Delete Search...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.07.1893
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1893-07-29
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18930729020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1893072902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1893072902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1893
- Monat1893-07
- Tag1893-07-29
- Monat1893-07
- Jahr1893
- Links
-
Downloads
- Download single page (JPG)
-
Fulltext page (XML)
BezugS.PreiS L» d«r tzanptivrdttton oder dm tm Stadt» bezirk »ad den Bororten errichteten Aut- paleitellei, abgeholt: vierteljährlichst 4.SV, bei zweimaliger täglicher Zustellung in« Haue ^l b.ü6. Durch die Post bezogen sür Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich ^l 6.—. Directe tägliche Kreuzbandienduug in« Ausland: monatlich >t 7.50. Die Morgen-Au-gabe erscheint täglich '/,7 Uhr^ die Abend-Ausgabe Wocheutogs b Uhr. Redaktion und Expedition: Johannrsgaff« 8. Dt« Expedition islWocheatag« onuaterbrochr» geojsnet von früh 8 bi« «Kord« 7 Uhr. Filialen: ktl« Le»«'» Tsrttm. (Alfre» Hah«^ UniversitätSstraß« 1, Loni» Lösche. DaHarineustr. 1s, part. uud Nönigsplatz 7. Abend-Ausgabe. Anzeiger. Organ fiir Politik, Localgcschichte, Handels- and Geschäftsverkehr. Anzeigen-PreiS die 6 gespaltene Petitzeile LO Pfg. Neclamen unter dem Redaction-strich (s ge» spalten) 50->j, vor deu Familiennachrichtea (6 gespalten) 10^. Gröbere Schriften laut unserem Prris- vcrzcichniß. Tabellarischer und Zisserulatz nach höherem Tarif. ikrtra-Beilngri, (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung ^l SO.—, mit Poslbesörderuog ^l 70.—>. Aunahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- s Uhr. Sonn, und Festtags früh '/,9 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je rin« halbe Stunde früher. Snzcigrn sind stets an di« Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Pol» t» Leipzig ^ M E Sonnabend den 29. Juli 1893. 87. Jahrgang. Zur gefälligen Seachtmig. Unsere Expedition ist morgen Sonntag, den 30. Jnli, Vormittags nnr bis V-0 Uhr geöffnet. I^xpellitiol» tles '1'»L;6i)lrt1te8. Politische Tagesfchaa. * Leipzig, 29. Juli. Der BiindcSrath ist, nachdem er gestern dem ihm vom Reichskanzler vorgelegten Entwürfe einer kaiserlichen Ver- ordnun g, betreffend Erhebung eines ZoUznschlagcs sür aus Rustland kommende Maaren, zugestimmt hat, in die Ferien gegangen. Er hält cs also nicht sür wahrscheinlich, daß dem nächst auf zollpolitischcm Gebiete eine Veränderung der Situation eintrelcn werde, die zu veränderten oder neuen Maßnahmen nöthigen würde. Die Nachricht, daß der öster reichisch-russische Handelsvertrag schon so gut wie perfect sei, ist bereits von Wien aus dementirt worden. Zweifel los ist, daß Oesterreich-Ungarn durch baldigen Abschluß eines solchen Vertrages wesentlicheVortheile gegenüber der deuls chen nach Rußland exportirendcn Industrie erlangen und letztere viel leicht aus dem Felde schlagen könnte, wen» wir in eine» lang dauernden Zollkrieg mit Rußland geriethen. Während des ösrcrreichisch-rumäinschenZollkriegs,der bis vcrKurzcmund zwar säst sünf Jahre anhiclt, ist eine solche Verschiebung zu unseren Gunsten eingetreten; die österreichische Ausfuhr nach Rumänien nahm stark ab, die unsere wuchs bedeutend. Ein weiteres Verdrängen vom russischen Markte ist für die deutsche Industrie gewiß schlimm; aber L In guerrs comme L In gnorro. Und gerade bei energischer Haltung unsererseits ist zu hoffen, daß wir zu einem langjährigen Zollkrieg mit Rußland nickt kommen. Daß Zollkriege beide Theile schädigen, lehrt die Erfahrung, wenn auch Deutschland den russischen Markt leichter entbehren kann, als umgekehrt. Leiber sind ja seit dem Ueberhandnehmen der Schutzzoll-Aera Zollkriege keine ungewöhnliche Erscheinung mehr; neben dem österreichisch-rumänischen haben wir besonders den fran zösisch-italienischen gehabt, neuerdings fördert der französisch- schweizerische unsere Ausfuhr nach der Schweiz nicht unerheblich. Einen Lichtblick gewährt wenigstens die neuere Bewegung: sic zeigt das System deS Hochschutzzolles, der nationalen Ab schließung all ribsurckum geführt; auch seine beiden Haupt- rcpräsenlanten in der jüngsten Zeit, Frankreich und Rußland, fangen an, zum Vertragssystem zurückzukehren, und wenn das im Einzelnen nicht ohne Kämpfe und Verluste möglich ist, so darf man dock danach wieder einen freieren Zug in der internationalen Handelspolitik erwarten. Trotz der ofsiciösen Beschwichtigungsversuche mebrt sich in der deutschen Presse das Unbehagen über die anscheinend in sicherer Aussicht siebende Wiedereinführung deS polnischen Sprachunterrichts. Das Mißbehagen würde vielleicht nicht einmal so groß sein, wenn nicht in den letzten Jahren persön liche Beziehungen polnischer Abgeordneter über die Köpfe ver Minister hinweg einen den polnischen Aspirationen günstigen Einfluß zu erlangen suchten. Herr v. Koscielski bat noch kürzlich einem Besucher ausdrücklich die Wiedereinführung des polnischen Sprachunterrichts als eine der Bedingungen bezeichnet, unter denen die Polen zwar nicht gute Preußen werden, wobl aber zu einem starken dynastischen Gefühle gelangen könnten. Vom staatlichen Standpuucte aus wäre damit recht wenig gewonnen, denn ein „starkes dynastisches Gefühl" könnten die Polen auch noch baten, wenn die Provinz Posen oder noch andere Landcstheilc sich zum preußischen Staate nur noch im Verbältniß der Personalunion befänden. Der polnischen Geistlichkeit wird mau aber nicht einmal dynastisches Gefühl einimpfcu, denn dieser ClcruS hat sich in seiner großen Mehrzahl stets als der unversöhnliche Feind des preußischen Staates erwiesen. Das wußte auch der preußische EultuS- minister noch am l l. Januar d. I. ganz genau, denn damals erklärte er im preußischen Abgeordnetciihauje: „Mit dem Moment, wo wir wieder einen polnischen obliga torischen Unterricht in den Schulen einsiihren, würde einsach der Lebrer nicht nur erlahmen, sonder» das ganze System wurde durchbrochen sein: das Polnische würde mit diesem Moment wieder die herrschende Sprache in der Schule werde» und das Deutsche würde darniederlicqeii. Wir würden einen Rück schritt machen gegen diejenigen Ergebnisse, die wir jetzt in der deutsche» Eulturarbeit zu verzeichnen haben. Das kann einer deutschen Regierung doch auch Niemand übelnchmen, wenn wir beute die Kinder nicht zu national-polnischen Aspirationen erziehen. Wenn wir die national-polnische Agitation i» der excessiven Form, in der sie jetzt in Posen austritt und die sich sogar ans Oberschlesicn erstreckt, auf eine Provinz, die niemals zum Königreich Polen gehört hat, stärken sollen, dann sägen wir einfach den Ast ab, auf dem ivir sitzen. Das kan» keine deutsche Regierung, das kann kein deutscher Cultusininister jemals machen." Willigte die preußische Regierung nun wirklich in die Wiedereinführung deS polnische» obligatorischen Unterrichts, so würde sie einfach vor den polnischen Ansprüchen capiluliren. Die Wiedereinführung eines solchen Sprachunterrichts wäre aber nicht nur für unsere inneren Verhältnisse im gegen wärtigen Augenblick bedeutsam. Wie aus dem in diesen Tagen bekannt gewordenen Erlaß des russischen General- Gouverneurs von Wilna, Kowno und Grodno, General- Liculcnanls v. OrschcwSky, hcrvorgeht, gehen die russischen Behörden mit rücksichtslosester Energie gegen die polnische Sprache vor und bedrohen deren Anwendung selbst im intimsten Verkehr mit Strafe. Fern davon, eine so exccssive Maßregel zu billigen, kann man doch nicht umhin, auf den Gegensatz hinzn- weisen, in den wir durch einen obligatorischen polnischen Sprach unterricht zu Rußland geratbcn. War die polnische Frage ehedem die fast unerschütterlich« Basis des Einverständnisses mit Rußland, so muß die dem russischen System so diametral entgegengesetzte Behandlung der preußischen Polen noth- gedrnngci, die Kluft noch mehr vertiefen, welche uns politisch von Rußland trennt. Zn Rußland wird man darin einfach feindliche Maßnahmen sehen und demgemäß cS an Gcgen- zügen nicht fehlen lasse». Ob daS, waS unsre Regierung damit zu erreichen gedenkt, das Opfer, wclckeS sie bringt, aufwiegt, ist eine Frage, welche an der Hand der Erfahrung nur verneint werden kann. Der belgische Senat hat die Berathung des vom Senator De Coninck gegen den Zweikampf eingebrachtcn und, wie bereits am Mittwoch gemeldet, von der SenatScommission angenommenen Gesetzes begonnen. Die Generaldebatte ergab, daß sowohl alle Parteien dcö Senats selbst, also die Conservativen, Klerikalen, Doctrinär-Liberalen und Fort schrittler, als auch die Regierung dem Gesetze geneigt sind. Man ist darin vollständig einig, daß dem Unwesen dcö Zweikampfes unbedingt ein Ziel gefetzt werden und der Staat gegen „diese Schmach der Zivilisation" energisch einschreiten muß. Der doctrinär - liberale Senator De Broucksre forderte insbesondere die Anwesenheit des KriegSministers bei diesen Verhandlungen und die Abgabe unzweideutiger Erklärungen. Der Justiz minister sprach seine Zustimmung zu dem Grundsätze deS Gesetzes ans, brachte aber eine Reibe von VcrbcsserungS- anträgen ein, um dieses Gesetz mir dem Strafcodex in Uebcreinstimniung zu bringen Ter Minister tadelte, daß der Eoninck'sche Entwurf keine Abstufung der Strafen znlasse und dem Richter die Würdigung der einzelnen Fälle cntzicbc. Mit der Strenge der angcdrohten Strafen stehe im Widerspruche, daß die Aufreizung zum Zwei kampfe nur mit mäßigen Strafen belegt werden soll; hier seien die schwersten Strafen am Platze. Voll zu billigen sei die Einführung der Aberkennung der Reckte als „die beste Strafe sür den Zweikampf", doch müsse es dem Richter zustehen, diese Aberkennung zeitweise auszusprechen und überhaupt „bedingt" zu vcrnrtheilen. Eine Bestrafung der Zeugen sei nur geboten, wenn der Zweikampf statt- gesunden habe. Der Antragsteller De Eoninck sprach sich sür die Annahme aller VerbcsserungSanträge des Ministers auS und verlas ein ihm zugegangcnes Schreiben der englischen Officiere, welche daS amtliche Militairblatt „Army and Navy" rcdigircn. Dieselben verurtheilen den Zweikampf aufs Schärfste; die englische Armee kenne nicht den Zwei kampf, und der Officicr, welcher sich schlage, werde auS der Gesellschaft anSgestoßen und nicht mehr als „Gentleman" anerkannt. Die Verhandlung erweist, daß das Gesetz im Senate angenommen wird. Die Einzclberathung der Homcrulcvorlaite im englischen Unterhaus ist am 27. Juli Abends, wie bereits telegraphisch gemeldet, glücklich beendet, nachdem sie nicht weniger als 4«) Tage gedauert hat, und mit Mehrheiten von 90 bis 95 Stimmen sind auch die letzten Paragraphen der Homerule bill zur Annahme gelangt. Bedauerlicherweise kam es zum Schluß aber noch zu scondalösen Auftritten, deren wir auch an dieser Stelle gedenken müsse». Bei der Erörterung eines vom Parnclliten Elancy gestellten Antrages, der irischen Regierung einen jährlichen Uebcrschuß von 500 000 Lstrl. zu verbürgen, hielt Ehamberlain eine äußerst leidenschaftliche Rede. Er behauptete, die Homerulevorlagc sei in den wesentlichsten Punctcn geändert worden, ohne den min desten Einwand der liberalen Partei. Sage Gladstone schwarz, dann rufe die liberale Partei: Gut! Sage er weiß, dann rufe sie: Besser! ES sei stets die Stimme eines Gottes. Eine solche sclavische Vergötterung sei seit den Zeiten deS HerodeS nicht dagewcse». Nach dieser Aenßerung wurde, wie bereits telegraphisch kurz gemeldet, von den irischen Bänken häufig „Judas!" gerufen, worüber sich die TorieS sebr zu ärgern schienen. Einige lenkten die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden Mellor ans den Ausdruck „JudaS", aber dieser lehnte ein Ein schreiten ab, weil er persönlich ibn nicht gehört habe. Inzwischen wurde die Erörterung geschlossen und unter großer Auf regung deS Hauses zur Abstimmung geschritten. Die meisten Abgeordneten blieben indes; im Hause. Der Vorsitzende wurde wiederholt angegangen, das Betragen des irischen Abgeordneten O'C on n o r, der währcndChamberlain'sNede beständig „Judas" gerufen hatte, zu tadeln. Es entstand ein fürchterlicher Tumult. Der Gladstoncaner Logan, der sich im Laufe eines Wortwechsels mit dem Unionisten Fisher auf die vorderste Oppositionsbank setzte, wurde von Fisbcr und anderen Unionisten beim Kragen gepackt und zurückgestoßen. Die Irländer erhoben sich erregt von ihren Sitzen und eilten Logan zur Hilfe, worauf sich zwischen Irländern und Unionisten im Parguct des HanseS eincrcgelrechteSchlägerei entspann, in deren Verlause mit Fäusten wild gekämpft wurde. Mehrere Abgeordnete wurden zu Boden geworfen, andere erhielten Verletzungen am Kopse, Vielen hingen die Kleider wie Fetzen am Leibe. Eine wahre Katzenmusik begleitete diesen schmählichen Auftritt, der kein Ende zu nehmen schien, da sich immer mehr Abgeordnete an dem Ringen bethciligtcn. Die Beamten des Hauses waren außer Stande, die Rübe berzustellcn. Endlick rief Jemand inmitten deS unbeschreiblichen Lärmes mit Stentorstimme: „Sendet nach dem Sprecher!" Testen Erscheinen wirkte besänftigend. Nach Herstellung der Ruhe bat O'Eonnor um Ent schuldigung, wenn sein Rusen „JudaS" den Austritt verursacht habe. Damit endete der Zwischenfall. Sodann wurde die neue Finanzclausel mit 312 gegen 291 Stimmen an genommen, die übrigen Elauseln wie die zurück- gestellten wurden ebenfalls genehmigt und der Zeitpunct für die Berichterstattung auf den 7. August anberaumt. Die vorerwähnten Schlägereien und groben Beleidigungen aber werden, wie uns heute aus London telegraphisch gemeldet wird, noch ein gerichtliches Nachspiel haben, da Ehamberlain mehrere Abgeordnete, welche ihm beleidi gende Rcdensarlen zuriefcn, zu verklagen beabsichtigt. Die Ausgrabung der sterblichen Ueberreste des russischen Obersten Palizyn in der ungarischen Stadt MnnkLcs und die Uebcrfüvruiig dieser Ueberreste nach Rußland hat in Petersburg infolge des Umstandes keine besondere Auf merksamkeit erregt, daß gleichzeitig andere wichtigere politische Ereignisse daS Interesse des großen PublicumS und der Presse in Anspruch genommen hatten. Immerhin hat aber der erwähnte Vorgang und der würdige Verlauf desselben in einem Theile^ der russischen Presse die gebührende Beachtung gesunden. So widmen die „Novosti" dem Gegenstände einen längeren Artikel, in welchem dieses Ereigniß als ein Beweis dafür bezeichnet wird, daß es unter gewissen günstigen Bedingungen leicht möglich wäre, die feindseligen Borur- th ei lc zu bcseitigeii.welche bis zum heutigen Tage zwischen den Ungarn und den Russen bestehen. Die gcgenrbeilige Ansicht, die vielfach verbreitet sei, beruhe entschieden auf irrigen An nahmen. Uebrigcns, fügt das Blatt hinzu, lasse sich ja Nachweisen daß Rußland seit 1819 seine Politik Ungarn gegenüber ge ändert habe. Es habe die Regeneration des magyarischen Volkes nicht bekämpft, und die öffentliche Meinung in Rußland habe sogar diesen Proccß mit aufrichtigen Sympathien beob achtet. Weiter wäre cs doch widersinnig, die jetzige Gene ration dafür verantwortlich z» machen, waS die vorher- gegangcne unter ganz anderen Voraussetzungen gethan habe, und sei cS selbstverständlich, daß die Ideen und Gefühle sich mit den geänderten Umständen ebenfalls ändern müssen. Es wäre, so schließt das Blatt seine Bemerkungen, ungerecht von den Ungarn, wenn sie wegen der längst vergangenen Ereignisse der Jahre 1848 und 1849 noch immer Haß gegen Rußland hegen würden. In diplomatischen Kreisen der türkischen Hauptstadt, die der jugendliche Kbedivc eben erst verlassen bat, glaubt man aus gewissen An;eichcn schließen zu können, daß "Eng land die Zügel der Regierung tsgiiptcns jetzt straffer als je in der Hand hält und sich völlig als Herr der dortigen Lage fühlt. Die Schlußfolgerungen aber, zu denen man, wenigstens in den russisch und französisch gesinnten Kreisen, gelangt, sind darum nichts weniger denn beruhigend. Im Gegentbcil, man unterstellt in jenen Kreisen der englischen Politik daS Trachten, sich des Khedive mit möglichster Kürze zu entledigen und wegen Egyptens mit der Pforte ein Sonderabkommcn zu schließen. Diese Vorstellung eines englisch - türkischen Sondcrabkoinmens über Egypten wächst sich manchen OrtcS geradezu zu einer fixen Idee aus, wclcke nickt einmal vor der Zumutbung Halt macht, den Dreibund sür diesen Zweck in Bewegung zu setzen. England soll nach dieser Theorie nur darum auf sofortige Bcrwirtlichung seiner cgyptischen ZukunftSpläne verzichtet Fcirillrtsn. Ln des Reiches Ostmark. 1j Roman von B. W. Zell. Nachdruck verboten. I. „Graf Podbielski kehrt heim!" Die Kunde versetzte die Jnsasten deS Schlosses Podbiels in hochgradige Erregung und flog von dort wie auf WindeS- schwingcn durchs Dorf, zu den Nachbargütern und weiter bis zur kleinen Kreisstadt, welche den Mittelpunct deS polnisch- germanisirten Landstrichs bildet. Graf Podbielski, der große Patriot, der nun seit zwanzig Jahren, grollend den staatlichen Verhältnissen seines preußischen HeimathlandcS, in Paris lebte und während dieser langen Zeit nicht ein einziges Mal aus seinem schönen, weit und breit berühmten Herrensitz erschienen war. Tie jüngere Generation kannte ibn nur von Hören sagen und batte gelernt, ihn als einen Märtyrer sür die un glückliche polnische Sache zu verehren, wie sich denn überhaupt ein ganzer Sagenkreis um die Persönlichkeit des Grasen ge bildet batte. Was daran wahr und was falsch, wußten nur die Ein- gewciblen zu unterscheiden. Allen aber galt kaver Podbielsti als einer der edelsten polnischen Magnaten und zugleich als einer der wenigen BeneidenSwcrthcn, welchen die unerhörten, immer wieder im Namen des Vaterlandes geforderten Opfer nicht zum Bettler gemacht hatten. Wohl war durch diese gern und freudig gebrachten Opfer das einst fürstliche Ver mögen der PodbielSkis bedeutend zusammcngcschmelzen, doch genügten selbst die Trümmer desselben noch, den Grafen zu einem reichen, unabhängigen Manne zu machen. Während aber die Ebelleute der benachbarten Güter noch bericthcn, ob man dem heimkehrcnden Patrioten nicht einen osficielle» Empfang auf dem Bahnhof der Kreisstadt bereiten und ihn im Triumph mit glänzenden Gespannen nach Podbiels geleiten sollte, batte Gras .kaver die Grenzen seiner Besitzung bereits überschritten und fuhr vor dem Schloß vor. Ter alte Eastellan ließ eben eine Gencralrcinigung und Lüftung der so lange nicht bewohnten Räume vornehmen, als in seine energischen, mit polnischen Flüchen vermischten Eommaiidorus'e hinein daS Rollen eines Wagens tönte. Gleichgiltig trat der Alte an eins der hohen Fenster, und seine Mienen wurden schier geringschätzig, als er vor der Freitreppe eine der MicthSkalefchcn halten sah, wie sie stets aus dem Baknhofe zu finden. Erst als eine hohe Männergestalt dem einfachen Gefährt entstieg, ward er aufmerksam, um gleich darauf mit lautem Aufschrei davonzustürzcn. Draußen vor dem Portal lag dann der vor Schreck und Freude in die Knie gebrochene Greis dem Ankömmling zu Füßen und bedeckte dessen Hände mit Küssen. „Gras kaver — mein tbeurer, gnädiger Graf! Daß meine alten Augen Sie noch schauen dürfe»! Und ich wußte die Zeit der Ankunft nicht — in einem MiethSwagen sind mein gnädiger Graf —" Lächclno und doch bewegt hob Graf ikavcr die zusammcn- gesuiikcnc Gestalt empor. „Laß nur, mein alter Ignaz, ich wollte eben still und un bemerkt kviiimen. War cs mir doch neu und ungewohnt, mit dem brausenden Dampfroß bis dicht vor Podbiels reisen zu können; als ich wegging von hier, war an Bahnverbindung in diesen Landen noch nicht zu denken. Aber nun komm und führe mich in mein Zimmer. Ich fürchte fast, im eigenen Haus nicht mehr Bescheid zu wissen!" „O, das vergißt sich nicht, Herr Graf! Leider ist erst ein einziges Zimmer bewohnbar, die Scheuerfrauen haben alle Räume unter Wasser gesetzt." „Das eine genügt, mein treuer Alter. Aber nun laß Dich einmal ansckauen — wahrhaftig, die zwanzig Jahre sind spurlos an Dir vorübergegangcn. Kein weißer Fade» ist in dem schwarzen Haar zu entdecken, der Falten im Gesicht sind nicht mehr geworden." „Weil damals schon genug vorhanden waren, gnädigster Herr!" „Und der Rücken ist nickt tiefer gekrümmt, als er cS von jeher war. Wie oft hat mir Tein Bild vor Auge» gestanden, mein alter Ignaz!" Wieder bedeckte der Alte die Hände seines Herrn mit Küssen und Thränen. „Ach, aber erst mein gnädige: Graf! Ta ist gewißlich von Aclterwerden keine Spur — man könnte Sie mit Fug und Recht sür den älteren Bruder deS jungen gnädigen Herrn halten." „Ei, ei, Ignaz, noch nicht das Schmeicheln verkant? Aber rufe mir sogleich meinen Sohn — wann traf er ein?" Offenen Mundes starrte der Alle auf seinen Gebieter. „Graf Wladimir?" „Nun ja, wer sonst?" „Graf Wladimir ist nicht anwesend — ist seit drei Jahren nicht in Podbiels gewesen." lieber des Schloßherrn edles Gesicht flog ein Zug der Enttäuschung. „Wladimir noch nickt hier? So haben wir ihn jede Stunde zu erwarten; sorgt, daß seine Zimmer in Ordnung sind. Und nun komm endlich und bestelle im Vorbeigehen den Samowar, der Maiabend ist empfindlich kühl, und hier im Osten weht die Lust frischer als in Paris." Sie waren inzwischen durch verschiedene zugige Pracht- räumc, in denen mit Staubwedel und Bürste bantirt wurde, bis zum Arbeitszimmer des Grasen gekommen. Beim Eintritt in dasselbe blieb der Hcimgekchrtc stehen. „Zwanzig Jahre!" murmelte er bewegt. „Zwanzig Jahre — und doch steht jeder Stuhl auf seinem alten Platz. Als wäre ich nicht ein halbes Leben keimathfcrn gewesen, nickt inzwischen alt geworden —" plötzlich aber verstummte er jäh niiv faßte heftig des Alten Arm, mit der andern Hand zur Wand empordcutend. Bestürzt folgte Ignaz dem starrgewordenen Blick seines Herrn und schaute min gleichfalls schier entsetzt auf ein wunderschönes Fraucnbildnis; im breiten Barockrahmcn, daS da unter den Familienbilderii deS Geschlechts derer v. Podbielski hing. „Jesus Maria!" stöhnte der Alte ans. „Es muß TeufclS- spuk sein, Herr Graf", — die zitternden Hände machten das .Zeicken des Kreuzes, — „denn noch beute früh besichtigte ich dies Zimmer und sah an dieser selben Stelle, wo jetzt das Bild der gnädigen Gräfin —" „Still!" Es war ein rauher, herrischer Laut, der von des Grasen Lippen brach und den Alten verstummen machte. Erst als ikaver Podbielski, sich abwendend, dumpf fragte: „Heule früh also?" nahm Ignaz die Revc wieder auf. „Hing an dieser selben Stelle daS Bild deS Grasen Wladimir aus seinen ersten Kindcrjalircn, wie cs all die Jahre her hier gehangen hat. Es ist mir unbegreiflich, gnädiger Herr, unv kann nickt mit rechten Dingen zugeben —" „Tu wirst die Sache untersuchen, Ignaz, jetzt aber ent ferne daS Bild. Ich werde indessen einen Gang durch den Park machen." Mit erblaßtem Gesicht schritt der Graf hastigen Schrittes den Weg zurück, den er eben gekommen. Ignaz hatte Recht — der Graf wußte doch noch sehr genau Bescheid im Schloß seiner Väter. Nur die Menschen, die Gesichter waren ibm so unsäglich fremd geworden — oder waren es lauter neue Diener und Mägde, die sich La in den Zimmern und Gängen ehrfürchtig näherten, um mit halbem Knicfall seine Hände zu küssen? Gewiß waren sie Wohl alle erst in seiner Abwesenheit cingetreten, denn wer sollte es, wie sein alter Ignaz, zwanzig Jahre auSgebaltcn haben in dem einsamen Schlosse, dem die Herrschaft fehlte? Flüchtig und verworren zogen diese Gedanken durch deS Grafen Geist, während er wie träumend durch die Blumenanlagen der ab fallenden Terrassen dahinschrilt, um die im ersten zarten Mai grün prangenden Alleen dcö Parks auszusuchen. Gärtner- burschen und Gartenarbcitcr begegneten ibm auf dem Wege und alle murmelten böslich, aber gleichgiltig ibrcn polnischen Gruß, ihn für einen der vielen Fremden haltend, die da kamen, den berühmten Podbielski'schcn Park zu besichtigen. „Fremd in der Hcimath!" sagte Graf Podbielski sich bitter. „Und doch, grade was ich streichen wollte auS meinem Leben, tritt mir beim ersten Schritt in dieselbe mit erschreckender Realität vor die Seele. Geben böse Geister um in meine», Hanse? Wie konnte das unselige Bild in mein Zimmer ge schafft werden — wie, durch wen, wober? Und tcr einzige flüchtige Blick daraus wühlt alle Schmerzen wieder aus, die ich längst todt, vergessen wähnte. Doch das Alles ist vorbei, soll vorbei sein! Ernstere Pflichten sind es, die mich wieder in die Hcimath riefen, und auch ich muß endlich lernen, ertragen, waS doch all meine Brüder tragen müssen — das Joch der Fremdherrschaft. Sich darunter beugen, erfordert mcbr Heroismus, als sich mit Einsatz seines ganzen Gutes mio Blutes dagegen auslebnen — ich will cs aus mich nehmen. Vielleicht rette ich mir dadurch den Sohn." Während der Selbstgespräche des Grafen kavcr war eS dunkel geworden, und langsam schritt er wieder dem Schlosse zu. Treppenhaus und Gänge waren bereits erleuchtet, und in seinem Zimmer fand er den brodelnden Samowar und knisterndes Kaminfeuer. Zwei massiv silberne Leuchter mit brennenden Wachskerzen erhellten den behaglichen Raum. Zn den Wänden hinaus warf Graf .Her keinen Blick, er hätte sich sonst überzeugen können, daß das versebmte schöne Francn- hild durch ein Gemälte ersetzt war, welches daS trauernde, gefesselte Polen darstcllte. Neben dem Kamin stand Ignaz. „Das Abendessen wird in einer Viertelstunde bereit sei». Haben Herr Gras sonst noch Befehle für mich?" „Es muß sofort ein Wagen nach I. geschickt werden, um meinen Kainmcrbicncr mit dem Gepäck abznholen. Sonst nichts, Ignaz. Ich werde bis zum Abendessen Briese schreiben/
- Current page (TXT)
- METS file (XML)
- IIIF manifest (JSON)
- Show double pages
- Thumbnail Preview