So lag sie, als plötzlich ein fester Männerschritt im Hause erklang, rasch, direct auf die Stubenthür zu. Sie flog auf. Ein Aufschrei höchster Freude: „Da ist sie! Annalist, meine Annalise!" Joachim war'«; athemlos, nichts sehend und denkend, als das Eine: Er halte sie gefunden. Und sie lag matt und
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