Gropius stellt für das Bauhaus die besondere Aufgabe, eine moderne Ar chitektur zu verwirklichen, „die, gleich der menschlichen Natur, das ganze Le ben umfaßt" 1 . Das „ganze Leben" ist für ihn die gesellschaftliche Totalität, die große Gemeinschaft, in der sich das Individuum umfassend entfalten kann. Gropius schwebt ein demokra tisch orientiertes Gesellschaftsmodell vor, eine humane Ordnung, die einen abstrakten ethischen „Sozialismus" ver körpert. Das Wesentliche der neuen Bauten besteht nach Gropius in der Ordnung „der sich in ihnen abspielenden Le bensfunktionen" und dem „daraus re sultierenden baulichen Ausdruck" 2 . Die Gestaltung des Lebensprozesses der Gesellschaft ist das grundlegende Prinzip des Bauhaus-Funktionalismus. In diesem Sinne hat die Architektur ein „lebendiger Organismus" zu sein. „Wir wollen den klaren, organischen Bau leib schaffen, der seinen Sinn und Zweck aus sich selbst heraus durch die Spannung seiner Baumassen zueinan der funktionell verdeutlicht und alles Entbehrliche abstößt, das die absolute Gestalt des Baues verschleiert." 3 „Die Baugestalt ist nicht um ihrer selbst wil len da, sie entspringt allein aus dem Wesen des Baus, aus seiner Funktion, die er erfüllen soll." 4 Die „psychischen Bedürfnisse nach harmonischem Raum, nach Wohlklang und Maß der Glieder, die den Raum erst lebendig wahr nehmbar machen" 5 , erweitern die Auf gabe der Architektur über die bloße Zweckerfüllung hinaus. So wie das Bauwerk aus der leben digen Funktion und Zweckbestimmung heraus entworfen wird, bietet es selbst die Möglichkeit, diesem neuen gestal terischen Anspruch Ausdruck zu verlei hen. Skelettbauten aus Eisenbeton oder Stahl, weitgespannte Konstruktionen vermögen die schwere Erdgebunden heit der Baumassen ästhetisch aufzu heben. „Das Gefühl der Schwere, das die alte Bauform entscheidend be stimmte" 6 , hat keine Gültigkeit mehr. Ebenso sind für die baukörperliche Ge stalt die baukünstlerischen Gesetze der Antithesen Last — Stütze, Masse — Hohl raum, Horizontale — Vertikale aufge hoben. Symmetrie und Mittelachse wi dersprechen einer freizügigen Grund rißgestaltung. Die asymmetrische Ge staltung im Sinne der „rhythmischen Balance" wird zum ästhetischen Prinzip. In Skelettbauten sind Wände als tra gende Elemente nicht mehr nötig; nun mehr ihrer kraftübertragenden Funkti on entledigt, erscheinen sie als raum bildende Flächen, als Raumabschluß, und sind in dieser Eigenschaft varia bel den Funktionen im Raum leicht an paßbar. Lichtdurchflutete Räume ent stehen durch verglaste Außenwände. Die vorgehängte Glasfassade erscheint als neuartiges architektonisches Ele ment. Neuen Baustoffen, dem Glas, dem Stahl und dem Beton, wird ein Hohelied als Gestaltungsmittel der modernen Architektur angestimmt. Das Flachdach, eine Ausdrucksform der geometrisierenden Baukörpergestal- tung, ergibt sich aus neuen baulich konstruktiven Möglichkeiten. Die den Lebensfunktionen folgende umfassende und einheitliche Architek tur wird zu einem gestaltbaren Konti nuum, das im städtebaulichen Raum aufgeht. Aus der Wesensbestimmung der Ar chitektur, die notwendigerweise den produktiven und technischen Bedin gungen sowie dem allumfassenden so zialen Anspruch entspricht, leitet Gro pius eine neue Auffassung von der ar chitektonischen Form her, die aber kei ne im Sinne der formalistischen Stilbil-