Hugo Distier und die Entstehung einer Legende Wolfgang Herbst W ir beschäftigen uns mit Hugo Distier wegen seiner Musik, seiner Kompositionen, sei nes Lebenswerkes. Aber der Komponist war persönlich in unterschiedliche Netzwerke eingebunden, die nicht ohne Einfluss auf sein Schaffen geblieben sind. Der politische Kon text, in den er sich zwar eingefügt hat, der ihm aber auch zu schaffen gemacht hat, ist dabei zu bedenken. In diesem Zusammenhang wird von einer politischen Widerstandslegende zu reden sein, für die Distier nach 1945 benutzt worden ist und die fast vollständig auf einen hohen Kirchenbeamten der preußischen Landeskirche zurückzuführen ist. Die beginnenden Dreißigerjahre waren für die evangelische Kirche zunächst eine Zeit der Hoffnungen gewesen. Am Anfang stand die Erwartung, dass die NSDAP in ihrem politischen Programm auf dem „Standpunkt des positiven Christentums“ stehe und Hitler sein Wort halten werde, er sehe „in den beiden christlichen Konfessionen die wichtigsten Faktoren zur Erhaltung unseres Volkstums“ 1 . Das waren Töne, die in der evangelischen Kirche auf breite Zustimmung stießen. So ließ die neue Zeit Adolf Hitlers große Erwartungen aufkommen. War der Führer nicht sogar der Retter des christlichen Abendlandes und des Christentums überhaupt? Der kirchenfeindliche Marxismus schien jetzt keine Gefahr mehr zu sein, und die deutschnationale Grundstimmung im Protestantismus sah sich bestätigt und bekräftigt, denn Gefahren sahen die Protestanten seit langem nur von links kommen, niemals von rechts. Sol che naiven Hoffnungen und Erwartungen muss auch Hugo Distier gehabt haben, als er sich am 1. Mai 1933, dem letzten Tag vor der vierjährigen Aufnahmesperre 2 , in die Nazipartei ein- schreiben ließ und am selben Tag bei einem Lübecker Maiumzug hinter der Hakenkreuz fahne herlief 3 . Der Berliner Oberkonsistorialrat der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (APU), Oskar Söhngen, der sich als Theologe im Laufe der Zeit zum Chefideologen der evangeli schen Kirchenmusik entwickelt hatte, sah im Nationalsozialismus „neue, zukunftsschaffende Kräfte‘ r am Werk. Noch 1937 beharrte er darauf, die Wiedergeburt der Kirchenmusik und der Aufbruch der Nation unter Hitler seien eng miteinander verwandt 4 . Doch schon im Jahr 1933 gab es auch Misstöne, und die Freude über das neue Reich wur de getrübt. Es war die nationalsozialistische Glaubensbewegung der „Deutschen Christen“, die im Jahr 1933 versucht hatte, bei der Gestaltung und bei der Organisation der deutschen evangelischen Kirchenmusik die Oberhand zu gewinnen. Dabei ging es überhaupt nicht dar um, ob man positiv oder negativ zum Nazi-Staat und seiner Ideologie stand, sondern dämm, wie Kirchenmusik in Zukunft stilistisch auszusehen habe. Die „Deutschen Christen“ wandten sich offen gegen die Orgelbewegung und den musikalischen Aufbruch, der sich bereits weit hin durchgesetzt hatte. In Deutschland waren die alte Musik und ihr Instrumentarium wieder- 1 Hitlers Regierungserklärung vom 23. März 1933 vor dem Reichstag, in: Völkischer Beobachter, 23. März 1933. 2 Um Opportunisten fernzuhalten, nahm die NSDAP vom 2. Mai 1933 bis zum 1. Mai 1937 keine neuen Mitglieder auf. 3 Stefan Hanheide (Hrsg.), Hugo Distier im Dritten Reich, Osnabrück 1997, Abb. S. 58. 4 Oskar Söhngen, Die neue Kirchenmusik — Wandlungen und Entscheidungen, Berlin 1937, S. 23.