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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.09.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-09-23
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030923026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903092302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903092302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-09
- Tag1903-09-23
- Monat1903-09
- Jahr1903
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Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren sür Nachweisungen und Offertenannahme 25 H (excl. Porto). Extra Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung ./i «0.—, mit Postbesörderung 70.—. Ännatsmeschluß für Anzeigen: Abeud-Ausgabe: Bormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von srüh 8 bis abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Nr. 485. Mittwoch den 23. September 1903. 97. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 23. September. Katzenjammer ist daS Zeichen, unter dem die sozialdemokratische Presse nach den wechselseitigen Dresdner Abschlachtungen stellt. Auch im sozialdemokratischen Zentralorgan, im „Vorwärts", kommt diese Stimmung unverkennbar zum Ausdruck. Sie kleidet sich in eine lange Klage darüber, daß auf dem Dresdner Parteitage die sachliche Arbeit im Vergleich mit den persönlichen Fehden viel zu kurz gekommen sei. Ja, der „Vorwärts" verrät sogar Besorgnis vor der Wirkung des würdelosen Gezänks unter den Arbeitern, indem er schreibt: „So unverwüstlich das Vertrauen der Arbeiter in die Sozialdemokratie ist, es wird wahrlich besser erhalten durch sachliches Wirken, als durch erniedrigende Anschul digungen der führenden Männer wider einander." — Erne zweite Klage des sozialistischen Zentralorgans betrifft die mangelhafte Fühlung unter den leiten den Parteiinstanzen. Man erfährt dabei, daß die sozialdemokratische Parteileitung monatelang nicht versammelt war, ein Umstand, der um so schmerzlicher empfunden wurde, als „unser Bebel", das „einflußreichste" Mitglied der Parteileitung, fern in der Schweiz in seiner Küßnachter Villa weilte. Die „Genossen" von der Parteileitung haben sich mithin zum mindesten in dieser Stellung für das Proletariat nicht auf gerieben. Auch die sozialdemokratische Presse in Pro ¬ vinz und Reich ist nut dem Verlaufe des Parteitages höchst unzufrieden. „Geradezu niederdrückend" findet der Hannoverjche „Volkswille" die persönlichen Kämpfe, und er bezeichnet es recht treffend als eine Forderung der „öffentlichen Reinlichkeit", daß solche Debatten ein für allemal unmöglich gemacht werden. Die letzteren er scheinen hsr Frankfurter „Volksstimmc" gleichfalls „un endlich traurig" nach Form und Inhalt, während sie der „Bremer Burger-Zeitung" den Entrüstungsschrei ent locken: „So känn es nicht weiter gehen!" Einen Rettungs versuch macht allenfalls die „Sächsische Arbeiter-Ztg." Sie hatte die mühevolle Aufgabe, sowohl Bebel zu verherr lichen, wie Vollmar nach Kräften hcrauszustreichen und in täglichen Stimmungsbildern zur Erbauung des großen Haufens solche Eiertänze vorzuführen. Unter den Folgen dieser Stilübungen wehrt sich natürlich das Dresdner Sozialistenorgan gegen die „Genossen", die vom Partei tage einen niederbrückenden Eindruck empfangen haben; aber selbst die „Sächsische Arbeiter-Ztg." gelangt schließlich zu dem Ergebnis: „Es ist abzuwarten, ob die Unterwerfung (der Revisionisten) in dem Verhalten, im Handeln zum Ausdrucke kommt. Ist es der Fall, so darf man mit dem Ergebnis der Debatte zufrieden sein." Selbst daS Dresdner Blatt also, das aus rein äußerlichen Gründen, nämlich als das am Orte der Tagung erscheinende Sozialisten organ, den Parteitag durch eine rosenrote Brille betrachtet, kann sich ernster Zweifel über die Wirksamkeit deS Parteitagsbeschlusses nicht entschlagen. Wenn dasselbe Blatt sich über die Dresdner persönlichen Abschlachtungen mit der Phrase hinwegsetzt, daß dieselben nicht ins Gewicht fallende „Aeußerlichkeiten" seien, so muß es sich von der „Wiener Arbeiter-Ztg." dahin belehren lassen, daß der persönliche Hader „peinlich bi» zur Widerwärtigkeit" war. Die Sozial demokratie des Auslandes dürfte von den Dresdner Verhandlungen überwiegend den gleichen Eindruck er halten haben. Damit jedoch ist ohne Zweifel eine Erschütterung der angesehenen Stellung verbunden, deren die deutsche Sozialdemokratie bei den ausländischen „Genossen" sich erfreute. Auch auf die deutschen Arbeiterkreise werden die katzenjämmerlichen Stimmen der sozialdemokratiscbcn Presse nickt ohne Einfluß bleiben, und wären die Dresdner Schimpf tage mit ihrem Nachklange den letzten Reichstagswablen vorausgegangen, so würden diese sicherlich wesentlich anders ausgefallen sein. Aber die nächsten steben noch in weiten: Felde und bis dahin wird der sozialdemokratische Katzen jammer sicherlich gewichen sein. Die Gegner der „Genossen" haben cs ja noch immer trefflich verstanden, dem Diktator Bebel und seinen Trabanten neuen AgitationSstosf zu tiefer», und daß er sich auf die Ausnutzung solche» Stoffes noch ebenso wie in seinen besten Tagen versteht, hat er in Dresden überzeugend bewiesen. Tie Rcichsfinauze» und das bayerische Zentrum. Daß die Ernennung eines bayerischen Staats beamten zum Staats>ekretär des Reichsschatzamtes in den Kreisen der bayerischen Klerikalen angenellm berllbrt hat, gebt auch aus einem Aufsätze der „Historisch Poli tischen Blätter" hervor. Die genannte einflußreiche Zeitschrift bemüht sich indessen gleichzeitig, nicht den Gedanken daran aufkommen zu lassen, daß infolge der Ernennung des Herrn v. Steilgel die Stellung deS Zentrums im allgemeinen und der bayerischen Klerikalen im besonderen gegenüber der Reichssinanzreform eine mehr entgegenkommende geworden sei. Vermutungen in dieser Richtung hatte die „Freisinnige Ztg" betreffs des bayerischen Teiles der kleri kalen ReichStagssraktion geäußert. Die „Historisch-Politischen Blätter" bezeichnen daS als eine „vollständige Verkennungver tat sächlichen Lage".— Und inBczug aufdie gesamteZentrumsfraktion behaupten die „Historisch Pol. Blätter", daß sie „einstimmig" alle Versuche, „die Vorschläge automatischer Regelung von 1893 auf Nebenwegen einzuführen, abweisen wird; wir sprechen das mit vollem Nachdruck aus in Kenntnis der Stimmung aller einzelnen Teile der Zentrumsfraktion." — Bekanntlich bat sich Freiherr von Stengel dahin ver nehmen lasten, er wolle die „schlimmsten Uebelstände" beseitigen und im übrigen den Effekt der Zollerhöhungcn abwarten. Hieran anknüpfend, raten die „Histor.-Pol. Blätter", als schlimmsten Uebelstand endlich einmal die „unsinnige An lage der Matrikularbeiträge zu beseitigen, die eine Kopfsteuer sind." Sonst aber gebe es kein anderes Medikament als Sparsamkeit. Wie Frech, v. Stengel sich zu diesen Winken stellt, wird man wohl bei der nächsten Etatsberatung hören. Beeinträchtigung einer neuen deutschen Schule in Rumänien. Bisher wurden die deutschen Schulen im Auslande außerhalb des deutschen Sprachgebietes von den Behör den der betreffenden Staaten mit Wohlwollen behandelt und in ihrer Wirksamkeit nach keiner Richtung hin be schränkt oder beeinträchtigt. Leider ist über eine be dauerliche Abweichung von dieser Praxis zu berichten. Das Bukarester Diakonissenhaus gründete kürzlich in Plvjest eime achtklassige deutsche Mädchenschule. Als das rumänische Unterrichtsministerium die Erlaubnis dazu erteilte, legte cs der neuen Schule die sonderbare Be dingung auf, bei Strafe sofortiger Schließung weder Töchter von Rumänen, noch von rumäni ¬ schen Untertanen a l s S ch ü l e r i n n e n anf- zuneh in e n. Eine derartige Bedingung wurde unseres Wissens bisher weder den deutschen Schulen in Rumänien noch in irgend einem anderem Lande aufgezwungen. Für die neue deutsche Schule in Rumänien, wie für die dort lebenden Deutschen erscheint diese Bedingung deshalb ganz besonders hart, weil in Rumänien viele deutsch sprechende Familien leben, die ihre deutsche Staatsange hörigkeit verloren haben aus Grund der Bestimmung des deutschen Gesetzes über den Erwerb und Verlust der Siuatsangehörigkeit, nach der diejenigenD mischen,di.'zehn Jahre ununterbrochen im Auslände geletzt haben, ihre Staatsangehörigkeit ohne wciter.'s verlieren, falls, sic sich nicht etwa bei dem zuständigen Konsul anmelden und eintragcn lasten. Diese demschsprechendcn Nachkommen deutscher Znwau- derer werden vo« der rumänischen Regierung als rumänische Untertanen behandelt, besitzen aber gleichwohl nicht die Rechte der rumänischen Staats angehörigen. Für die Kinder dieser dcutschsprechenden Eltern ist der Besuch rumänischer Staatsschulen mit Schwierigkeiten verbunden. Auch aus anderen Gründen senden diese Eltern ihre Kinder mit Vorliebe in deutsche Schulen, wo solche vorhanden sind. Nunmehr soll ihnen zunächst in Plojcst die Benützung der deutschen Schule unmöglich gemacht werden, obwohl diese Schule unter Oberaufsicht des Staates steht und obwohl die übrigen deutschen Schulen in Rumänien sich des besten Rufes und auch der Anerkennung der rumänischen Behörden er freuen. Hoffentlich läßt sich das rumänische Uuterrichts- msinsteriuin zu der Auffassung bekehren, daß die Bedin gung, die es der neuen deutschen Schule in Plojest aufer- legw, sich nicht aufrecht erhalten läßt. Sollte es aber wider Erwarten ans seiner Entscheidung beharren, die so wenig deutschfreundlich ist, so müßte den betroffenen deutsch sprechenden Familienvätern die nachträgliche Wiederer langung der deutschen Reichsangchörigkett tunlichst er leichtert werden, damit sie ihre Töchter in die neue deutsche Mädchenschule schicken können ohne das Bestelle» dieser Schule zu gefährden. Im übrigen mahnt das sonderbare Verhalte» des rumänischer, Unterrichtsministeriums zur Beschleunigung der schon seit Jahren geforderten Reform des deutschen (Gesetzes über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870, insbesondere zur Beseitigung der befremdlichen Bestimmung über den Ver lust der Rcichsaugehörigkeit, durch die viele Tanscndc von Deutschen im Auslände entrechtet und dern Deutschen Reiche und Volke entfremdet wurden. Bocrcnirekks nach Deutsch-Sttdwcstafrika? Aus Windhoek, 15. August, schreibt man uns: Vor einigen Tagen sprach eine aus vier Köpfen bestehende A b - ordnung von Boeren, als Sprecher ein gewisser Thomas de Wett, beim Gouverneur vor. nm sich Auskunft über Ansiedelnngsverhältnisse nsw. geben zu lassen. Die vier Boeren erzählten von großen Trekks-Gesinnungs- genossen, die sie hinter sich hätten und die auch kommen wollten, sich in Südwestafrika anzusiedeln. Als es nun an die bezüglichen Fragen ging, stellte eS sich heraus, daß diese Leute genau dasselbe wollen, wie die unzähligen „Deputates", die vor ihnen Windhoek und das Gouvernement mit ihren Visiten beglückten, nämlich: Alle Rechte, die jeder Deutsche für sich in Anspruch nehmen kann, wenn er hierher seinen Wandcrstab setzt — aber keine Uebernahme von Pflichten. In erster Linie verabscheuen sie tief die allgemeine Wehr- pflicht, ihre Herren Söhne sollen frei sein davon; wenn es einmal zum Schieben käme, wollten diese — auch ohne den vorher erhaltenen Drill — ihre Gewehre in unfern Dienst stellen. Ferner wünschen sie die Erlaubnis zur An lage rein boerisckier Dörfer, in deren Mitte eine refor- miert-niederdeutsche Kirche, eine Unterstützung vom Staate zum Halten eines Holländisch lehrenden Schulmeisters, Ansiedelungsbeihülsen an Geld oder Vieh usrv. So weit nicht das Interesse des Staates oder des Deutschtums mit ihren Forderungen kollidierte, erhielten die vier Leute zu sagende Antworten, sehr bedrückt schienen sie aber, daß die böse Wehrpflicht ihren Söhnen nicht erspart werden könnte. Nach den bisherigen Erfahrungen wird auch diese ganze Konferenz, wie fast alle bisher erfolgten, ohne Re sultat bleiben, an die in Aussicht gestellten einwandernden Boerentrekks glaubt hier niemand, wir können sie wohl auch entbehren; denn: kein Boer wird ein guter Deutscher, trotz aller schönen Reden! Deutsches Reich. * Berlin, 22. September. Ueber die deutschen Ar beiter - Fach organisationen im Jahre 1902 bringt das „Reicks Arbeitsbl." eine Uebersickt, in der die sogenann ten freien Gewerksckaften, die christlichen Gewerkschaften und die Hirsck - Dunkerscken Gewerkvereine berücksichtigt sind, während die keiner dieser Gruppen angehörigen unabhängigen Arbeiterfachvereine demnächst besonders behandelt werden sollen. Die Zahl der gewerkschaftlichen Zentralverbände belief sich im Jahre 1902 auf 60 mit 733 206 Mitgliedern gegen 57 im I. 1901 mit 677 510 Mitgliedern; ihre Mitgliederzahl ist also um 55 696 Personen oder 8,2 v. H. gewachsen. Unter der Gesamtzahl befanden sich 28 218 weibliche Mitglieder gegen 23 699 i. I. 1901, also gegen das Vorjahr 4519 oder 19,0 v. H. mehr. Die 60 Zentralverbände umfaßten 8634 Zweigvereine, ihre ge samte Jahreseinnahme für Vereinszwecke betrug II097 744,16 jllre Gesamtausgabe 10 005 528,52 X, und der in den Kassen verbliebene Bestand in Höhe von 10 253 559 hat sich gegen das Jahr 1901 nm 1 455 227 vermehrt. Die Ausgab« für Unterstützungszwecke verschiedenster Art erreichten im Berichts jahr die Höhe von 3 845 351 (im Vorjahr 3 231 398 ^0, daS Ber« bandsorgan erforderte 798 480 (782 737) ^l, und für Streikunter- tützungen wurden 1930 329 (1901 1878 792, dagegen i. I. 1900 2 625 642) verausgabt. — Zum „Gesamtverbande der christ lichen Ge werkschaftrn Deutschlands" gehörten 20 Organ!- ationcn mit 977 Ortsgruppen und 84 652 Mitgliedern. Seit dem Vor jahre hat eine Zunahme um 5775 Mitglieder stattgefunden. Der Gefamtverband hatte 466 909,95 .Sl Einnahmen und 328 455,85 Ausgaben und Ende 1902 einen Kassenbestand in Höhe vo« 335 085,76 An verwandten Organisationen, die aber dem Ge samtverband sich nicht angeschloffen haben, zählt der Bericht noch 10 auf, die in 945 Ortsgruppen 105 248 Mitglieder umfassen, so daß die Gesamtzahl der „christlichen" Gewerkschaften am Ende des Be richtsjahres sich auf 189 900 (14 155 mehr als im Vorjahr) belief. Arbeiterinnen befanden sich darunter 4077, die fast aus schließlich aus die Textil- und die Heimarbeiterinnen entfielen. — Die 21 Hirsch-Dunkerschen Gewerkvereine umfassen 1992 Lrtsvereine und 102 581 Mitglieder gegen 95 506 im Vorjahre, sie zeigen also ein Wachsen der Mitgliederzahl um 7345 oder 7,7*/«. Feuilletsn. IS1 Ingeborgs Linder. Roman von MargareteBöhme. Siail krack v-rbolen Auf der anderen Seite des Saales ging Fritz vorüber, und an seiner Seite, eng an ihn geschmiegt, die schlanke Französin aus der Zeit des Direktoriums. Die Augen des Kreuzfahrers waren Thyras Blicken gefolgt. „Sie ist auch ein paar Jahre früher aufgestanden, als du", sagte er, und es wollte Thyra scheinen, als läge in der unbefangenen Acußerung etwas wie eine schalkhafte oder boshaft« Anzüglichkeit. Sie kam nicht dazu, sein« Absicht zu analysieren, denn die Musik setzte plötzlich wieder ein, und zwar mit ejnem rauschenden Fortissimo, aus dem sich bald eine jener prickelnden Tanzweisen entwickelte, die unwillkürlich mit fortreißen, die auch dem Tanzfaulsten in die Füße zucken, daß sie auf- und abwippen, und es nicht abwarten mögen, bis sie sich im Takte drehen können. Ein solcher Tanz ist Tanz, ist Lust, ist Vergnügen. Die Alten werfen die Last ihrer Jahre ab und werden wieder jung in den prickeln den, schäumenden Tonwellen, die über sie hinrauschen, und die sie mit fortziehen in den jubelnden Strudel, und die ngen fühlen im Tanzwirbel erst den Hochgenuß ihrer gend, die sie leicht und sorgenledig auf den Wogen de» ohsinns dabinträgt, und vor ihren leuchtenden Blicken formen sich im Rausche des Tanzes lockende, goldene Märchen kommenden Glückes. Wie elektrische Funken fuhren die Töne in die bunte Menge. Alles tanzte, alles drehte sich im atemlosen, selbst, vergessenden Wirbel, bis die Musik mit einem schmettern den Stakkato aufhörte. In dem allgemeinen Durch- einander wurde Thora von ihrem Tänzer getrennt. Rasch atmend lehnte sie sich an ein seitwärts stehendes Tischchen; das Tanzon hatte sie heiß gemacht, und die fein'e, seidene Maske wurde ihr lästig. Eine kleine, weiche Hand legte sich plötzlich auf ihren Ann. ..Auf einen Moment", sagte eine leise Stimme. „Komm mit." Ueberrascht -lickte Thyra auf die vor ihr stehende Zigeunerin. Es sollte wohl eine Mignon sein, aber dafür Ivar die zierliche Figur eigentlich zu üppig. An dem brennend roten seidenen Rock und dem Bolero glitzerten Goldstickereien und Zechinen. Das lose Blusenhemd war sehr tief dekolletiert — so tief, wie sich — ohne Anstoß zu erregen — nur Chansonnetten niedersten Genres, oder sehr vornehme Damen dekolletieren dürfen. Lange Ketten von Perlen und Goldstücken rieselten vom Halse nieder, uud aus dem gelbseidenen gefranzten Kopftuche quoll eine Flut schwarzer natürlicher Löckchen ungefesselt über den Rücken. „Komm mit", wiederholte die Unbekannte. „Nur ein Weilchen. Gleich kehren wir wieder hierher zurück. Ich will dich deinem Vergnügen nicht lange entziehend „Das ist Nebensache", gab Thyra zurück, „ich stelle mich gern zu Ihrer Verfügung, aber ich fürchte, Sie irren sich in meiner Person." „Komm!" Und die Zigeunerin nahm Thyras Hand und zog sie mit sich. Thyra konnte sich nicht entsinnen, einer ähnlichen Er- scheinung schon begegnet zu sein. Aber da es sich offenbar nur um einen Irrtum seitens der Dame handelte, der sich gleich aufklären mußte, folgte sie ihr ohne Widerstand durch zwei an den Ballsaal stoßende Räume und durch eine Tür auf den Korridor. Am Ende desselben öffnete die Dame wieder eine Tür und ließ Thyra in ein nur schwach erhelltes Zimmer treten, das, wie das Bett an der einen Längsseite andeutcte, wohl als Gastzimmer diente. Auf dem Tisch brannte eine niedrige Lampe. In der Ecke stand ein eleganter Rohrplatienkoffer, und auf den Stühlen und dem Teppich lagen verstreut Kleidungsstücke und sonstige Gegenstände, deren wunderliches Durcheinander darauf schließen ließ, daß die Bewohnerin hier vorhin Toilette gemacht hatte. „Mignon" nahm die Maske ab. Ein fremdes, scharf- geichnittenes, blasses Gesicht, in dem die roten vollen Lippen und die schwarzen Augen den unregelmäßigen Zügen einen eigenen pikanten Reiz verliehen, blickte Thyra, die sich gleichsfalls demaskierte, au. Die Fremde hatte beide Arme um die Lehne des Stuhls, hinter dem sie stand, geschlungen. Minutenlang schien es, als ob sie vergebens nach Worten suchte. Dann seufzte sie vernehmlich und legte die seine, bis an die Fingerknöchel mit Ringen besetzte Hand über die Augen. Die Situation wurde Thyra mit jeder Sekunde be fremdender und peinlicher. Vergebens wartete sie darauf, daß die ihr unbekannte Dame ihren Irrtum zugestehcn oder sie wenigstens anreden und zum Platznehmen auf fordern werde. Endlich brach die Fremde ihr Schweigen. Mit einer.jähen Bewegung, die sich fast wie affektierte Heftigkeit ausnahm, ließ sie die Hand von den Augen sinken und sah Thyra groß an. „Also Sie sind Thyra von Röuniger! Ja, was frage ich?! Du bist es!" rief sie emphatisch. „Uitter Millionen Menschen hätte ich dich herausgefunden . . . Sag . . . Glaubst du an eine Stimme des Blutes?" „Ich war nie in der Lage, sie zü vernehmen", ent gegnete Thyra, eigentümlich berührt. „Ich selber habe keine Blutsverwandte. . . Wie schon gesagt, irren Sic sich entschieden in meiner Person, gnädige Frau." „Irren? Ich irren? Wie könnte ich irren, wo ich dir Äug' in Auge hier gegenüberstehe. Du hättest keine Bluts verwandte? So glaubst du! So haben sic dich glauben machen. Deine Mutter glaubst du tot. Es ist nicht wahr, sage ich dir. Sie haben dich belogen, betrogen. Deine Mutter ist nicht gestorben, sic lebt, sie steht vor dir, sie sehnt sich darnach, ihr ältestes, geliebtes, verlorenes Kind an ihr Herz zu ziehen! Du glaubst es nicht! Es klingt dir wie ein Märchen . . . Und doch ist es Wahrheit, süße, freudige, beglückende Wahrheit! Deine Mutter steht dir gegenüber . . . Thyra, mein liebes, teures Kind . . . . Komm in meine Arme! Ich habe dich wiedergefunden!" Sie breitete die Arme aus und wollte auf Thyra zu schreiten, aber diese wich unwillkürlich vor der Nahenden zurück. „Sie werden es begreiflich finden, daß mir gerade dieses Thema als Gegenstand eines Solo-Maskenscherzes traurig genug scheint", sagte sie kalt. „Du willst mir nicht glauben! Du kannst das Wunder bare, daß du noch eine Mutter hast, nicht fassen. Dein Verstand sträubt sich, die Stimme des Herzens und des Blutes anznhören und anzuerkennen . . ." Thyra schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich weiß nur, daß meine Mntter lange im Grabe liegt, und daß die Toten niemals wiederkehren." „Mein Gott! Lieber Gott!" die Dame faltete die Hände über der üppigen, entblößten Brnst und wanderte sichtlich erregt ein paar Mal im Zimmer auf und ab. In das Rauschen des kokett auf- und abwippcndenRöckchens mischte sich leise das Klirren der Goldstücke und der Perlenketten. Auf Thyra begannen die mysteriösen Andeutungen und überhaupt das seltsame Gebühren der Fremden allmählich auch cinzuwirken; eine unbestimmte Angst drängte sich ihr ans Herz. Woher kannte die Frau sie? Woher wußte sie ihren Namen? Wozu überhaupt die ganze unwürdige Komödie? ,Hch darf wohl um eine Erklärung bitten, oder diese Unterredung als beendet betrachten, gnädige Frau . . ." „Ein paar Minuten bitte... da setz' dich. Ich will dir alles erklären." Und sie rollte einen der kleinen plüsch bezogenen Fauteuils dicht vor Thyra hin, warf sich hinein und kreuzte, den Kopf zurücklehnend, die Hände hinter dem Nacken. Zwei, drei tiefe Atemzüge .... „Ich kann mir denken, daß dir meine Enthüllungen wie ein phantastischer Fiebertraum Vorkommen mögen. Das Leben schreibt manchmal so seltsame Romane. Deine Mutter liegt im Grabe, sagst du! Wo denn? Haben sie dir je gesagt, wo du ihre Grabstätte suchen konntest? Haben sie dir je ihren Totenschein gezeigt? Nein! Nein, das war nicht möglich, da die angeblich Tote noch lebte! Nicht der Tod, sondern das Leben haben deinen Bater vorzeitig zum Witwer, mich zur Witwe gemacht. Ich will versuchen, dir kurz alles zu erzählen. Du bist ja alt und verständig genug, um vorurteilslos abzuwägen und zu prüfen .... Sie machte eine kleine Pause, während der sie langsam die rechte Hand hinter dem Kopfe hervorzog und nachdenk lich, ohne Thyra anzuschauen, ihre rosigen, gepflegter» Fingerchen betrachtete. „Ich war das einzige Kind des Freiherr» von Have« land. Mein Bater stand als Hauptmann bei einem Ka vallerie-Regiment in Stuttgart. Meine Kindheit war, ob gleich meine Mutter früh gestorben, eine glückliche, sorgen freie. Ich ivar des Vaters Liebling, sein Stolz, seine ganze Hoffnung . . . Leider starb er, als ich keine sechs, zehn Jahre zählte, und da er anstatt Vermögen eine nicht unbeträchtliche Menge Schulden hinterließ, wurde ich au» Barmherzigkeit in die kinderreiche, aber auch wenig be- mittelte Familie eines Bruders meines Vaters ausge nommen, in der ich durchaus nicht aus Rosen gebettet war. Da lernte ich deinen Vater, Cornelius von Rönnigcr, kennen. Er verliebte sich in mich, und ich gedankenlose» Kind, froh mein eigenes Heim zu bekommen, nahm offne lkeberlegen seinen Anirag an. Es war nicht gnt getan . . . Unsere Ehe war von Anfang an eine verfehlte, unglückliche. Wir waren zu verschieden an Temperament und Neigungen, als daß unser Zusammenleben sich harmonisch gestalten konnte. Sr
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