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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 23.07.1907
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1907-07-23
- Sprache
- German
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19070723021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1907072302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1907072302
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
- Monat1907-07
- Tag1907-07-23
- Monat1907-07
- Jahr1907
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Abend-Ausgabe 8. Bezugs-Preis für Leipzig und Borort« durch unsere Trtger und Spediteure in« Hau» gebrach«: Aut- gabe L (nur morgen»! vierteljährlich 3 M., monatlich I M : Auigabe » (morgen« und abend») vierteljährlich 4.S0 M., monatlich 1.50 M Durch die »oft bezogen (2 mal täglich) innerhalb Deutschland» u der deutschen Kolonien vierteljährlich 5,25 M., monatlich 1,75 M auäschl. Postbestcllgeld, für Oesterreich S K 66 k, Ungarn 8 L vierteljährlich. Abonnement-Annahme: Auguftutplatz 8, bei unseren Drägern, Filialen, Spediteuren und Annahmestellen, sowie Postämtern und Briefträgern. Die einzelne Nummer kostet IV Pf» Redaktion und (kxvrdttton- Iohanniigasse 8. Delephon Rr. IE, Nr. I46S3, Nr. I46S4. MMerTagMalt Handelszeitung. Nr. 202 verltnrr «edakttou« vurean: Berlin k^sV. 7, Prin, Loui« 8«rdinaad. Straße I. Delephon I, Rr. «275. Ämlsvlatt -es Rates und -es Nolizeiaintes -er Lta-l Leipzig. Dienstag 23. Juli 1907. Nnzeigen-PreiS für Inserate au» Leipzig und Umgebung di» »gespaltene Petitzeile L Ps., finanziell« Anzeigen 30 Pf, Reklamen l M.: von au»wärt» 30 Pf., Reklamen I.20M., vom Aulland 50 Ps., stnanz. Anzeigen 75 Pf.. Reklamen I.bo M. Inserate ». Behörden im amtlichen Deil MPf. Beilagegebüdr 5 M. p. Tausend exkl. Post gebühr. Beschästlanzeigen an bevorzugter Stell« im Preise erhäht. Rabatt nach Daris. Festerteilt« Austräge kännen nicht zurück- gezogen werden. Für da- Erscheinen an bestimmten Dagen und Plätzen wird keine Garantie übernommen. Anzeigen-Annahme: Augu»u«platz 8) »ei sämtlichen Filialen u. allen Annoncen- Szpedltionen des In- und Auälande«. Haupt-Filiale Berit»: Hart Duncks., Herzogl. Bahr. Hosbuch- Handlung, Lützowstraße 10. (Delephon VI, Nr. 4603). 1V1. Jahrgang. Das wichtigste vorn Tage. * Eine Abänderung des Fleischbeschau-Gesetzes soll in Aus sicht genommen sein. (S. DtschS. R.) * Bei den Unruhen in Korea ist auch ein Deutscher verwundet. (S. Ausl.) * In Kreta ist ein Mohammedaner als Unterrichts minister in daS Kabinett eingetreten. (S. AuSl.) Des Dramas letzter Akt? DaS GerichtSvrama »Prozeß Hau" ist zu Ende — oder auch noch nicht. Vielleicht war die lange Gerichtsverhandlung in Karlsruhe erst der vorletzte Akt dieses aufregenden, an Spannung stelS wachsenden Dramas. Der Verteidiger bat den Ausgang dieses Prozesses schon vorausgeseben. Er halte schon, ehe das Urteil gefällt wurde, die Revisionsschrift auszearbeitet. Er wird sofort gegen das Urteil Revision einlegen. Ob sie Erfolg haben wird? Man möchte cS glauben, ja sogar hoffen. Und har sie Erfolg, dann wird sich erst wirklich der letzte Akt des Dramas »Prozeß Hau" ab spielen. Ob er daS Drama zur Tragödie machen wird oder zu einem Schauspiel mit versöhnendem Abschluß, das liegt noch im dunklen Schoße des Schicksals. Man möchte cs hoffen, sagten wir, nämlich daß die Revision Erfolg hat; daß die Verhandlung noch einmal vor ein Schwurgericht und dann vielleicht vor ein anderes verwiesen wird. Man möchte es hoffen. Nicht etwa, weil der Angeklagte dem Laienpublikum besonders sympathisch erschienen wäre. O nein! Ganz im Gegenteil. Er hatte am Anfang ves Prozesses die vollste Antipathie des Publikums. Mit einer Gründlichleit, die vielleicht ein Zuviel an sich hatte, wurde das Vorleben des Angeklagten in der breiten Dessenllichkert Phase auf Phase bekannt gegeben. Und es ist ein wüues, wildes Vorleben, das eines vollendeten Don Juans. Von der Schülerzeit bis zum Tage der Verhaftung wurde das Leben Haus genau geprüft: Weibergeschichleu, Weibergeschichten und immer wieder Weibergeschichten! Der Name Otsro taucht auf, der Name Carmencita. Und dazwischen plötzlich wieder Namen ganz anderen Klanges und Wertes: Roosevelt, Vanderbilt, RockeftUer, Generalkonsul Dr. Schönfeld Mw. Und dann die ver schiedenartigsten Orte, an denen der sonderbare Mensch, der einen so kühnen Ausflug nahm, gelebt und gewirtt hatte! Groß-Lüttken an der Mosel, Freiburg, Ajaccio, Washington, Konstantinopel, Pest, Wien, Paris, London, Baden-Baden und Karlsruhe — welch ein schicksalürcicher Weg den Berg hoch hinauf und dann rasch, abschüssig wieder hinunter: Ge burtsort, Studienaufenthalt, Ort der Liebesabenteuer mit seiner späteren Frau, Städte des Äbenteuertums, lühnen Planens und großer El folg und zuletzt der Ort des Verhängursfes. Ein abwechslungsreiches Leben für- wahr! Und doch nur die kurze Strecke von 26 Jahren! Und die Antr- palbien gegen den Angeklagten im Publikum sangen an mehr und mehr zu weichen. Der Angeklagte begann eine interessante Persönlichkeit zu werden. Er ist ein Mensch, bei dem die Grenze zwilchen Genie und Irrsinn sehr schwer zu ziehen ist. Die Psychiater haben ihn für geistig normal erklärt, folglich bleibt nur noch eins übrig: er ist ein Genie. Er ist ein „Uebermensch", wie einer iriuer Freunde erlläite; aber kein Ueberiuenfch lin Nictzicheschen Sinne, der hohen, edlen Zielen zuslrebt, die Menichheit hiuaufpslaiizen will, sondern ein Daney-Uebermensch, weichlich, genußsüchtig und charalter- loS. Und doch — und das ist daS Sonderbare an vielem psychologisch interessanten Menschen — und doch tann auch er charakterfest er scheinen, und dann sogar so, daß die Charakterfestigkeit an Torheit zu grenzen scheint. Er verweigert, gerade wo eS ost um den Kops geht, dre Aussagen. Ein erlösendes Wort, und er könnte sich aus der Schlinge ziehn! Aber er tut'S nicht. Warum? Will er gentlewau- liico bandeln? Will er die Ehre einer Dame retten, selbst wenn er dafür den Kopf aufs Schafott legen müßte? Leuß hat Aehnliches einst getan. Er ging lieber ins Zuchthaus, als daß er die Dame seines Herzens der öffentlichen Schande preiSgab. Leuß ist trotz des Zucht hauses ein Ehrenmann! Ist Hau vielleicht von demselben Holze? Wer kann's beweisen? Wer wagt'S zu bestreiten. Etwas stimmte zwischen Frl. Olga Molitor und Hau nicht. Over besser: etwas ltimmte nur zu gut! Aber wer kann einem solchen Renommisten und Komödianten, wie Hau, glauben? Renommist? Das Wort fiel oft. Der Staatsanwalt hatte cS anck gebraucht; auch mancher Zeuge. War es aber mit der Renommisterei deS Hau gar so arg bestellt? Er batte mit seinen vielen Liebes abenteuern renommiert. Traurige Renommage! Aber daS Gericht gab gerade die Liebesabenteuer bis aus das kleinste zum besten. Er hatte mit seinen großen Beziehungen reuommiert. Nun, es wurde nachgewiesen, daß er mit Roosevelt bekannt war, die Freundschaft oder meinet wegen auch die Gönnerschaft eines Rockeselker und Vanderbilt genoß, türkischen PaschaL hohe Trinkgelder gab und sonst noch manchen hochgestellien Freund hatte. Er hatte mit seinen Geldern renommiert. Nun, genug Geld ist durch seine Hände ge gangen, soviel, daß selbst der Vorsitzende der Ueberzeugung war und sie aussprach, bei Hau spielten doch 10 000 keine Rolle. Also wo ist da etwas von haltloser Renommage? Ein Renommist war aller dings Hau. wie eS ja gerade ost geistig hochstehende Leute sind. Die schlickten Genies sind weiße Sperlinge un Genieland. Doch gerade die Renommagen, die die Anklage zu ungunilen Haus als unberechtigt hinstellte, die waren begründet. Geld und Gönner hatte Hau mehr als hunderttausend andere Sterbliche. Und darauf kam es hauptsächlich an, denn Geldgier sollte ja das Motiv der Tat gewesen sein. Hau soll auf die Erbschaft seiner Frau spekuliert haben. Die ermordete Frau Molitor batte ein Ver mögen von 947 202 Es erhielt also jedes Kind 135 3l4 Frau Hau halte 65 000 bereits ausgezahlt erhalten, 14 287 fallen aus das Haus, sokglick hatte sie nock 70—75 000 -L zu erhalten. Und wegen die>er 70 000 sollte Hau den Mord begangen haben? Möglich und doch unwahrscheinlich. Em Mann, der mit einem Male Hundertlausende erhallen kann, wird doch wegen einer für ihn geringfügigen Summe keinen Meuchelmord begehen oder er steht jenseils der Grenze des Genies — <r ist wahnsinnig. Es haben ja schon hochangesehene, gulsilnierte Gelehrte wegen eines Buches Dieb stahl begangen. Daran, daß Geldgier das Motiv der Tat sei, schien zuletzt der Gerichtshof selbst nicht mehr recht zu glauben. Denn der Vorsitzende warf mehr als einmal die Frag" auf, ob vielleicht die Kugel des Mörders nicht der Olga gegolten bade. Vielleicht war es Rache des verschmähten Liebhabers? Die Auffassung wäre schon eher denkbar sür den, der den Menschen Hau genügend studiert zu haben glaubt. Als das Drama sich feinem Ende zuneigte, da machte Hau das senianonelle Geständnis, daß er seine Schwägerin Olga glühend geliebt habe. Das ist aber noch lange kein Grund, sie zu erschießen, zumal Olga unter dem Eide gestand, daß sie von dieser Liebe nichts gewußt habe. Hau hatte al>o keinen Grund, zornig oder eifersüchtig zu sein, denn Olga hatte seine Liebe nicht zurückgewielen und ihre einem anderen geschenkt. Und dock einmal war lo etwas wie Liebes- auStausck zwischen beiden vorgelommen. Hau gesteht ihr seine Liebe. Sie sagt: „Gehe zu deiner Frau". Auch Olga scheint für Hau stille Nei gung enigegrngebracht zu haben. Die Pariser Austritte lassen eS ver muten. Widersprüche, nichts als Widersprüche! Aber direkte Beweise für Vie Schulv Haus wurden auch hier nicht erbracht. Allerdings ist der Verdacht gegen Hau ein erdrückender. Vor allem hüllt sich Hau bei den gravierendsten Fragen des Vor sitzenden in Stillschweigen; selbst bei Fragen, die nicht den Kavalier Hau zum Schweigen zwingen könnten. Selbst eine solche wickuge und verfängliche Frage wie: „Sollte der Schuß vielleicht Fräulein Olga gelten und Haler nur zufällig Frau Molitor ge ¬ troffen?" beantwortet er nicht mit einem klaren: „Wie kann ich das wissen, da ich nicht der Mörder bin?" sondern mit: „Auch darüber lehne ich ab, zu antworten." Man könnte diese Art der Verteidigung plump nennen, wenn Hau nicht ein so kluger Kopf und tüchtiger Jurist wäre. Selbst der Vor sitzende witterte in diesem Verfahren großes Raffinement. Er sagte: „Man kann Ihr Schweigen auch für ein ganz raffiniert ausgeklügeltes VerteidigungSmittel halte»." Ferner belastet den Angeklagten die mysteriöse Pariser Telegrammgeschichte, die Geschichte mit dem Wiener Kreditbrief, die Komödie mit dem falschen Bart — alles sonderbare Dinge, die aber direkt nicht im geringsten dem Angeklagten den Mord nachweisen können. Indizienbeweise, nichts als Indizien beweise! Und auf Grund bloßer Indizienbeweise darf kein Angeklagter für schuldig erklärt werben. Die Schuld ist ihm, wenn er nicht geständig ist, klipp und klar nachzuweisen. Das muß wenigstens bel einem Gelehrten - Nichterkollegium so der Fall sein. Die Geschworenen aber haben darin freiere Hand. Sie fällen nach bestem Wissen und Gewissen ihren Spruch, und nach bestem Wissen und Ge wissen haben sie sicher den Hau schuldig gesprochen. Das Publikum aber, daS aus venselben Elementen wie die Geschworenenbauk zusammengesetzt ist, ist enttäuscht. Es war mit der Zeit auf Haus Seite getreten. Es hielt ihn sür einen wüsten Gesellen, aber nicht für den Mörder, wenigstens nicht für einen des Mordes Ueberführten. Und daher diese Enttäuschung! Auf die Geschworenen mag ja so manches eingewirkt haben, was den Hau als Täter erscheinen lassen mußie; abgesehen von den Indizienbeweisen, die ja sehr belastend sind, auch vor allem die Aussagen der Söhne und Schwiegersöhne der ermordeten Frau Molitor, ferner das Testament der Frau Hau, die darin bestimmt, daß ihr Kind, auch wenn der Mann freikommt, der Schwester Olga übergeben werden und daß es einen andern Namen tragen solle. Auch die Berichte, die lange vor der Verhandlung iu der „Badischen Presse" er schienen sind und entschieden dazu angetan waren, Stimmung gegen ihn zu erregen, haben sicher zu ungunsten des Angeklagten ein- gew rkt. Um diese Berichte vrehte sich ein heißer Streit. Der Ver teidiger, der durch seine Unerschrockenheit und Geistesgegenwart all gemeine Sympathien sich erworben und mit Vorsitzenden und Staats anwalt manchen harten Strauß auSgesochlen bat, beschuldigte die Anklagebehörde, vaß sie in der Presse Stimmung gegen den Angeklagten gemacht habe, während ver Staatsanwalt diesen Vorwurf entschieden zurückwies und die Verteidigung bezich tigte, dies getan zu haben. Interessant in diesem Streite — um statt deS Wortes interessant kein anderes, schärferes zu gebrauchen! — war eine Kundgebung des Siaatsanwalteü. Si« zeigt so recht, in welchem Lichte manche Anklagebehörve die verhaßte Presse noch sieht, dieselbe Presse, die ihr zur Ermittelung wichtiger Recherchen vie besten Dienste leistet; dieselbe Presst, in ver sie ihre Steckbriefe veröffentlichen muß. Der Journalist Schwerer wurde nämlich vom StaakSanwatt direkt ver dächtigt, BestechungSgelver von Hau genommen zu haben. Daß eine rer- arligeBezichligungauch den phlegmatischsten Menschen von der Welt in einen heiligen Zorn versetzen muß — und Journalisten sinv bekanntlich alles andere, nur nicht phlegmatisch — das ist begreiflich. Schwerer sah mit Recht durch den Angriff auf sich den ganzen Iournalistenstand beleidigt. Er rief entrüstet: „Ich sehe in ver Aeußerung des StaalSanwaltes eine Beleidigung der Presse. Ick bezeichne sie daher als nieder trächtige Infamie." Selbstverständlich sekundierte der Herr Vor sitzende dem Herrn Staatsanwalt. Einem gewöhnlichen Journalisten darf man wohl einmal gelegentlich eine derbe Grobheit sagen, nicht aber einem Herrn Staatsanwalt. Außerdem bekam der arge Preßmensch eine Ordnungsstrafe von 30 L Schweder be dauerte zwar die Schärfe ves Ausdrucks, blieb aber, wie er betonte, in der Sache auf seinem Standpunkt bestehen. Und am Schluffe zeigte sich auch der Staaisanwalt versöhnlich. Er beteuerte, daß er den hohen Wert der Presse anerkenne und Feuilleton. Liebe ist im Weibe ein natürlicher und gesunder, im ge bildeten Manne sehr oft ein naturwidriger, krankhafter Prozeß, Bogumil Goltz. * pariser Journalisten. Von Karl Eugen Schmidt (Paris). Die französischen Journalisten haben vor ihren deutschen, cug.sichen und amerikanischen Kollegen und überhaupt wohl, mit alleiniger Aus nahme der Spanier, die ganz unter französischem Einflüsse stehen, vor allen Zeitungsschreibern der Welt etwas voraus: sie unterzeichnen ihre Aufsätze und Artikel und sind deshalb im ganzen Lande bekannt. In allen andern Ländern ist die Zeitung eine anonyme Firma, und nur die Eingeweihten wissen, wer diesen oder jenen Artikel geschrieben hat. In Frankreich weiß jeder Zeitungsleser, wer ihm seine Gedanken vorkaut, und hier liest man nicht den oder jenen Leitartikler, weil er in dem Leib- biatte schreibt, sondern man hält dieses oder jenes Blatt, weil die Leit artikel darin von dem Schriftsteller, dessen Art uns am meisten zusagt, geschrieben sind. Ob das für die Zeitung an sich und für den Journalis mus im allgemeinen besser ist als das in Deutschland und England übliche System, weiß ich nicht, aber für den Zeitungslchreiber selbst ist es ohne jeden Zweifel besser. Der französische Journalist, der Talent, Witz nd Stil hat, macht die schnellste Karriere, und eine Redaktion sucht ihn der andern wegzuschnappen. Die Zeitungsgründer und -Besitzer halten Um- schau nach ihnen und gründen Wohl gar ein Eigenes Blatt, das nur von dem einen Manne gehalten wird. Dieses System ist die Ursache, daß in Frankreich jeder Zeitungsleser weiß, wer die verschiedenen Zeitungen macht. In Deutschland ist die „Kölnische Zeitung" einfach die „Kölniicke Zeitung" usw, in Paris ist der „Jntransigeant" Henri Rochefort, die „Libre Parole" Eduard Drumont usw. Es gibt nur zwei französische Zeitungen, die das Anonymat pflegen: der „Temps" und das „Journal des Tebats". Das letztere ist in den letzten zwanzig Jahren sehr zurück- gegangen, der erstere ist immer noch die zuverlässigste und anständigste französische Zeitung. Diese Tatsache zeigt, daß das Anonymat auch seine Vorteile hat, vielleicht nicht für den Journalisten, wohl aber für die Zeitung. Das Anonymat verhindert ihn zwar, seinen persönlichen Wik möglichst blendend erscheinen zu lassen, es bindert ihn aber auch, persönliche Zänkereien anzubringen, die dann leicht in wüstes Geschimpfe auSarten. Der „Temps" und das „Journal deS DebatS" stehen an einem Ende des französischen Journalismus, wo die Persönlichkeit des Artikel- schreibers verschwindet, der „Jntransigeant" und die „Libre Parole" dagegen sind Blätter, wie es auch die „Autorite" Cassagnacs war, die einzig und allein auf der starken Persönlichkeit des Leitartiklers ruhen. Zwischen diesen beiden Polen sinken wir dann die große Mehrzahl der Pariser Blätter, deren Artikel zwar auch unterzeichnet sind, bei denen aber die Persönlichkeit doch lange nicht die ausschlaggebende Rolle spielen. In dieser Plauderei will ich nur von denjenigen Pariser Journa listen reden, die als einziger Pfeiler das ganze Blatt tragen, worin sie schreiben. Diese Leute werden auch in Frankreich immer seltener, denn das französische Zeitungswesen wird doch mehr und mehr von dem deut schen und englischen Beispiele beeinflußt, dergestalt, daß auch der fran zösische Zeitungsleser heute lein Blatt nicht mehr lauft, um den Artikel irgend eines Journalisten zu lesen, sondern um zu erfahren, was in der Welt vorgeht. Seine Welt ist freilich bedeutend enger und kleiner als die des englischen oder deutschen Zeitungslesers, aber sie wächst doch allmählich über das Boulevard und auch über die Befestigungen von Paris hinaus, und unter besondern Umständen erstreckt sie sich bis in die entlegensten Erdteile. Freilich nur unter besonderen Umständen. Die meisten Pariser Blätter haben sich jetzt dem Verlangen des Publikums nach Nachrichten aus dem Auslande gefügt, einige wenige aber sind immer noch einzig das Organ eines einzigen Mannes uns werden gekauft und gelesen, allein um des täglichen Artikels willen, den dieser Mann darin veröffentlicht. Rochefort und Drumont sind jetzt die weitaus glänzendsten Vertreter des „Einmännerjournalismus". Aber sie sind nicht die einzigen. Auch Millevoye, der Leitartikler der „Patrie", muß hierher gerechnet werden, und dann könnte man noch alle die un ermüdlichen Arbeiter nennen, die tagtäglich ihren Artikel für ein be stimmtes Blatt schreiben: Harduin im „Matin", Desmoulins im „Gaulois", Henry Maret im „Journal", Jules Lermina im „Radical" und viele andere. Jaurös, der jetzt die „Humanite" trägt, gehört nicht hierher, weil er nicht täglich seinen Tribut liefert. Rochefort ist der älteste dieser Journalisten. Schon seit mehr als vierzig Jahren schreibt er tagtäglich seinen Leitartikel. Die Commune und ihre Folgen mit Deportation und Verbannung baben darin nur eine vorübergehende Pause gebracht. Rochefort hat Witz, sehr viel Witz, aber von Anfang an verstand er es, dielen Witz mit ebensoviel Straßenschmutz zu vermengen, und je älter er geworden ist, desto mehr Schmutz und desto weniger Witz ist es geworden. Seine herrlichste Zeit war das Kaiserreich. In seiner damaligen „Lanterne" hat er Sachen geschrieben, die zu den glänzendsten und besten des modernen Journalismus gehören, und die man heute nock nicht lesen kann, ohne von der Wucht der Sprache, dem Glanze des Stiles, der Schärfe des Ausdrucks hingerissen zu werden. Jetzt liefert er eigentlich nur noch Fabrikware. Er weiß, daß seine Leser tagtäglich eine Flut von Schimpfworten, Verdächtigungen, Anklagen von ihm er warten, und regelmäßig liefert er das Erwartete, ohne welchen seine Zeitung keine Käufer fände. Wie man sagt, schreibt er jetzt nur selten noch einen der von ihm unterzeichneten Artikel selbst. Einige seiner Leute Hahen sich dermaßen in die ihm eigentümlichen Sckimvswendungen eingearbeite», daß sie ihm seine Artikel schreiben, so gut er selbst es ver- möchte. Der Name tut das übrige. Drumont geht es lo ähnlich wie Rochefort, obgleich -r lange noch nicht so viele Jahre tätig ist. Auch von ihm erwarten die Leser täglich Schimpfen und Tadeln, und er bemüht sich, die Kundschaft zufrieden zu stellen. Aber er reibt sich dabei nicht so auf wie Rochefort, d. h. er ver öffentlicht nicht jeden Tag einen von seinem Namen gezeichneten Artikel. Der junge Daudet, der Sohn des einzigen Daudet, löst ihn mitunter ab im Schimpfen, und zwei oder drei andere Mitarbeiter der „Libre Parole" tragen dazu bei, daß in diesem Blatte jeden Morgen ein Juoe zum Frühstück verzehrt wird. Rochefort, der ein seiner Kunstkenner ist, würde viel lieber von Zeit zu Zeit über Kunstfragen schreiben, aber seine Leser würden ihn dann im Stiche lassen, und deshalh muß er sich dieses Vergnügen verkneifen. Drumont, der ein Faible für die Geschichte des alten Paris hat, schriebe am liebsten wenigstens einmal die Woche einen Aufsatz über irgend einen alten Pariser Winkel, aber feine Leser wollen Juden fressen. Wenn man einmal in einer solchen Tretmühle steckl, kann man nicht mehr heraus: Rochefort muß jeden Tag schimpfen nnd verleumden, und Drumont muß das nämliche tun. Beide sind übrigens sehr talentvolle Schriftsteller und Polemiker ersten Ranges. Die Tret mühle hat sie freilich verdorben, aber etwas ist immer noch an ihnen, besonders an Drumont, der das Handwerk noch nickt so lange treibt und deshalb noch nicht so abgemahlen und ausgeschrieben ist wie Roche fort. Auch Clemenceau muß hier genannt werden, obgleich er augenblick lich als Minister seine journalistische Tätigkeit hat einstellen müssen. Clemenceau ist eine andere Nummer. Er ist nicht nur neun Jahre jünger als Rochefort, sondern er ist auch erst wenige Jahre Journalist, also noch frisch und unverbraucht. Wenn man Rochefort be- und ver urteilt, darf man nicht vergessen, daß dieser Mann im Jahre 1832 ge boren, also 75 Jahre alt ist. In diesem Älter setzt man sich zur Ruhe, wenn man nicht tot ist. Rochefort aber fährt fort, vielleicht der Not und nicht dem eigenen Triebe gehorchend, täglich Artikel zu schreiben. Daß sie nicht so originell, so blitzend und schneidig sind wie vor vierzig Jahren, darf man dem alten Herrn wahrlich nicht übel nehmen. Auch wie sie sind, werden sie täglich von Tausenden mit Bewunderung gelesen, und das ist doch auch etwas, wenn auch die heutigen Bewunderer nicht den nämlichen Klassen und Richtungen angehören wie die Leute, die einst den Laternenmann bewunderten. Clemenceau — er heißt mit Vornamen George? und nickt Eugene, wie in Meyers Konversationslexikon steht, und schreibt sich nickt mit dem Akzent, den ihm alle deutschen Zeitungen freigebig schenken, — war durch die Panamaaffäre etwas anrüchig geworden. Der frühere Mi- nisterfäller mußte vvm politischen Schauplatz verschwinden und lange Zeit blieb er verschwunden. In dieser Mußezeit verfaßte er einiae Bücher, Skizzen und Novellen, die ihn als einen glänzenden Schrift steller offenbarten. Hätte ihn nicht die Politik gefangen genommen, so wäre Clemenceau ohne Zweifel einer der trefflichsten französischen Schriftsteller geworden. AlS Stilist sucht er seinesgleichen, als Denker steht er koch über der Mittelmäßigkeit, und selbst als Dichter würde er einen schönen Rang einnchmen. Da kam die Affäre Dreyfus und führte ihn zur Politik zurück, allerdings nicht als Redner, ändern als Jour»
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