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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.01.1899
- Erscheinungsdatum
- 1899-01-29
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189901293
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18990129
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18990129
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-01
- Tag1899-01-29
- Monat1899-01
- Jahr1899
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.01.1899
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Bezugs-Preis «d den »rrtchtew« <»<- Truck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Jahrgang Sonntag den 29. Januar 1899. Mtefifi*r-«-Ai»»gab« erscheint um V,? Uhr, Hie <b«nd-Lu-gab« Wochentag- um S Uhr. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe. Nachmittags 4Nhn Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Auzeigeu-Prei- die 6 gespaltene Petitzeile 2«) Pf-. Reklame« unter hemRedactionsstrich l4ge- spaltem LO^js, vor den Familtennachricht. i <6 gespalten) 40 Gröbere Schriften laut unserem Peei-:- verzeichniß. Tabellarischer und MerNia- nach höherem Taris. Filialen: ttt« Klemm'« Enrtim. iAlfred Hahn), Universitütsstraste 3 (Paulinum), Louis Lösche. Latharinenstr. 14. pari, und Königsplatz 7. LrDartion »ad Expedition: Lshtm»r«,ssie 8. Di»Expedition ist Wochentag- ««unterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abend- 7 Uhr. —. Direkt» tügliche KreuzbandienduNg tat Ausland: monatlich 7.S0. npMtr Jagtblait Anzeiger. Ätttlsblatl des Königlichen Land- und Ämisgenchtes Leipzig, des Rathes und Nolizei-Ämles der Lladt Leipzig. Extra-Veilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbefördernng 60.—, mit Postbesürderung 70- Aus -er Woche. Die Engländer sind vielleicht weniger bösliche Leute als wir, jedenfalls aber praktischere. Die Stelle, auf die eS in dem aeuesten Rundschreiben de« Grafen Murawjcw hauptsächlich ankommt, ist die, wo der russische Minister die öffentliche Meinung gegen die Regierungen, oder sagen wir gegen Regierungen, ausspielt. Es heißt in dem Aktenstück, nachdem von zahllosen, dem russischen Cadinet „aus allen Gesellschafts kreisen und von den verschiedensten Theilcn der Weltkugel" zugegangeaen Zustimmungsbeweisen die Rede gewesen ist: „Trotz dieser großen Strömung der öffentlichen Meinung für die Ideen eines allgemeinen Friedens hat der politische Horizont sichtlich einen anderen Anblick er halten." Damit könnten die englisch-französischen Differenzen gemeint sei». Das Rundschreiben fährt aber fort: „In letzter Stelle sind mehrere Mächte zu neuen Rüstungen geschritten, mdem sie sich bemühen, ihre militärischen Kräfte noch zu erhöben." Die Annahme, daß nach ter russischen Absicht die öffentliche Meinung und insbesondere die öffentliche Meinung Deutschlands das deutsche Reich nickt zu diesen Mächten zählen solle, wäre angesichts des dem Reichstage vorliegenden HeereSgesetzeS eine ungeheuer gewaltsame und ist darum ganz unhaltbar. Rußland erhöht bekanntlich seine militärischen Kräfte auch, aber bei ihm kommt eine öffentliche Meinung nicht in Betracht. Nun hat die englische Presse, gewiß in höherem Grade dir Repräsentantin der britischen öffentlichen Meinung, den Vortheil, den die russische Regierung in diesem Mangel besitzt, sofort dadurch ausgeglichen, daß sie das vorläufige Programm des Grafen Murawjew ganz oder in seinen wich tigsten Punkten verwarf und damit der Hauptstütze des Rundschreibens vom 11. Januar, dem Hinweise auf eine, Rußland, wie gesagt, ausgenommen?, universale öffentliche Meinung für ihr Vaterland den Boden entzog. Diese publi- cfftische Behandlung der russischen Vorsckiäae ist zwar in England nicht nölhig, soweit die dortigen Rüstungen in Betracht kommen, und wir in Dentsckland brauchen sie für unsere Militärvorlaze auch nicht, aber wir sehen in ihr im Hinblick auf die Möglichkeit, daß eine Ergebnißlosigkeit des „vorläufigen" ÜdeeuauotauscheS oder der Konferenz zur Erzeugung von Mißstimmung in Petersburg auSgenutzt werden könnte, eine Unterstützung der englischen Diplomatie. Es ist dock von nicht geringem Vortbeile, wenn der Vertreter einer Großmacht in Bern oder Brüssel an der Hand der Preßäußerungen seiner Heimath sagen kann: „Die öffentliche Meinung meine- Landes ist zwar für die „Ideen eines allgemeinen Friedens", aber sie ist dafür, wie sie für die Ein führung des lenkbaren Luftschiffes ist. Sie hätte die Neuerung ganz gern, aber sie glaubt nicht, daß die Kmdcskinder sie erleben werden, und ist jedenfalls nicht geneigt, wegen der Möglich keit, sich hierin zu täuschen, den Ausbau ihres Eisenbahnnetzes einzustellen oder gar eine Schiene aus dem Boden zu reißen." Da auch die französischen Diplomaten trotz Zweibundes durch ihre Presse in die Lage, so zu reden, gesetzt worden sind, so ist es schwer einzuschen, warum die Mehrzahl der deutschen Zeitungen unsere künftigen Unterhändler, wenn der Ausdruck erlaubt ist, nicht der Nothwendigkeit enthebt, den Russe» gegenüber die Bedeutungslosigkeit der deutschen Anhänger der Frau Bertha Suttner noch ausdrücklich zu demonstriren. Höflichkeit und Nüchternheit im internationalen Gedankenaustausch gehören zweifellos zu den Pflichten einer nationalen Presse, die Annahme diplomatischer Allüren und Exceffe deS Entgegenkommens gegen Fremde aber ebenso zweifellos nicht. DaS könnte auch im publicistischen Verkehr mit Amerika beherzigt werden. ES ist gewiß nicht ver ständig, die Sprache empörter Zurückweisung zu verlangen, wenn, wie geschehen, irgend ein Amerikaner, der sich ins Parlament eingekaufl hat, und von dem man nickt weiß, ob ein unbescholtener Deutscher sich mit ihm zu einem Glase Bier nicderlassen könnte, Deutschland mit Prügeln nach dem Muster der Spanien verabreichten droht. Aber es ist auch, von der Würde zn schweigen, nicht klug, wenn deutsche Preßorgane in Amerika den Glauben auskommen lassen, Deutschland sei geneigt, von dem nordamerikanischen Staate Unrecht zu erdulden. Das geschieht aber, wenn man in den zwischen uns und der Union schwebenden wrrtbschast- lichen Streitigkeiten Alles von dem Gerechtigkeitsgefühl der Amerikaner und nichts von deutscher Gegenwehr zu_erhoffen sich den Anschein giebt. Leider kommt, wie der oisiciöse Ebarakler verschiedener solcher frommen, durchaus an die Aera Eaprivi erinnernden Zeitungsartikel der neuesten Zeit zeigt, daS „liebel von oben". Gerade aber weil die deutsche Regierung einen Zollkrieg mit Amerika nach Möglichkeit vermeiden will — ein Bestreben, bei dem sie die Mehrheit ter Bevölkerung hinter sich bat —, so sollte sie die in einem solchen Wirthschasto- kampfe nölhigen Waffen, und zu diese» gehört vor Allem die Bekundung der Entschlossenheit, sein gutes Recht zu wahren, nicht schartig erscheinen lasten. Auch für den Zollkrieg gilt das Wort: 81 vi? prwom. Mia bellum, und das andere: „Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen." Dcnlschlaud bat die neuesten amerikanischen Herausforderungen, wie die Benach- tkciligung der deutschen Einfuhr von Kölnischem Wasser, von Ebocolade :c., sowie die Vorcuthaltung des der rechtlich der Union gegenüber in derselben Lage wie Deutschland befindlichen Schweiz bewilligten Mitgenusses an den Frankreich zugestandeuen Zollerniäßigungen anscheinend ruhig über sich ergeben lasten. Ein Berliner Blatt kann sich diese Duldsamkeit nur durch den Umstand erklären, daß die handelspolitischen Ver handlungen mit Amerika Aussicht aus ein baldiges gutes Ende böten. Die Berechtigung zu dieser optimistischen Schluß folgerung muß sich aber erst Herausstellen. Freilich, nach freisinnigem Unheil sind solche Betrachtungen „chauvinistisch". Dieses schöne Wort findet sich jetzt gleich ein halbes Dutzend Mal in jeder radikalen Zeitung, und schuld daran ist der für den Freisinn nickt rühmliche Aus gang der AusweisnngS-Eampagne. Herr Richter «nd Herr Moste versichern, sie hätten auch Nakionalgefühl; da sie aber immer und überall die Partei der Fremden gegen die des HeimathlandeS nehmen, so müssen sie, nm jene Behauptung nicht in der Lust schweben zu lasten, die entgegengesetzte Stellungnahme als Auswüchse deS Patriotismus bezeichnen, also als EbauvünsmnS. Es ist wirklich so; die genannten Herren und dazu der Abg. Munckel zeigen sich verletzt, weil man ihnen das Nakionalgefühl abgesprochcn bat, und Herr Richter bat sogar den Schutz der HauSpolizei angerusen. Er verlangte nn Abgeordnetenhause, die Präsidenten sollten sick „über die Grundiätze schlüssig machen, wie weit es zuläwg.'st- die national- Gesinnung Derjenigen an,»zweifeln, die die Aus- weisuugSpolitik nicht billigen". „Ick fürchte", fügte er hinzu, „wenn cs so weiter geht und die Angriffe aus Vie nationale Gesinnung sick steigern, könnte es zu wüsten Scenen und Ercesseu kommen, wie in Wien und Paris." Juristen mögen entscheiden, ob Angriffe aus die nationale Gesinnung der An wälte des Auslautes als Angriffe auf ein Phantom überhaupt eine Repression zulassen. TiePräsidenten ^Abgeordnetenhauses haben die Sache aber politisch zu nehmen und sind gewiß zuerst in Verlegenheit gewesen, die Grundsätze anzugeben, d. b. einen Maßstab für den Grad nationaler Gesinnungs losigkeit zu finden, der noch auf parlamentarischen Schutz in einem deutschen Parlament- Anspruch erheben darf. In zwischen sind ihnen aber die däuischgesinnten Abgeordneten Johannsen und Haussen zu Hilfe gekommen. Wir haben schon darüber berichtet. Die beiden Dänen erklären, in den Hinter grund treten zu wollen, da die Freisinnigen -übrigens auch Pros. Delbrück — „die Vcrtbeidigung der dänischen Sache übernommen", sich aus die Seite der Dänen in ihrem ge rechten Kampfe für die Nationalität der Südjütcn gestellt hätten. Das Ziel dieses „gereckten Kampfes" — Herr Haussen bat eö in seinem Blatte „Heimdal" eingeräumt — ist die Losrcißung NordschlcSwigS von Deutschland, wenn nölhig, durch einen Krieg, und wer deutsches Land anö Ausland ver- rathen hilft, ist — das wird auch der Rabulist Munckel nicht wegzudiSputiren sich getrauen— nationaler Gesinnung bar, gelinde anSgedrückt. Damit ist die von Herrn Richter ge- wünschteBestimmung des zulässigen Maßes der Ebaraltcrisirung seiner Vaterlandslosigkeit gegeben, und darauf kann er sich verlassen, er wird bei der nächsten Gelegenheit damit gemessen werden. Daß er sich dadurch zur Nach ahmung von Wiener und Pariser Mustern bewegen lassen könnte, glauben wir dennoch nicht. Der freisinnige Hause ist nämlich zu klein, um selbst durch Lärm die Verhandlung stören zn können. Etwas Anderes wäre cS, wenn das Eentrnm den Rath einiger befrenndeter Zeitungen annähme und den Herren Virchow, LangerhanS, Munckel u. s. w. mit Linealen und Maultrompeten zu Hilfe käme. Aber daS glauben wir erst reckt nicht. DaS Centrum hat sich von der Dänendcbatte gestissentlich ausgeschlossen. Sein Mitglied v. Strombeck erklärte zwar, durch den in weit vorgerückter Stunde beschlossenen Schluß der Verhandlung sei ihm das Wort abgeschnitten worden, aber da stellte ein freisinniges Blatt, ohne daß die „Germania" ihm geantwortet hätte, folgende Fragen: „WeSbalb haben sich die CeutrumSredncr gerade bei dieser Angelegenheit so spärlich in die Rednerliste eintragen lassen, oder weshalb hat sick Herr v. Strombeck so spat zum Worte gemeldet? „Sonst", so lautet die An deutung einer Scblußfolge, „fehlt es dock wahrhaftig den CentrumSmännern nicht an dem erforderlichen Nachdruck, sobald sie wirklich in einer sie intcressirenden Frage zum Worte kommen wollen." Es versteht sick allerdings von selbst, daß eine hundert Mitglieder zählende Fraktion in einer vieistündigen Debatte nicht wider ihren Willen zum Schweigen verurtheilt wird; ein solcher Fall ist noch nicht vorgekommen. Das Centrum wollte sich eben diesmal nicht in der Gesellschaft der Freisinnigen sehen lassen. Wenn aber freilich die „Köln. VolkSztg.", die von den nordschlcöwigscken RegierungSmaß regeln als von einer „Hetz" spricht, die Grundstimmuug ihrer Partei widerspiegelt, so ist die von den Klerikalen grüble Enthaltsamkeit national gerade so viel Werth wie di: Muuckel'sche Rede. Die Er weckungalte ff ErinnerungenindenRegi mentern Hessens würde die Vermuthung, daß der vorher in Hannover vollzogene ähnliche Act jedes politischen Charakters entbehre, verstärken, wenn diese Aufmerksamkeiten gteickzeitig beschlossen worden sein sollten, was man nickt weiß und so bald nicht erfahren wird. Aber cs bliebe noch immer ein Unterschied. Das turhcssische Hauö ist, nachdem seine Mitglieder lange vorher den öffentlichen RechtSzustanb in Deutschland anerkannt, aus gestorben und das Hauö Luxemburg-Oranien hat ebenfalls aus Nassau verzichtet und nennt keinen Prätendenten für einen andern deutschen Thron sein eigen. Wenn man die i» Hannover erfolgte Kundgebung eine „antiwelsische" genannt hat, so war das zutreffend — für Hannover. Aber daß man in Berlin jemals daran gedacht haben könnte, dieses Land den Welsen herauszngeben, daS ist bock ganz und gar ausgeschlossen. Aber ein braunschweigisch-welsiscber Hiutergrund des menschlich schönen Schauspiels, daS sich in Hannover abgespielt, bleibk nach wie vor zu vermuthen und zu befürchten. Das Dementi von einer Betheiligung deö Kaisers Fran; Josef an den Be mühungen, einen Sohn deS Herzogs von Cumberland aus den braunschweigischen Thron zu bringen, betrifft ein neben sächliches Detail und die Ableugnung der „Wiener N. Fr. Presse", die den Prinzen Georg Wilhelm von Cumberland selbst betrifft, bat wenig UebcrzeugendeS und dürfte zur Be sckwichtignng der vielleicht über Erwarten starken Be wezung, die die Nachrichten über braunschweigische Pläne in vergangener Woche hervorgebracht, in die Welt gesetzt worden sein. Professor Dettrriick's neueste Mellpolitik im Lichte der Geschichte. Professor Delbrück nimmt im letzten Hefte der „Preuß Jahrbücher" zur Freude der Demokratie das Wort, um seine politische Stellung zu den wichtigsten Zeitfragen zu präcisireu Der Leser fürchte nicht, daß wir eine Kritik der gesammten Del brück'schcn Ausführungen vornehmen wollen. Worauf es uiw antommr, das ist lediglich die Zurückiveisung der mit un verminderter Verblendung vorgekragenen Anschauung, daß die gegenwärtige Polenpolitik der preußischen Negierung verkehrt und, um es kurz zu sagen, durch eine Politik der Versöhnung zu ersetzen sei. „Je weniger die Polen gereizt iverden", sag: Delbrück wörtlich, „je weniger sie unter sich Zusammenhalten, je schwächer der moralische Accent ist, der auf die Behauptung der Nationalität gelegt wird, desto leichter entäußert sich der Einzelne der Nationalität, desto leichter findet der Uebergang von der einen zur andern, also naturgemäß von der niederen Fsirrlletsir. Agnes Rieß. Eine Dichterin an» -e« Volke. Nachtriick virseloi. Unter den Weihnachtsgaben, welche der deutsche Büchermarkt diesmal wieder in kaum übersehbarer Fülle auSgeschiittet hatte, ist eine gewesen, die in ihrem einfachen, bescheidenen Gewände rMtek dem Glanz und der repäsentatrven Pracht, ohne die es nun einmal an diesem Feste nicht mehr abzugehen scheint, vielleicht von Bielen ganz übersehen oder der Beachtung nicht werth befunden worden ist. Auf sechzig Octavseiten. nicht eben eng gedruckt, sind eS, von dem bekannten Prrßb-urger Literarhistoriker Professor Karl Weiß-Schrattenthal herausgegeben, die poetischen Schätze einer armen Frau aus dem Bolle: „Thaulilien, Gedichte von Agne- Ri«ß".*) Me man weiß, hat Schrartenthal, der seit Jahren schon liebevoll den Spuren der Muse in den Niederungen de- Volksleben- mit vielem Glücke nachgeht, schon eine ganze Reihe von Namen, allen voran Johanna Ambrosius, dann Stine Andresen, Franz Bechert, Katharina Koch, Rudolf Lieblsch, Emerrnz Meier, Henni Mattsen, Margarethe Wilhelm u. A., in die Literatur eingeführt. Wir haben sie alle den Lesern dieser Blätter in kurz umrissenen Po-rtraits vorgestellt und Proben ihrer Kunst gegeben. Sie Alle konnten sich sehen lassen mit ihrer „Pveterei", ihre Leyer hatte der Finger des Genius gestimmt, was sie sangen, war, wenn auch nicht durchweg höchsten Preise- Werth, so doch ohne Ausnahme voller Wohllaut, zeugte von tiefem, ursprünglichem Empfinden und edler Phan tasie, und nicht Weniges trug wirklich klassisches Gepräge. So können wir auch an dies« neue Entdeckung von vornherein mit der Zuversicht, echte Poesie zu finden, getrost hrrantreten. Wir täuschen un> nicht: auch Agnes Rieß ist eS werth, als eine der Edelsten ibreS Geschlechts, als eine Priesterin des Schönen, wenn auch in dürftigem Sewande, au» der Masse herauHutreten und unter unseren modernen BolkSdichterinnen nicht den letzten Platz zn behaupten. Der Zartsinn und die Feinfühligkeit, welche Schrattenthal eigen find, haben ihn abgehalten, wie Uber den Lebensgang seiner übrigen Schutzbefohlenen, so auch über den der Agnes Rieß Ausführliches mitzutheilen. Wir bedauern die-, wenn wir auH die Motive d«S Herausgebers achten, und müssen un» daher mn wenigen Andeutungen begnügen. Diese sind aber von um ko größerem Interesse, al» sie zum großen Theil einer poetischen Epistel unserer Agne» Rieß entnommen sind, die die Dichterin an Schrattenthal schrieb, und di« in diesem den Wunsch nach ffmr VerSffenklichung ihrer poetischen Gabe rege machten. *) Selbstverlag von Pros. Schrattenthal, Preßbura, KilfaluLy- ^fi». Pr»i» 1,2V Ü- »roschtet. Agnes Rieß wurde am 8. Mai 1842 zu Beltheim am I Fallstein bei Halberstadt geboren, hat also jetzt schon die Mitte der fünfziger Jahre überschritten. Sie schreibt: Ich bin «in arm Dorslehrerskind, Am Fuß de? Harzes stand einst meine Wiege; In Feld und Wald, in Regen, Than und Wind Lies barfuß ich, behütend Kuh und Ziegr. Wenn auch der Hunger im Schulhause nicht zu Gaste saß, sie klagt doch, daß ihr« Jugend „gar so düster" gewesen und daß die Sorge sie und ihre jüngeren Geschwister frühe schon an die Hand genommen habe: „Wir haben nie der Kindheit „Glück" gekannt!" Als Aelteste war sir Kindermagd; sic mußte, selbst noch klein und schwach, die anderen Geschwister behüten und warten. Aber damals schon regten sich in ihr die ersten Triebe der Poesie, die „Lust, zu fabuliren". Viel draußen herumstreifend mit Brüdern und Schwestern, hatte sie wenigstens Gelegenheit, unbeachtet zu lesen, was sie als ein großes Glück pries. Im ganzen Dorf hab' ich gesucht Kalender, allerhand Scharteken, Im Elternhause dann sie zu verstecken; Bor Spähern auf der steten Flucht, Genoß ich heimlich die derbotne Frucht. An sicherem Orte hatte sie ein Brettchen im Garten verborgen, das wurde herbeigeholt und mußte, auf den Schoost gelegt, den Schreibtisch darstellen. Ein Stück Papier, ein Endchen Blei, Begelstrung ln erregten Mienen, So horcht' ich aus den Spruch der kleinen Bienen, Der Käfer trug den Reim herbei, Die Eulen lehrten mich, was Ahnung sei. So schildert die Dichterin anmuthlg, in vollendeter Form — Gedanken und Reime fließen ihr nur so zu. Alles ist An schauung, Alles Stimmung —, wie sie eins ward mit der Natur, vertraut mit jedem Baum und Strauch, mit Drossel, Fink und Nachtigall; Alle wußten ihr etwas Besonderes zu sagen, und für Alle» fand sie Form und Bild. Als junges Mädchen mußte AgneS aus dem Elternhaus« fort, wo man, obwohl der Vater Lehrer war, nie an einen geregelten Unterricht dachte. Sie, die nichts Rechtes gelernt hatte, mußte als Lehrerin kleiner Kinder in das Haus eines Försters, um endlich auf den ernsten Zuspruch ihrer Eltern z» heirathen. Nun folgt viel Leid! — Nicht dos Geringste wurde ihr dadurch zugefügt, daß der Blitz sie lähmte, und zwar zu einer Zeit, wo sie Kraft und Gesundheit am nöthigsten hatte. Auch das Eheband zerriß: Zu schmal für Beide ward der Lebensweg, Dort Fels und Trümmer wehrten mir zur Linken, Und rechts war Abgrund — und der schmale Steg Gab nach und brach. — Urvd der mich sollte leiten Verlor di« Kraft DaS ist das kurze, aber wenig trostreich« curiloulum vrtav der Agnes Rieß. Jetzt ist sie allein, arm und krank, doch erlebt sie wieder Freude an ihren Kindern — sogar an dem blind geborenen jüngsten Schmerzenskinde, das so reiche Talente zur Welt gebracht und dessen sich ein braver Mann annahm, damit der nun 17jährige Jüngling eine seiner Begabung ent sprechende Erziehung erhalten könne. Die anderen Kinder — ein Sohn und drei Töchter — stehen auf eigenen Füßen und unter stützen die sehr bedürftige Mutter, die, in Mallmitz in Preußisch- Schlesien wohnhaft, nur einen Wunsch kennt: ihre Tage im Kreise der Ihrigen verleben zu können. Bei der Herausgabe ihrer Gedichte hat Schrattenthal in uneigennützigster Weise auch an die bedrängten Verhältnisse der Dichterin gedacht. Es ist sein herzlicher Wunsch, ihr zu einer pekuniären Unterstützung zu verhelfen, damit sie womöglich nicht lange mehr der „Armuth nackte Gasse" wandeln müsse, wie ihre Genossin in Apoll, Jo hanna Ambrosius, von sich sagt. Mit der Sappho von Wersmeningken hat Agnes Rieß aber nicht nur Krankheit und Armuth gemein, sic gleicht ihr auch an Lebensauffassung und Begabung am meisten von allen Volks dichterinnen, die Schrattenthal um das ostpreußische Gestirn gruppirt hat, wenn sie auch an die Größe dieser Meistersingerin nicht heranreicht. Schwermuth ist der Grundzug, der, wie durch ihr Wesen, so durch ihre Dichtungen sich hindurchzieht, deutlicher noch als bei der Ambrosius. Aber gleich dieser ist sie — mag sein, in etwas minderem Maße — «ine kraftvolle, selbstbewußte Individualität, die, auf sich selbst gestellt, trotz aller Stürme nicht wankt, die sich zu behaupten weiß trotz aller Verneinungen eines feindlichen Geschicks. In doppeltem Sinne hat den Stamm der Blitzstrahl getroffen, aber der Kern ist unversehrt geblieben, und die Wurzeln haften noch fest und lassen, auch im Alter noch Knospen und Blätter, Blüthen und Früchte sprießen. Das sind ihre Lieder. Wie unendlich dankbar ist unsere Dichterin, daß der Himmel ihr die Gabe verliehen, „zu sagen, was sie leidet". So singt sie ebenso rührend wie formgewandt: Bon dir nur, Herr, der du Las Lebe«, Mein glücklos Dasein mir gegeben, Der zugelaffen, daß die Schatten Sich über mich gebreitet hatten, lind Mühsal folgte meinem Gong: Bon dir nur, der ves Glückes Sterne Mir immer zeigt in weiter Ferne, Kommt auch das Liebste, was ich habe, Der holden Muse Weihegabc. Sie sagt eS selbst und sagt eS ost, daß der Drang, dem Namen- und Grenzenlosen „Form und Raum" zu geben, das Widerstrebende zu zwingen und zu gestalten im Liede, sic Uber Kümmernisse und Elend erhob, sie „schweben", aus „Sumpf und Abgrund, aus harten Fesseln, Bann und Zwingern" selbst sich retten lehrte. So ward ihr thatsächlich dir Dichtkunst zur Weihegabe, benn sie bertlärie ihr das von tiefen Schatten um- düsterte Dasein. Und wie tief und richtig sie das Wesen der Poesie erfaßt hatte, mögen einige Strophen aus ihrem „Dichten" überschriebenen schönen Liede erkennen lassen: Wie sehn' ich mich nach einer Stunoe, Wo Herzenssriede mich umfängt, Kein lautes Wort aus rauhem Munde Sich in mein Weltvergessen drängt! Dann kann die Sehnsucht Form gewinnen, Wenn Wahn und Wahrheit sich verwebt, Wenn süßes selbstvergesines Sinnen — Schier unbewußt — nach Grenzen strebt. Ein Müssen, — ohne eignes Wollen, Ein Drang zu wollen, — ohne Muß. Und Phantasie und Wahrheit zollen Der Stunde ihren Weihegruh. Wir hoffen, daß nicht wenige unserer Leser und Leserinnen sich den schlichten Strauß der „Thaulilien" (so sagt man in Schlesien für Maiblumen) kaufen werden und bitten sie, dieser Lied zu End« zu lesen. Wir sind überzeugt, sie werden mit uns in dem Urtheil iibereinstimmen: diese Leistung adelt die arme Frau aus dem Volke, denn sie ist eine edle, nach Form uno Duft gleich vollendete Blüthe unverkennbar echteH Poesie. Ilnü solch herrlicher Geschöpfe einer bezaubernden Phantasie giebt'c. in dem kleinen Buche noch eine ganze Reihe, und Manche darunter ist noch schöner und noch höheren Lobes würdig. Mau lese nur, um wenigstens Einige- zu nennen: „Wenn der Roth dorn blüht", „Verbotene Wege", „Des Försters Töchterlein", „Am Begräbnißtage meiner Mutter", „Gretchen's Magdaleieu lieber" und vor Allem „Kaiserin-Königin Elisabeth", ein Ge denkblatt an den Tag ihrer Ermordung. Die» Lied, rin Meister werk in jeder Beziehung, hat die alternde Agnes Rieß, die von sich sagt, daß des Winters Schnee ihr Haupt schon bleiche, ge schrieben. Das läßt uns hoffen, daß ein freundlicheres Geschick ihr noch manchen Dichtersrühling schicken werde, und daß die Thaulilien nicht der erste und letzte Strauß gewesen find, den ihre kunstgeübtc Hand uns gewunden. Eine gewisse Richtung modernster Poesie führt unS geflissent lich in die .Hütten der Armuth und zeigt uns, grell beleuchtet, ihren Heroismus, aber viel öfter noch ihren Schmutz und ihre Ver worfenhrit auf der Bühne. Bon manchem dieser Produkte riicksicht» losesten Naturalismus wenden wir uns angeekelt ab, tvenn wir auch der neuen Richtung ihr gutes Recht nicht absprechen. Hier ist eine Märtyrerin der Armuth. Treten wir getrost in die niedere Hütte, wir finden nicht wüste Leidenschaft, nicht eine Predigerin des Hasses, sondern eine Priesterin des Schönen, die eS versteh!, sich selbst und damit die Armuth, die ihr Loos ist, zu überwinden Man sieht, inmitten der socialen Entzweiung unserer Tage leben im Volke noch ursprüngliche Kräfte der Versöhnung. Un klug und undankbar wäre eS, wollten wir sie unbeachtet lassen 0. 8.
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