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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 30.07.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-07-30
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020730021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902073002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902073002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-07
- Tag1902-07-30
- Monat1902-07
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Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahme 25 H (excl. Porto). Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung SO.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen.Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stet- au du Expedition zu richten. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Pol» in Leipzig. Mittwoch dm 30. Juli 1902. 96. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 30. Juli. Heute ist Bismarcks Todestag. — Der Journalis mus ist eine abstumpfende Beschäftigung, wenigstens so weit das Gefühlsleben in Betracht kommt. Wer unter den College» das nicht zugeben will, der möchte, und das aus falschem Schamgefühl, eine ganz natürliche Erscheinung bemän teln. Wie den Mediciner, den Soldaten darf den Ne- dactcur nicht jede Schreckenskunde seelisch ergreifen, sonst würde er seinen Beruf, sie zu verarbeiten, nicht erfüllen können, und das Verarbeiten selbst hindert tiefes Er- grifsenwerden. Nur die ganz großen Schicksalsschläge -er Tagesgeschichte darf oder vielmehr mutz er voll auf sich wirken lassen — sie zwingen ihn, für kurze Zeit zu vergessen, daß das ihm selbst manchmal überflüssig blinkende und doch so nothwendige Umranken der dürren Botschaft sein Geschäft ist. Abs heute vor vier Jahren das Telegramm kam: Bismarck ist tobt!" — da war auch auf den Redacttonen das Gefühl der Unpersönlichkeit verschwunden, da lief ein Schauer der Ergriffenheit durch die für die Dienstzeit sonst gepanzerten Seelen, da sah man Männer weinen, ohne sich besten zu schämen. Und bei dem Erinnern an diese Stunden überkommt den Zei tungsschreiber noch heute die grobe feierliche Stimmung, die ihn nöthtgt, als Mensch zu reden. Der Freisinn glaubt eine „Asiaire" aufgestöbert zu haoen, mit der er sein Leben wieder eine Weile zu fristen ver möchte, weswegen er sich der Sache mit Lebhaftigkeit de in ächtiat hat. Dem früheren Provinrial-Steuerdirector vonPosen, Geh. Oberfinanzrath Löhning, soll unter sehr kräftiger Inter vention des Finanzministers Frhrn. v. Nheinbaben sein — als bald bewilligtes — Pensionirungsgesuch abgerungen worden sein und zwar das aus dein Grunde — vorzüglich aus dem Grunde — weil er sich mit der Tochter eines Re- gierungSsekretärS, der früher Feldwebel gewesen, verlobt hatte. Die Behauptung findet sich in einem Circular, daS der gewesene Steuerdirector im Mai dieses Jahres an seine Freunde hat ergehen lasten und dem jetzt — wie, wissen wir nicht — der Weg in die Oeffentlichkeit gebahnt worden ist. Die Darlegung enthält hinsichtlich deS familiären PuncteS eine Reihe sehr auffälliger Angaben, die, wenn begründet, scharfer Kritik begegnen müßten. So soll, um ein Beispiel anzuführen, der Finanzminister Wertb auf anomyme Zuschriften gelegt und der commandirende General von Posen sich dem Sinne nach dahin geäußert haben, daß der UnterosficierScharakter — wenigstens von einem freienden Provinzialsteuerdirector — als maoula inäslsbilis angesehen werden müsse. Indessen gilt hier — freilich nicht für den Freisinn — die Regel: „Eines Mannes Rede ist keine Rede", der Minister muß ebenfalls zu Worte gelangen und eS wird ihm Wohl in der nächsten Landtagssession dazu Gelegenheit geboten werden. WaS nicht erst wieder untersucht zu werden braucht, die Angelegenheit aber wichtiger erscheinen läßt, als eS ein socialer Vorfall, so ernst auch ein solcher sein kann, sein würde, das ist daS Hineinspielen der Polen Politik. Herr Löhning bekennt sich, vielleicht ohne es zu wollen, als einen Gegner des jetzt für die Ostmarken vorgezeichnetcn Ver- waltungösystems. Er will es zwar nicht wahr haben, daß seine Auffassung von diesem System und seine Urtheile darüber Antheil an dem dringenden Wunsche deS Vorgesetzten, ihn auS dem Amte scheiden zu sehen, gehabt haben. Er resumirt: „In Wirklichkeit bin ich durch Jntrigue und verächtliche Angeberei ein Opfer der Standesvorurtheile und deS Kastengeistes geworden." Aber er widmet einen so großen Tbeil seiner Vertheidigung — oder Anklage, wie man eS nennen will — den Zweifeln an seiner politischen Correctheit als VerwaltungSbcamter, daß man daraus die Gewißheit schöpfen kann, Herr Löhning selbst schätze die Bedeutung und den Folgenreichthum dieser Seite seines Verhaltens nicht gering. Wie Recht er hierin thut, bestätigt die Lüsternheit, mit der die ultramontane und daher polnische „Germania", ohne die „HeirathSgeschichte", wie sie sich ausdrückt, irgend wie zu erörtern, auf diesen Theil deS Circulars, als auf ein „bcmerkenSwertheS Urtheil" stürzt. Unbefangene werden allerdings finden, daß daS, was Herr Löhning erzählt und „urtheilt", nicht gegen die Polenpolitik der Negierung, sondern gegen ihn spricht. Er leugnet nicht, daß er sich über diese Politik gegen Untergebene im Amt abfällig geäußert, und wenn er seine Auslassungen dieser Art als „unbedenklich" kennzeichnet, so ist das eine Ver sicherung, die durch die Kritik der Polenpolitik, die er in seinem Circular übt, stark beeinträchtigt wird. Die Stellung dieses gewesenen Beamten zu den Verhaltungsmaßregeln und Maßnahmen seiner Regierung ist und war dem Wesen und der Ausdrucks weise nach fast durchaus die deS rein negirenden Radi kalismus. Wie dieser, nennt Herr Löhning die Polenpolitik der Behörden aggressiv; er unterstützt damit, obwohl er daS polnische Vordringen nicht in Ab rede zu stellen vermag, die heuchelnden Slawen, die sich als von dem thatsächlich zur Abwebr gezwungenen Staat ver folgte Unschuld der Welt präsentiren. Dieser Beamte schreckt sogar nicht vor dem polnisch-ultramontanen Kunst—kniff zurück, sich für die amtlichen Schutz vorkehrungen zu Gunsten des Deutschtums des NamenS Hakatismus zu bedienen, der nun einmal auf dem Wege der Lüge und Verleumdung zu einem unbeliebten gemacht worden ist. Schon die Wahl dieses Ausdruckes würde den ehemaligen Provinzialsteuerdirector zur Ge nüge kennzeichnen und es wäre gar nicht nötig, zu er fahren, daß er einen Untergebenen nicht zu unzweideutiger Wahrung deS RegierungsstandpuncteS ungehalten und daß Beamte seiner Verwaltung sich über des Vorgesetzten Be urteilung der Regierungspolitik „tief gekränkt" gefühlt haben. Herr Löhning bat aber auch vor ihm übergeordneten Staatsbeamten aus seinem Herzen keine Mördergrube ge macht und dies ist ein Umstand, ver der Angelegenheit all gemeine politische Bedeutung verleiht. Mag wirklich wegen der „HeirathSgeschichte" seines Bleibens nicht mehr gewesen sein, gerecht ist, daß seine höheren Regierungskreise vor diesem gesellschaftlichen Zwischenfall Wohl nicht in Unkcnntniß über die Abneigung des Beamten gegen die vorgezeichnrtx Polenpolitik gewesen waren. Noch viel mehr: Geh. Rath Löhning sagt: „Freilich bin ich, wie die große Mehrzahl der höheren Beamten der Provinz, ein Gegner des schroffen Vorgehen- in der Polenpolitik, des sogenannten HakatismuS." Vielleicht übertreibt der Pensionirte, indem er — noch im Mai d. I.! — von einer großen Mehrzahl so gesonnener höherer Beamten in der am härtesten vom Polenthum bedrängten Provinz spricht. Aber die Ueberzeugung, daß die Zusammensetzung der Beamtenschaft in Pose» noch nicht im Entferntesten der — wenigstens declarirten — einheitlichen Polen Politik angepaßt sei, ist fast all gemein verbreitet. Es war ja nicht zu erwarten, noch auch zu wünschen, daß die Abkehr von dem nach Caprivi benannten System, das ein Wilamowitz-Möllendorf mit so verhängniß- voller Feierlichkeit durchgesührt hatte, allsogleich einen Exodus der an das Alte gewöhnten und einer In vasion von der Durchführung des Neuen geeigneten Persönlichkeiten nach sich ziehen würde. Aber daS Tempo des allmählichen Austausches scheint ein sehr langsames ge wesen und auch nach dem Amtsantritt des Grasen Bülow geblieben zu sein. Sollte man ein Recht haben, in dem im Uebrigen auf alle Fälle recht unerquicklichen Rundschreiben des Herrn Löhning auch Material für die Beantwortung der Frage nach der Ernsthaftigkeit des neuen PolencurseS zu finden? Die letzten Telegramme beuten bereits an, daß die Ausstände der L a n d a r b e t t e r inGalizien auch -ort als das erkannt werden, was sie sind, als eine nationale, antipolntsche Bewegung. Man muß sich gegen wärtig halten, daß in Galizien die Ruthenen trotz einer Zahrzchntelangen, skrupellosen, auch an dieser Stelle wiederholt gekennzeichneten Vergewaltigung durch die Polen, die mit den durch die Staatsgrundgesctze ver briefte» Rechte» völliger Parität in schreiendstem Wider spruch steht, den galizischen Polen an Zahl überlegen sind. Auch die Gcsammtzahl der Kleinrusscn, wie die Ruthenen richtiger benannt werden, ist der Zahl der Polen überlegen, obwohl polnische Quellen (einschließlich der nach Amerika ausgewanderten Pole»') an Polen ins- gesammt etwa l'/s Millionen Seelen mehr zusammcn- rcchnen, als sie den Kleinrussen zutheilen wollen. In Rußland ist eine Verschmelzung der Klein- mit den Groß russen nicht erreicht worden. Seit Jahren haben sich viel mehr in der Ukraine die separistischen Bestrebungen immer deutlicher bemerkbar gemacht. Der ruthenische Adel ist mit wenigen Ausnahmen polonisirt worden. Auch seine materiell-agrarischen Interessen stellen ihn in Gegensatz zu der jetzigen ruthenischen Arbeiterbewegung. DaS öster reichische Kronland Galizien ist lediglich auf Kosten der Uebcrschüsse aus den deutschen Reichstheilcn der Mon archie in die Lage versetzt, sein Sonderdasctn zu führen. Die Verwaltung ist corrumpirt — man denke an die Ctcucrrückstände der großen Städte —, die große Mehr heit des Volkes lebt kaum unter besseren Verhältnissen als die Bauernschaft Rußlands. Politisch ist die Masse rechtlos, denn die Schlachta terrorisirt das Volk und macht in ihrer sattsam bekannten Weise alle Wahlen. Es werden Hungerlöhne gezahlt, und was der Bauer ver kauft. muß dem jüdischen Dorfwucherer zu Spottpreise» übergeben werden. Die Auswanderung hat daher von Jahr zu Jahr zugenommcn, ebenso die Preußcngängcrci. Die letztere hat es im Wesentlichen ermöglicht, daß die üändlichc Bevölkercuug den Winter über sich ernähren konnte. Denn die Leute leben in Deutschland überaus ge nügsam; mit einer an Geiz grenzenden Sparsamkeit legen sie Alles zurück, was sie erübrigen können. Der Verdienst wird freilich in der Heimath bis zum nächsten Frühjahr lzum allergrößten Thcile verbraucht. Da die Abwande rung von Jahr zu Jahr stieg, haben die galizischen Feudal herren den Leuten einfach verboten, ans Außcnarbeit zu gehen. Wenn man sich dazu verstanden hätte, die Lohn- ',sühc zu ershöhen, um den Landarbeitern, deren Ansprüche wahrlich bescheiden sind, ein Auskommen zu ermöglichen, Hütte sich wohl die Mi8ora plebs gefügt. Daran aber denkt die Schlachta nicht; sie sucht im Gegentheil die Löhne zu drücken und begründet daS mit dem Sinken der eigenen Einnahmen. Das mag zum Theil richtig sein. Die galizische Schlachta will oder kann ja ihre landwirthschaft- lichen Betriebe nicht intensiver gestalten; die Entlassung aller „deutschen" Inspektoren, Oberförster u. s. w. — eine Folge der Nationalitätenhetze — hat die Ertrüge der Güter und Forsten vermindert, weil an die Stelle ehr licher, umsichtiger, arbeitsfreudiger Verwalter Leute ge treten sind, die in erster Linie „polnische Patrioten" sein wollen, und denen die Sorge um die Erträge der Güter sehr nebensächlich ist. Das Land hallt wider von dem Ruhme des Polenthums. Feste und Gedenktage werden gefeiert, bei denen immer wieder für die nationalen Insti tutionen gesammelt wird; die polnische Großsprecherei, die sich vermißt, das aesammte Deutschthum wirtschaftlich zu besiegen, eine alles gesunde Maß übersteigende Prcßhetze haben auch die Leidenschaften der unterenVolksclassen ent fesselt, und je fanatischer der Deutschenhaß empvrloderte, desto nachdenklicher mußten die Ruthenen werden, die ja ein verfassungsmässiges Recht haben, Schonung ihres Bolksstammes zu fordern. Deutsches Reich. B. O. Berlin, 29. Juli. (Arbeitsnachweis für entlassene Mannschaften.) Die Erfahrungen des Vorjahres lassen es Wünschenswerth erscheinen, daß für die in diesem Jahre aus Ostasien zurückkehrenden und zur Entlassung kommenden Mannschaften der Besatzungs brigade an den Auflösungsorten ein Arbeitsnachweis ein gerichtet wird, um den Mannschaften, die wegen der großen Entfernung zwischen Ostasien und der Heimath und des dadurch erschwerten Schriftverkehrs nicht selbst für sich sorgen können, das Auffindcn von Arbeitsgelegenheit zu erleichtern. Insbesondere erscheint dies sehr erwünscht für den erst im October, also nach dem allgemeinen Ent- lassungstag der Reservisten cintreffendcn größten Trans port, weil alsdann Arbeitsgelegenheit schwerer zu er langen sein wird, als im Sommer und vor dem all gemeinen Entlassungstcrmin der Reservisten. Es treffen voraussichtlich ein: s. am 5. August 1902 Dampfer „Hamburg" (Auflösungsort Bremerhaven), d. am 19. August 1902 Dampfer „Prinz Heinrich" (Auflösungsort Bremerhaven), c. am 2. September 1902 Dampfer „Sachsen" (Auflösungsort Bremerhaven), ck. am 16. September 1902 Dampfer „Kiautschau" (Auflösungsort Bremerhaven) und e. am 7. October 1902 Dampfer „Pisa" (Auflüsungsort Truppenübungsplatz Munster in Hannover). Der Umstand, daß die zur Entlassung kommenden Mannschaften aus allen Theilen des Reiches stammen, spricht dafür, daß die Ermittelung von Arbeitsgelegenheit auf die ganze Monarchie ausgedehnt wird. Seitens des Kriegsministertums sind die zuständigen Ministerien er sucht worden, eine Nachweisung etwa vorhandener Arbeits gelegenheiten rechtzeitig den Auflösungscommanbos zu kommen zu lassen. /x Berlin, 29. Juli. Dersocialbemokratifchc Parteitag ist für dieses Jahr zum 14. September nach München einbernfen worden. Als Gastgeber werden die bayerischen Genossen vielleicht einige höfliche Rücksicht üben und den Streit, welchen die bayerische Svcialdemv- kratie mit Bebel anSfcchten muß, unter milden Turnier regeln zu begleichen versuchen. Bebel selbst hat sich für diesen Parteitag die dankbarste Rolle zucrtheilt: die große Feuilleton. 10) Zwei Welten. Roman von Arthur Sewett. Nachdruck verboten. Von drüben her auS dem Salon klang vr. Baumann's weiche Barttonstimme, Gabriele begleitete ihn. Und als er nun durch die geöffnete Thür ihre lichte Gestalt erblickte, mit dem Frieden, der ausgeglichenen Harmonie in den stillen Zügen, da kam es einen Augenblick über ihn, als müßte er zu ihr treten und ihr sein ganzes Herz ausschütten mit all der Qual und Beladenhett, die ihn niedcrürücktc. Er lächelte über sich selbst. Sie wäre die Richtige dazu! In der That, der Directvr hatte biecht, er war heute sehr nervös und die unmännliche Schwäche nahm überhand. Doch wie, was war dass! War es etlva auch eine Wirkung der erregten Nerven, ein böser Stretch, den die unablässig arbeitende Phantasie ihm spielte? Oder war es keine Sinnestäuschung, was er deutlich jetzt zu vernehmen meinte: Das Rollen eines Wagens über daS holperige Pflaster da draußen, das plötz lich unmittelbar vor dem Hause verstummte, dann das Läuten der Hausglocke, nicht laut gerade, aber doch ver nehmlich genug für seine geschärften Sinne, und nun etwa», das sich anhvrte wie ein klagender Jammerruf aus menschlichem Munde. Er steht auf, er blickt um sich, eS muß ein Jrrthum ge wesen sein, denn kein Anderer scheint etwas Gleiches ge hört zu haben. Die Unterhaltung zwischen den College» wird lebhaft weitergeführt, unbeirrt klingt Dr. Baumann's schmeichelnde Stimme aus dem Nebenzimmer, in derselben ruhigen Haltung sitzt Gabriele am Clavier. Er setzt sich wieder, doch horch, zum zweiten Mal geht die Klingel, aber nun so laut, so gellend, so schreiend, daß Alles von den Sitzen emporfährt, Vr. Baumann seinen Ge sang jäh abbricht und Gabriele erblassend vom Clavier aufspringt, wa» ist geschehen? Schneller al» da» erschreckte Dienstmädchen ist Fritz die Treppe htnuntergeetlt und hat die HauSthür geöffnet — ein funkelnder Stein glitzert ihm auS dem Dunkel ent gegen. Vor ihm, bleichen, verstörten Gesichts steht eine kleine männliche Gestalt. „ServuS, ServuS, Herr Mollinar", und dieses „Ser vus", da» ihn so manche» Mal belustigt, eS klingt heute so gebrochen, so todestraurig, wankend ist Herr Koralli in das Haus getreten. Der Doctor starrt ihn eine Weile an, keine Frage, kein Laut kommt von seinen Lippen, er weiß Alles! Eins unr soll ihm der Kunstreiter sagen. „Lebt sie", ringt es sich von seinem bebenden Munde. Da zuckt Herr Koralli die Achseln. „Gott allein weiß es, bleich, bewußtlos, blutend liegt sie da, ein Bild des Jammers, wie es kein zweites giebt. O meine Tochter, meine Ellida, Du Stütze meines Alters, Du mein Alles!" Und Lurch allen Schmerz klingt die Emphase des Komödianten, der gewohnt ist, immer darzustellen. „Der Schurke, der Franqois", schäumt er dann auf. „Er ist schuld an Allem. Aber mit der Peitsche habe ich ihm das Gesicht zerrissen, daß er drei Wochen nicht arbeiten soll! Doch nun schnell nach oben, Herr Doctor. Ein junger Arzt ist bet der Elli, er war gerade im Circus. Er traut sich aber nicht die Sache allein zu übernehmen. Er hat mich hergcschickt, sein Chef soll hier sein, ich soll ver suchen, Len Herrn Geheimrath zu holen, Du mein Gott, wenn er nur kommen wir-, jetzt in der Nacht." „Das wird er, ich rufe ihn sofort herunter!" Der Doctor kehrt mit -cm Äeheimrath zurück. Det informirt sich mit wenigen Fragen. „Und immer noch bewußtlos?" „Immer noch, Herr Gcheimrath." Da macht der Arzt ein sehr bedenkliches Gesicht. Er zieht rasch seinen Mantel an und besteigt mit dem Kunst reiter den Wagen. „Ich bringe Ihnen morgen Bescheid, Herr Doctor, gute Nacht.. Die Pferde ziehen an, schwerfällig rumpelt der Wagen über das holperige Pflaster. Der Doctor steht einen Augenblick in der Hausthür und sicht ihm nach, dann kehrt er zur Gesellschaft zurück. Der ist natürlich alle Stim mung vergangen, das Unglück der armen Kunstreiterin findet herzliche Theilnahme. Ein Jeder ist erschüttert, am tiefsten die alte Frau Mollinar. Daß diese Geschichte, die ihr viele Sorgen und Schmerzen bereitet, so enden würde, das hätte sie nie gedacht. Frau Director Wöhrmann hat sogar die Kränkung ver gessen, die der Doctor ihr mit dem Ttschplatz angethan. Sie reicht ihm die magere Hand und sagt einige theil- nehmende Worte, auch die Frau Geheimrath und ihr Fräulein Tochter fühlen sich dazu verpflichtet. Nur Gabriele schweigt. Diese gesuchte und ihm gegenüber etwa» wunderbare Condolenz ist dem Doctor furchtbar. Er athmet auf, als sich endlich die Gesellschaft entfernt. Er sagt den Frauen gute Nacht; seine Blutte» küßt ihn heute, was sonst zwischen ihnen nicht Sitte ist. Gabriele hat noch immer kein Wort für ihn gefunden, auch jetzt nicht, als er ihr gute Nacht wünscht. So flüchtig wie immer streift die zarte Hand die seine. Als Gabriele aber eine Stunde später zur Ruhe geht, findet sie nicht wie sonst den schönen Schlaf der Jugend, und daran war nicht nur das Unglück der Miß Ellida schuld. , Am nächsten Tage kam der Doctor eiliger als sonst von der Schule nach Hause. Schon von fern sah er vor der Thür das elegante Coupö des Gcheimrathö stehen. Der Arzt saß am Kamtlicntisch im Wohnzimmer und sprach eifrig mit den Damen. Als Fritz eintrat, entstand ein kurzes Schweigen. „Nun, Herr Gcheimrath, wie steht es?" Der Arzt zuckte die Achseln. „Da läßt sich wenig sagen, lieber Doctor. Sie ist furchtbar gestürzt, das arme Kind, ich fand sie noch bewußtlos, als ich kam. College Zettler war in Verzweiflung. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie zu sich kam. Dann untersuchte ich: eine offene Wunde am Kopf, nicht an sich gefährlich, aber bedeutender Blut verlust und eine starke Erschütterung des Rückgrats. In- nerltche Verletzung habe ich noch nicht festgcstellt." „Ist der Zustand bedenklich?" „Leicht ist er nicht, aber vorläufig habe ich noch nicht ernstere Bedenken, freilich, wissen kann man nie —" „Und sie wird ihrem Beruf erhalten bleiben, wenn sie gesund wird?" „Das steht in Gotte» Hand, zweifelhaft ist es, aber Bestimmtes läßt sich darüber heute noch nicht sagen." Da wurde daS Gesicht dc» Doctor» sehr nachdenklich. „Aber was für Verhältnisse", fuhr der Gcheimrath fort. „Anders hatte ich es mir bei einer so verwöhnten Kunstreiterin doch vorgestellt. Da fehlt eS ja am Nöthig- sten — besonders bei solcher Krankheit. Ich drang natür- lich sofort auf das Krankenhaus, aber der Vater erhob ein Lamento dagegen. ES ist der alte unbegreifliche Wider wille gegen die Krankenhäuser bei solchen Leuten. Nur daß ich diese denn doch für aufgeklärter gehalten hätte! Die Mutter erklärte, sie wollte sich lieber zu Tode pflegen, als ihre Tochter aus dem Hause geben. Ich war machtlos. Aber waS nun werden soll, weiß ich nicht. Die Mutter ist selbst schwächlich, hat Alles im Hause zu besorgen und muß jeden Abend in den LircuS." „Dispensirt sie denn der Director nicht in dieser schweren Zeit?" „Wo denken Sie hin, meine beste Frau Mollinar? Die Frau Director kam gerade, als ich da war, und war un tröstlich, daß die „Kleine" nun so lange nicht anftrctcn kann und sie keine Geschäfte mehr machen würden. Da muß die Mutter nun erst recht heran. Den Clown übri gens, der das ganze Unglück verschuldet haben soll, hat sie noch an demselben Abend sortgejagt." „Aber da müssen die Leute doch unter allen Umständen eine Krankenpflegerin haben", sagte Frau Mollinar. „DaS ist ja eben das Schlimme! Ich kann dann und wann wohl einmal eine Schwester heranschickcn. Aber- gerade diese Krankheit bedarf dauernder Pflege, und die ist kostspielig, und die Leute haben nichts auszngebcn." „Ich werde gehen, Herr Gcheimrath!" Alle blickten erstaunt auf Gabriele. „Sic, liebes Fräulein?" sagte der Geheimrath und lächelte ungläubig. „Wenn Sie einige Nachsicht mit mir haben wollen. Ich habe den Jvhannitcrcursus durchgemacht und leider schon manchen Kranken pflegen müssen. Ich freue mich, meine Kenntnisse hier anwcnden zu können." „Aber das ist keine leichte Pflege, Fräulein Hellwig, und die Verhältnisse gerade dort — ich weiß wirklich nicht —" „Ich bin entschlossen und Sie werden mich von meinem Entschluß nicht abbringen." „Aber Deine Vorbereitungscurse?" „Nun, die muß ich eben für eine Zeit aussctzcn, liebe Tante. Hier bin ich vielleicht nöthiger." „So gehen Sic mit Gott!" „Ich trete heute Nachmittag meinen Dienst an." „Ich werde Sie in meinem Cvupä abhvlen. Sie wür den allein gewiß gar nicht den Weg finden." Der Gcheimrath drückte dem jungen Mädchen warm die Hand. Dann ging er und Krau Mollinar geleitete ihn zur Thür. Gabriele und Fritz waren allein. „Es ist Dein Ernst, Gabriele, Du willst diese» Mädchen pflegen?" „Zum Scherze ist die Sache doch nicht angethan." „Du, die jeden Verkehr mit dieser Kunstreiterin schroff zurückwtes, al» ich Dich einmal darum bat." „Da war ich zwecklos, ich konnte ihr nicht nützen." „Die Du die Berührung von ihr fürchtetest." „Die Berührung der Kranken fürchte ich nicht."
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